HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 935
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 151/20, Beschluss v. 26.05.2020, HRRS 2020 Nr. 935
1. Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 19. Dezember 2019 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zu den Anlasstaten und den Nachtatvorfällen - mit Ausnahme derjenigen zu dem Vorfall am 22. November 2019 - aufrechterhalten.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Die Beschuldigte leidet seit dem Jahr 1994 an einer paranoiden Schizophrenie. Bis zum Jahr 2007 - insbesondere im Zeitraum von 2000 bis 2007 - wurde sie aufgrund von Erregungszuständen, die sich jeweils unter dem Eindruck schubweise verstärkten paranoiden Erlebens ergaben, vielfach stationär in psychiatrischen Kliniken behandelt. Von 2007 bis 2017 stabilisierte sich ihr Zustand, da sie in diesem Zeitraum die ihr verschriebenen Medikamente zuverlässig einnahm. Im Sommer 2017 setzte die Beschuldigte die Depot-Medikation eigenmächtig ab. In der Folgezeit kam es zu einer Exazerbation der bestehenden Schizophrenie.
2. Zu den Anlasstaten hat die Strafkammer folgende Feststellungen getroffen:
a) Die Beschuldigte, die zuvor einen 16-jährigen Passanten angefaucht und in dessen Richtung drohende Bewegungen mit den Armen gemacht hatte und diesen verfolgte, schlug am 24. März 2018 dem Geschädigten F. im Vorbeilaufen in Verletzungsabsicht mit der Hand in die rechte Seite. Der Geschädigte erlitt jedoch keine erheblichen Schmerzen oder Verletzungen.
b) Im Folgenden trat die Beschuldigte auf die Fahrbahn und zwang den Geschädigten P. mit dessen Fahrzeug zum Halten. In dem Fahrzeug befanden sich neben dem Geschädigten dessen Lebensgefährtin und der 4-jährige Sohn. Die Beschuldigte stieg auf die Motorhaube des Pkw und schlug mit den Fäusten mehrfach auf Motorhaube und Windschutzscheibe des Fahrzeugs und zerkratzte den Lack. Zudem zeigte sie den Insassen den ausgestreckten Mittelfinger. Nach etwa zwei Minuten verließ die Beschuldigte die Motorhaube. Es entstand ein Sachschaden in Höhe von 1.500 Euro.
c) Sodann begab sich die Beschuldigte in den Hof des Geschädigten Z. Dieser verwies sie seines Hofes, woraufhin die Beschuldigte dem Geschädigten Z. unvermittelt mit der Faust auf die Nase schlug. Der Geschädigte erlitt starke Schmerzen und konnte weitere Schläge der Beschuldigten dadurch abwehren, dass er sie festhielt. Die hinzugekommenen Polizeibeamten legten der Beschuldigten alsdann Handfesseln an. Während der anschließenden Klärung des Sachverhalts trat die Beschuldigte mit beschuhten Füßen in Richtung der Beine des Polizeibeamten S., ohne diesen tatsächlich zu verletzten. Zudem bezeichnete sie den Beamten mehrfach als „Bullenschwein“, „Arschloch“ und „Drecksau“.
d) Als die herbeigerufene Rettungsassistentin H. die Beschuldigte untersuchen wollte, trat die Beschuldigte mit beschuhten Füßen in Richtung der Beine der Geschädigten, um diese zu verletzen und von der Vornahme weiterer Untersuchungshandlungen abzuhalten, wobei die Geschädigte den Tritten ausweichen konnte. Während der folgenden Fahrt im Rettungswagen beleidigte die Beschuldigte mehrfach eine Polizeibeamtin.
3. Aufgrund dieser Anlasstaten wurde die Beschuldigte vom 24. bis 28. März 2018 stationär im I. Klinikum M. behandelt. In der Folgezeit kam es immer wieder zu kurzzeitigen, zumeist nur einige Tage dauernden Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken. Hintergrund waren zum einen sieben Vorfälle zwischen April 2018 und November 2019, bei denen die Beschuldigte im öffentlichen Raum laut herumschrie, Passanten belästigte, den Straßenverkehr „regelte“ oder am 7. November 2018 - eine Spielzeugpistole in der Hand haltend - immer wieder spontan über die Straße lief. Infolge dieser Vorkommnisse, die allesamt keine Straftaten beinhalteten, wurde die Beschuldigte jeweils von der Polizei in eine psychiatrische Klinik verbracht. Zum anderen begab sich die Beschuldigte - unterstützt durch ihren Betreuer - aufgrund akuter psychotischer Symptomatik auch freiwillig in die psychiatrische Behandlung. Sie wurde nach den stationären Aufenthalten jeweils auf eigenen Wunsch entlassen; eine weitergehende Behandlung fand nicht statt. Die Beschuldigte ist, nachdem die Hauptverhandlung in dieser Sache gegen sie begonnen hatte, seit dem zweiten Hauptverhandlungstag am 12. Dezember 2019 vorläufig untergebracht.
4. Das Landgericht hat die am 24. März 2018 begangenen Anlasstaten rechtlich als versuchte Körperverletzung (2. a)), Sachbeschädigung (2. b)), Körperverletzung in Tatmehrheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung (2. c)) sowie tätlichem Angriff auf Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung (2. d)) gewertet.
Sachverständig beraten ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund der bestehenden paranoiden Schizophrenie mit Verfolgungs- und Wahnvorstellungen bei sämtlichen Taten am 24. März 2018 wie auch bei den weiteren Vorfällen aufgehoben und die Beschuldigte daher jeweils im Sinne des § 20 StGB schuldunfähig gewesen sei.
1. Die Unterbringungsentscheidung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Februar 2017 - 3 StR 535/16 Rn. 7; vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, BGHR StGB § 63 Anordnung 2 Rn. 3, 10 und vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16 Rn. 9). Sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16 Rn. 6; BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013 - 2 BvR 2957/12 Rn. 27; siehe auch BT-Drucks. 18/7244 S. 23).
b) Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht. Das Landgericht hat nicht rechtsfehlerfrei begründet, dass von der Beschuldigten in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und sie deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
aa) Das Landgericht hat im Anschluss an den Sachverständigen zur Begründung seiner Gefährlichkeitsprognose ausgeführt, die Beschuldigte werde mit hoher Wahrscheinlichkeit zukünftig ohne eine therapeutische und medikamentöse Behandlung Straftaten vergleichbar den Anlasstaten am 24. März 2018 begehen. Die dem Geschädigten Z. zugefügte Körperverletzung sei jedenfalls dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen. Von der Beschuldigten seien in der Zukunft gleichwertige, wenn nicht sogar gefährlichere Taten unter Verwendung von Gegenständen zu erwarten. Hinsichtlich der erwarteten Verwendung von Gegenständen stützt sich das Landgericht darauf, dass die Beschuldigte bei dem Vorfall am 7. November 2018 eine Spielzeugpistole in der Hand gehabt habe, sowie darauf, dass am 22. November 2019 die Polizei unter Hinweis darauf gerufen wurde, dass die Beschuldigte in ihrer Wohnung laut herumgeschrien und mit einem Aschenbecher nach einem Passanten geworfen habe.
bb) Diese Begründung hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
(1) Die Strafkammer hat nicht in den Blick genommen und erörtert, dass die Beschuldigte lediglich die festgestellten Anlasstaten am 24. März 2018, danach bis zu ihrer vorläufigen Unterbringung am 12. Dezember 2019 aber keine Straftaten mehr begangen hat. Die in der Zwischenzeit begangenen Vorfälle erschöpfen sich in einem Abreagieren des Erregungszustandes durch lautes und aggressives Schreien sowie Schimpfen durch die für die jeweils Anwesenden sichtbar verwirrte Beschuldigte. Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehenden Defekts über einen längeren Zeitraum hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, ist aber ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten (vgl. BGH, Urteile vom 5. Juni 2019 - 2 StR 42/19 Rn. 14 und vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 170/14 Rn. 20; Beschluss vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12 Rn. 11).
(2) Es kommt hinzu, dass die Strafkammer die Prognose, von der Beschuldigten seien in Zukunft Straftaten gegen Personen - möglicherweise - auch unter Verwendung von Gegenständen zu erwarten, nicht ausreichend belegt hat. So hat das Landgericht den dieser Prognose zugrundeliegenden Umstand, die Beschuldigte habe am 22. November 2019 tatsächlich mit einem Aschenbecher nach einem Passanten geworfen, nicht prozessordnungsgemäß aufgeklärt und festgestellt. Die Bezugnahme auf eine entsprechende Benachrichtigung der Polizei, deren Inhalt ein Polizeibeamter als Zeuge geschildert hat, reicht insoweit nicht aus. Der von dem Landgericht überdies herangezogene Umstand, dass die Beschuldigte am 7. November 2018 mit einer Spielzeugpistole in der Hand mehrfach eine Straße überquerte, vermag die Prognose, die Beschuldigte werde in der Zukunft Personen mit Gegenständen körperlich angreifen, nicht zu tragen.
2. Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB kann daher nicht bestehen bleiben. Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung, naheliegend unter Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen, der nicht mit der Behandlung der Beschuldigten befasst ist oder war.
Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den Anlasstaten und den Vorfällen nach den Taten vom 24. März 2018 können - mit Ausnahme derjenigen zu dem Vorfall am 22. November 2019 - bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Die der Gefährlichkeitsprognose zugrundeliegenden Feststellungen zu den Geschehnissen am 22. November 2019 (Werfen eines Aschenbechers nach einem Passanten vom Balkon), die auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung beruhen, sind aufzuheben.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 935
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 274; StV 2021, 246
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede