HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 846
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 197/23, Beschluss v. 07.05.2024, HRRS 2024 Nr. 846
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 8. November 2022 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freisprechung im Übrigen - wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen und wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg; auf die Verfahrensbeanstandungen kommt es nicht an.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts saß der Angeklagte im Zeitraum zwischen Sommer 2013 und Sommer 2017 in drei Fällen mit seiner am 3. September 2001 geborenen leiblichen Tochter, der Nebenklägerin, unbekleidet vor dem Fernseher. Dabei onanierte er vor ihren Augen. Wenigstens einmal kam er dabei zum Samenerguss. In allen Fällen war für den Angeklagten die Wahrnehmung des Vorgangs durch die Nebenklägerin von wesentlicher Bedeutung, weil ihn dies sexuell erregte. Die Kammer ist dabei davon ausgegangen, dass sich nur ein Vorfall vor dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin ereignete.
2. Darüber hinaus hat die Strafkammer Feststellungen zu weiteren, nicht von der zugelassenen Anklage umfassten Vorfällen getroffen. Danach begann der Angeklagte im Sommer 2013 damit, der Nebenklägerin nahezu täglich von seinen sexuellen Erfahrungen oder Fantasien zu erzählen. Dabei zeigte er ihr auch regelmäßig Sexspielzeug. In mindestens drei Fällen forderte der Angeklagte die Nebenklägerin hierbei dazu auf, vor ihm mittels eines Vibrators zu masturbieren, was diese auch tat; der - allenfalls mit einer Unterhose bekleidete ? Angeklagte sah ihr dabei zu. Vor dem 13. Geburtstag der Nebenklägerin kam es jedenfalls dreimal dazu, dass der Angeklagte in Situationen, in denen er und die Nebenklägerin unbekleidet vor dem Fernseher saßen, onanierte und dabei die Nebenklägerin im Intimbereich berührte. In einem der Fälle führte er jedenfalls einen Finger zwischen die inneren Schamlippen der Nebenklägerin und bewegte ihn, um sich selbst zu erregen; in einem anderen Fall nahm er ihre Hand und führte sie zu seinem erigierten Penis, wo er Masturbationsbewegungen vollführte. Nachdem die Nebenklägerin ihre Hand weggezogen hatte, befriedigte der Angeklagte sich weiter bis zum Samenerguss.
3. Von weiteren 41 angeklagten Masturbationshandlungen vor der Nebenklägerin ? die darauf beruhten, dass der Anklage eine geschätzte gleichförmige Tatfrequenz von einmal pro Monat zugrunde lag ? hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen.
4. Der Angeklagte hat sich schweigend verteidigt. Die nicht sachverständig beratene Strafkammer hat sich von seiner Täterschaft allein aufgrund der Zeugenaussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung überzeugt, die nach Würdigung der Kammer durchgehend glaubhaft und erlebnisbasiert war.
Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Die den Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung der Strafkammer hält - auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Januar 2024 - 4 StR 428/23 Rn. 13; Beschluss vom 16. Juni 2021 - 1 StR 109/21 Rn. 10; Beschluss vom 18. März 2021 - 4 StR 480/20 Rn. 2 mwN) - sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Beruht die Überzeugung von der Schuld eines bestreitenden oder schweigenden Angeklagten allein auf der Aussage eines Belastungszeugen („Aussage gegen Aussage“), bedarf es - was auch das Landgericht nicht verkannt hat - einer besonders sorgfältigen Würdigung (vgl. BGH, Beschluss vom 2. November 2022 - 6 StR 281/22 Rn. 6; Beschluss vom 28. April 2022 - 4 StR 299/21; Beschluss vom 12. August 2021 - 1 StR 162/21, NStZ-RR 2022, 26, 27 mwN; st. Rspr.). Das gilt besonders dann, wenn dieser einzige Belastungszeuge seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält, diese erheblich erweitert oder sich sogar die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2015 ? 1 StR 503/15 Rn. 3; Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159 mwN). In einem solchen Fall muss der Tatrichter - jedenfalls regelmäßig - außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe benennen, die es ihm ermöglichen, der Aussage des Zeugen dennoch zu glauben (vgl. BGH, Beschluss vom 12. August 2021 - 1 StR 162/21, NStZ-RR 2022, 26, 27; Urteil vom 13. Januar 2005 ? 4 StR 422/04, juris Rn. 20; Beschluss vom 19. Oktober 2000 ? 1 StR 439/00, NStZ 2001, 161, 162; Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159 mwN). Um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist dabei eine Darstellung in den Urteilsgründen zu wählen, die erkennen lässt, dass alle Umstände, die die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in die Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2023 - 4 StR 400/22 Rn. 7; Beschluss vom 2. November 2022 - 6 StR 281/22 Rn. 6; Urteil vom 13. Oktober 2020 - 1 StR 299/20, NStZ-RR 2021, 24). Dies setzt in der Regel voraus, dass die entscheidenden Angaben des Belastungszeugen in der Hauptverhandlung in einer geschlossenen Darstellung in den Urteilsgründen wiedergegeben werden. Vorangegangene Aussagen des Zeugen sind ebenfalls wiederzugeben, weil andernfalls nicht überprüfbar ist, ob eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 - 6 StR 37/24 Rn. 4; Beschluss vom 24. Oktober 2023 - 4 StR 162/23 Rn. 7; Beschluss vom 27. September 2023 - 4 StR 148/23 Rn. 7; Beschluss vom 25. April 2023 - 4 StR 400/22 Rn. 7; Beschluss vom 28. April 2022 - 4 StR 299/21 Rn. 8 mwN). Dabei ist einer nicht mit wertenden Elementen verknüpften Darstellungsweise der Vorzug zu geben (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2023 - 4 StR 400/22 Rn. 8; Beschluss vom 16. März 2022 - 4 StR 30/22 Rn. 6 f.; ferner BGH, Beschluss vom 27. September 2023 - 4 StR 148/23 Rn. 7).
2. Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung in den Urteilsgründen nicht gerecht.
a) Dem Urteil ist eine in sich geschlossene Wiedergabe der Angaben der Nebenklägerin, die diese im Zuge ihrer polizeilichen Vernehmung und im Rahmen der Hauptverhandlung getätigt hat, nicht zu entnehmen. Soweit einzelne Vernehmungsinhalte - auch unter teils eingehender Gegenüberstellung abweichender Angaben und Inkonstanzen - mitgeteilt werden, wird dieses Defizit dadurch nicht ausgeglichen. Denn diese Wiedergabe ist bereits mit wertenden Elementen durchsetzt, so dass es nicht möglich ist, die Würdigung der Strafkammer auf der Grundlage des noch unbewerteten Inhalts der Aussagen zu überprüfen.
b) Als rechtsfehlerhaft erweist sich auch der Umgang der Strafkammer mit dem Umstand, dass die Nebenklägerin angegeben hat, in der polizeilichen Vernehmung die Unwahrheit gesagt zu haben. So hat die Nebenklägerin in ihrer polizeilichen Vernehmung nur das der Anklage zugrundeliegende Onanieren des Angeklagten in ihrer Anwesenheit angegeben. In der Hauptverhandlung hat sie dann eine Einbettung dieses Geschehens in eine Serie von Masturbationshandlungen des Angeklagten geschildert, bei denen er sie auch im Intimbereich berührt und zur Manipulation an seinem Penis sowie zur Masturbation mittels eines Vibrators veranlasst haben soll. Zwar hat das Landgericht diese Abweichungen als deutlich gegen die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage in der Hauptverhandlung sprechend in den Blick genommen. Soweit es die den Angeklagten deutlich stärker belastende Aussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung dann aber gleichwohl - unter anderem - mit der Erwägung für glaubhaft erachtet hat, dass sie den Angeklagten im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung „eher wahrheitswidrig ‚geschont‘“ habe (UA 19), steht dies in einem Spannungsverhältnis zu der ebenso von der Kammer herausgestellten „erheblichen Abweichung“ (UA 16) bei der Schilderung der Frequenz der Masturbationshandlungen. Danach hat die Nebenklägerin in ihrer polizeilichen Vernehmung von ein- bis zweimal pro Monat gesprochen, in der Hauptverhandlung dann aber eine Frequenz von nur noch ein- bis zweimal pro Jahr benannt, ohne für diese - den Angeklagten entlastende - Abweichung eine Erklärung angeben zu können (UA 16).
3. Das Urteil beruht, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, auf den aufgezeigten Rechtsfehlern. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird angesichts des Umstands, dass die Nebenklägerin im Rahmen der Hauptverhandlung im Jahr 2022 Angaben gemacht hat, die erheblich vom Inhalt ihrer polizeilichen Vernehmung im Juli 2020 abweichen, die Genese beider Aussagen genauer zu prüfen haben (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2024 - 6 StR 456/23 Rn. 4 mwN). Hierbei sind mögliche suggestive Einflüsse durch die im Mai 2020 begonnene Psychotherapie der Nebenklägerin in den Blick zu nehmen. Dies gilt umso mehr, als die Nebenklägerin angegeben hat, sie habe sich durch die Gespräche mit ihrer Psychotherapeutin, der sie erst wenige Monate vor der Hauptverhandlung die sexuellen Übergriffe durch den Angeklagten anvertraut habe, „ge- und bestärkt gefühlt, vollumfänglich gegen den Angeklagten auszusagen“ (UA 15; vgl. BGH, Beschluss vom 27. September 2023 - 4 StR 148/23 Rn. 11 [lückenhafte Beweiswürdigung bei fehlender Auseinandersetzung mit suggestiven Einflüssen durch langjährige Psychotherapie]; vgl. ferner BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 455/14 Rn. 19 [Entstehungsmechanismen von Pseudoerinnerungen]; Volbert, Praxis der Rechtspsychologie 28, S. 61 ff.).
Die Strafkammer wird zudem mögliche innerfamiliäre Einflüsse auf das Aussageverhalten der Nebenklägerin zu erörtern haben. Den Feststellungen ist zu entnehmen, dass die Mutter der Nebenklägerin diese im April 2020 von der Erstattung einer Strafanzeige gegen den Angeklagten durch ihre fünf Jahre jüngere Schwester H. „unterrichtete“. Die Nebenklägerin habe daraufhin ihre Schwester angeschrieben, „die aber nicht über die von ihr erhobenen Vorwürfe sprechen wollte“.
In diesem Zusammenhang wird es gegebenenfalls auch angezeigt sein, die Gründe anzuführen und zu erörtern, die das Landgericht dazu veranlasst haben, das Verfahren hinsichtlich der H. betreffenden Taten gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen. Die ursprünglich im April 2020 von H. erhobenen Vorwürfe gegen den Angeklagten, die den gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellten Anklagevorwürfen Ziff. 45 und 46 der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bochum vom 17. November 2021 zugrunde lagen, betrafen zwei zurückgewiesene Aufforderungen des Angeklagten, sie möge vor ihm mit einem Vibrator masturbieren. Dies bedarf umso mehr der Erörterung, als nach der Würdigung der Kammer die Aussage ihrer Schwester H. Teil der Motivation der Nebenklägerin war, gegen den Angeklagten auszusagen (UA 18 f.).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 846
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede