HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 968
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 455/14, Urteil v. 20.05.2015, HRRS 2015 Nr. 968
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 15. Juli 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und elf Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der Angeklagte im Jahre 1996 die Zeugin I. H. kennen, die verheiratet war und aus deren Ehe die Kinder S., M. und J. H. hervorgegangen waren. Die Ehe war von übermäßigem Alkoholkonsum des Ehemanns belastet. Der Angeklagte hielt sich oft in der Ehewohnung auf und übernahm Hausmeistertätigkeiten. Anfang 1997 kam es zu einem Streit zwischen den Eheleuten, der zur Trennung führte. Am 6. Februar 1997 bezog die Zeugin I. H. mit den Kindern eine Wohnung im ersten Obergeschoss eines Wohnhauses, die sie gemeinsam mit dem Angeklagten bewohnte. Etwa zweieinhalb Jahre später mieteten der Angeklagte und I. H. eine Wohnung im zweiten Obergeschoss des Hauses hinzu und benutzten beide Wohnungen als Einheit. In der Zeit, in welcher der Angeklagte und I. H. dort wohnten, kam es zu sexuellen Übergriffen auf die Nebenklägerin J. H. Dabei manipulierte der Angeklagte an der Scheide der Nebenklägerin und ließ sich seinerseits von dieser mit der Hand befriedigen. Diese Taten wurden zwischen Februar 1997 und Oktober 2001 beim gemeinsamen Baden des Angeklagten mit der Nebenklägerin (Fälle III.1. und III.2. der Urteilsgründe) oder im Wohnzimmer (Fall III.3.), im Zeitraum von 1999 bis Oktober 2001 im Kinderzimmer und im Schlafzimmer (Fall III.4.) oder nur im Schlafzimmer der Erwachsenen (Fall III.5.) sowie im Zeitraum von Februar bis Mai 1997 in einem Lastkraftwagen begangen (Fälle III.6. und III.7.).
b) Zu den Hintergründen der Entstehung der Missbrauchsvorwürfe gegen den Angeklagten hat das Landgericht Folgendes festgestellt:
Im Verfahren um die Scheidung der Ehe von I. und K. H. wurde von der Zeugin I. H. der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs der Nebenklägerin und ihres Bruders M. durch den Angeklagten geäußert. Die Nebenklägerin hatte sich mit ihrer Missbrauchsbehauptung an ihre Mutter gewandt, diese Behauptung aber alsbald wieder zurückgenommen. Nach einer Offenbarung der Vorwürfe gegenüber der Großmutter informierte diese ihren Sohn, der am 6. August 1998 Strafanzeige erstattete. Das Jugendamt erfuhr von M. H., dass der Angeklagte bei ihm „das Gleiche machen würde“. I. H. vermutete eine Verschwörung ihrer Angehörigen gegen den Angeklagten. Die Kinder bemerkten, dass ihre Mutter unter der Trennung von diesem litt. Sie „entschlossen sich daher, ihre Angaben zurückzunehmen und zu behaupten, sie seien von der Großmutter angehalten worden, entsprechende Angaben zu machen“. Sie wurden zur Stabilisierung psychotherapeutisch behandelt. „Zum weiteren Inhalt der Behandlung konnten in der Hauptverhandlung keine Feststellungen getroffen werden“.
Ende 1999 gingen die Zeugin I. H. und der Angeklagte eine intime Beziehung ein, aus der am 7. Mai 2001 die Tochter B. H. hervorging. Als I. H. sich im Krankenhaus aufhielt, nahm der Angeklagte eine Beziehung mit der Zeugin P. auf. Nach Rückkehr aus dem Krankenhaus erfuhr I. H. davon und trennte sich vom Angeklagten.
In der Folgezeit kam es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen I. H. und dem Angeklagten um das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter B. Dabei äußerte die Zeugin I. H. den Verdacht, der Angeklagte habe ihre ehelichen Kinder sexuell missbraucht.
Aus der Beziehung des Angeklagten mit P. gingen vier Kinder hervor, darunter die Tochter Jo. Im Jahre 2011 kam es zu einem Strafverfahren wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil dieser Tochter durch den Angeklagten. Dort erklärte die Zeugin I. H., sie wisse nun, dass der Angeklagte mit ihrem Sohn M. Analverkehr gehabt und an der Nebenklägerin „herumgespielt“ habe. Die Nebenklägerin wurde als Zeugin vernommen und bestätigte den Missbrauchsvorwurf. Das Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der Tochter Jo. wurde eingestellt.
2. Der Angeklagte hat die Begehung der Taten bestritten. Das Landgericht hat seine Verurteilung auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt. Diese wurden durch Angaben ihres Bruders M. H. bestätigt. Dieser hat in der Hauptverhandlung zuerst die Frage nach sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf ihn selbst verneint, bei einer erneuten Vernehmung aber angegeben, es sei in zwei Fällen zur analen Penetration gekommen. Das Landgericht hat angenommen, die erste Aussage sei falsch gewesen; er habe sie aus Sorge gemacht, dass sich „nunmehr auch sein Bruder S., mit dem er als einzigem aus der Familie regelmäßig Kontakt pflege, von ihm abwenden würde“. Dieser Aussageänderung ist das Landgericht gefolgt.
Pseudoerinnerungen der Nebenklägerin an Missbrauchshandlungen hat das Landgericht ausgeschlossen, weil sie keine erhöhte Fantasieproduktivität gezeigt habe und keine psychische Störung vorliege. „Auch die psychotherapeutische Behandlung der Nebenklägerin sei nicht geeignet, Suggestionseffekte zu begründen. Die Behandlung im Jahr 1999 habe stabilisierenden Zielen gedient und nicht der Aufdeckung von Missbrauchsereignissen“.
Die Aussage des Zeugen S. H. sei nicht geeignet, den Angeklagten zu entlasten. Dieser Zeuge habe zwar berichtet, dass „sie, die Kinder, früher dazu gedrängt worden“ seien, „etwas `in dieser Richtung zu sagen´". Sexueller Missbrauch sei „eigentlich immer ein Thema in der `Familie´ gewesen“. Jedoch habe die Zeugin F. davon berichtet, dass S. H. ihr vor etwa zehn Jahren mitgeteilt habe, er habe den Angeklagten in der Badewanne sexuell befriedigen müssen.
Die Revision gegen dieses Urteil ist begründet. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft.
Ein Rechtsfehler der Beweiswürdigung kann vorliegen, wenn sie widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Die Beweiswürdigung muss zudem erschöpfend sein. Nach diesem Maßstab bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken gegen das angefochtene Urteil.
1. Die Überlegung, die Zeugenaussage der Nebenklägerin werde durch die Angaben ihres Bruders M. bestätigt, ist lückenhaft.
Das Landgericht hat den Vorwurf des Missbrauchs der Nebenklägerin durch die Feststellung eines Missbrauchs zum Nachteil von M. H. bestätigt und durch das Bestreiten eines Missbrauchs zum Nachteil von S. H. durch diesen Zeugen nicht als widerlegt angesehen. Werden aber Taten zum Nachteil anderer Personen als belastendes Indiz gewertet, kann an den Nachweis solcher Taten im Wesentlichen kein anderer Maßstab angelegt werden, als an den Beweis der Tat, die den eigentlichen Verfahrensgegenstand bildet.
Die Taten des Angeklagten zum Nachteil von M. H. hat das Landgericht aufgrund der zweiten Vernehmung dieses Zeugen in der Hauptverhandlung festgestellt, weil er dabei seinen Widerruf der früheren Aussage, mit der ein Missbrauch zu seinem Nachteil bestritten worden war, mit einem glaubhaften Aussagemotiv vorgebracht habe. Weder eine Inhaltsanalyse der Aussage noch eine umfassende Untersuchung der Aussageentstehung und -entwicklung hat die Strafkammer vorgenommen. Auch die Plausibilität der Angaben ist im Urteil nicht überprüft worden. So ist bereits eine Tatkonkretisierung dahin, wann, wo und unter welchen Umständen ein Analverkehr des Angeklagten mit dem Zeugen stattgefunden haben soll, nicht erfolgt.
2. Soweit das Landgericht die Möglichkeit von Scheinerinnerungen der Nebenklägerin an Missbrauchstaten des Angeklagten ausgeschlossen hat, ist seine Beweiswürdigung ebenfalls lückenhaft.
a) Das Landgericht ist der Sachverständigen in der Annahme gefolgt, die psychotherapeutische Behandlung der Nebenklägerin im Jahre 1999 sei nicht geeignet gewesen, Pseudoerinnerungen an einen sexuellen Missbrauch hervorzurufen. Dem widerspricht die Mitteilung im Urteil, dass zum Inhalt der Behandlung keine Feststellungen getroffen werden konnten.
b) Auch sonst ist der Ausschluss von Scheinerinnerungen der Nebenklägerin nicht lückenlos erfolgt.
Geht ein Psychotherapeut davon aus, dass den Beschwerden einer Patientin verdrängte Erinnerungen zugrunde liegen, kann die Therapie im Versuch der Rückgewinnung solcher Erinnerungen bestehen. Wenn dabei auch nach sexuellem Missbrauch geforscht wird, kann eine Scheinerinnerung daran entstehen (vgl. Köhnken in Müller/Schlothauer [Hrsg.], Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2. Aufl. § 61 Rn. 24; Mack, Kriminalistik 2014, 459, 461; Steller NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, S. 69, 70; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S. 105 ff.). Das Vorliegen von Pseudoerinnerungen kann im Einzelfall nicht durch einen Hinweis auf die Aussagequalität der Zeugenaussagen widerlegt werden. Scheinerinnerungen können nämlich auch Merkmale aufweisen, die Realkennzeichen eines Erlebnisberichts entsprechen (vgl. Steller in Volbert/Steller, Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S. 300, 306; Rolinski in Festschrift für Kühne, 2013, S. 297, 303). Eine sichere Verneinung von Pseudoerinnerungen setzt namentlich voraus, dass entweder suggestive Einflüsse ausgeschlossen werden oder weitere Beweise angeführt werden, mit denen die Richtigkeit der Zeugenaussage belegt werden kann.
Der Ausschluss einer Erinnerungsverfälschung war der Strafkammer nicht durch Rekonstruktion des Inhalts der Therapie möglich, weil sie keine näheren Feststellungen dazu treffen konnte. Eine Widerlegung der Suggestionshypothese mit Hilfe der Angaben des Zeugen M. H. ist ihrerseits nicht lückenlos erfolgt, zumal dieser ebenfalls psychotherapeutisch behandelt wurde und demselben Einfluss ausgesetzt gewesen sein kann wie die Nebenklägerin.
3. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist auch unvollständig, soweit das Landgericht seine Feststellungen zu Tatzeiten und zu dem Ablauf der Aufdeckungsmaßnahmen nicht in Beziehung zueinander gesetzt hat. Nach seinen Feststellungen hat der Angeklagte die abgeurteilten Taten teils vor, teils nach der Äußerung von Missbrauchsvorwürfen gegenüber den Angehörigen der Geschädigten begangen, möglicherweise auch während des Ermittlungsverfahrens. Die Bedeutung dieser Tatsache hat das Landgericht nicht gewürdigt.
4. Die genannten Umstände hätten gemeinsam mit den weiteren Tatsachen und Beweisen, die für und gegen die Tatbegehung des Angeklagten sprechen, in einer umfassenden Gesamtschau gewürdigt werden müssen. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass das Landgericht diesem Erfordernis nicht genügend Rechnung getragen hat.
Dies wird daraus deutlich, dass das Landgericht der geänderten Aussage des Zeugen M. H. zu eigenen Missbrauchserlebnissen gefolgt ist, während es das Bestreiten von Missbrauchshandlungen des Angeklagten durch den Zeugen S. H. als unzureichenden Entlastungsbeweis bezeichnet hat. Diese Aussagekonstellationen sind von der Strafkammer weder gemeinsam bewertet noch in einer Gesamtschau damit gewürdigt worden, dass schon in dem frühen Aufdeckungsgeschehen widersprüchliches Aussageverhalten verschiedener Auskunftspersonen zu verzeichnen war. Darin könnten Anzeichen für eine wechselseitige innerfamiliäre Beeinflussung der Zeugen zu sehen sein, die eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung gebieten (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2006 1 StR 579/05, NStZ-RR 2006, 242, 243).
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 968
Externe Fundstellen: NStZ 2016, 122 ; StV 2017, 9
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel