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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1017

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 30/22, Beschluss v. 16.03.2022, HRRS 2022 Nr. 1017


BGH 4 StR 30/22 - Beschluss vom 16. März 2022 (LG Detmold)

Urteilsgründe (Beweiswürdigung: Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, besondere Anforderungen an die Begründung und Darstellung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung, Angaben des Geschädigten, entscheidender Teil der Aussage, keine einzelnen Angaben, frühere Aussagen des Zeugen, Konstanzanalyse).

§ 267 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen gelten besondere Anforderungen an die Begründung und Darstellung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht seine Überzeugung allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. Um dem Revisionsgericht in einem solchen Fall die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist der entscheidende Teil der Aussage des einzigen Belastungszeugen in Form einer geschlossenen Darstellung in den Urteilsgründen wiederzugeben; grundsätzlich nicht ausreichend sind einzelne, aus dem Zusammenhang der Aussage gerissene Angaben. Die Darstellung hat auch vorangegangene, frühere Aussagen des Zeugen zu umfassen, denn anderenfalls kann das Revisionsgericht nicht überprüfen, ob das Tatgericht eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet hat.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Detmold vom 8. November 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht Detmold hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen saß der Angeklagte mit der Zeugin O. auf einer Parkbank. Nachdem er sie bereits gegen ihren Willen auf den Mund geküsst und ihr unterhalb der Bekleidung an die Brust gegriffen hatte, stellte er sich vor die Zeugin und forderte sie zum Oralverkehr auf. Diese wandte ihren Kopf angewidert ab und erklärte, dass sie das nicht wolle. Der Angeklagte ergriff mit beiden Händen den Kopf der Zeugin, drehte ihr Gesicht in die Richtung seines Unterleibs und drückte ihren Kopf gegen den Widerstand der Zeugin in Richtung seines Gliedes. Dabei hielt er den Kopf der Zeugin so fest, dass sie sich dem vor ihr stehenden und körperlich überlegenen Angeklagten nicht entziehen und sich nicht weiter zur Wehr setzen konnte. Obwohl der Angeklagte wusste, dass sie keinen Oralverkehr wollte, führte er sein Glied dreibis viermal in den Mund der bis zu diesem Zeitpunkt sexuell unerfahrenen Zeugin ein. Bevor er zum Samenerguss kam, ließ der Angeklagte von der Zeugin ab und wandte sich dem neben der Bank stehenden Mülleimer zu, was die Zeugin zur Flucht nutzte.

II.

1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung kann nicht bestehen bleiben, weil die zugrundeliegende Beweiswürdigung den an sie zu stellenden rechtlichen Anforderungen nicht genügt.

a) Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tatgeschehen im Wesentlichen auf die als vollumfänglich glaubhaft bewertete Aussage der Zeugin O. gestützt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Zeugin das Kerngeschehen über sämtliche Vernehmungssituationen hinweg konstant, übereinstimmend und widerspruchsfrei geschildert habe. Einzelne festgestellte Abweichungen und Widersprüche beträfen ausschließlich das Randgeschehen. Die Entstehung der Aussage spreche ebenfalls für deren Glaubhaftigkeit. Die Überzeugung der Strafkammer werde auch nicht dadurch erschüttert, dass die Zeugin vereinzelte Erinnerungslücken einräumen musste. So sei sie nicht mehr in der Lage gewesen, anzugeben, ob der Angeklagte eine Erektion hatte. Dies sei aber plausibel damit zu erklären, dass die Geschehnisse für die bis dahin sexuell weitgehend unerfahrene Zeugin mit auch in der Hauptverhandlung nahezu greifbarer Scham behaftet gewesen seien. So habe sie nachvollziehbar erklärt, sie habe auch gar nicht hinsehen wollen, was der Angeklagte am Mülleimer gemacht habe.

b) Diese Ausführungen halten trotz des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 1 StR 109/21 Rn. 10; Beschluss vom 18. März 2021 - 4 StR 480/20 Rn. 2 mwN) sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

aa) Im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen gelten besondere Anforderungen an die Begründung und Darstellung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht seine Überzeugung allein auf die Angaben der Geschädigten stützt (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 16. November 2021 - 1 StR 331/21 Rn. 9 mwN). Um dem Revisionsgericht in einem solchen Fall die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist der entscheidende Teil der Aussage des einzigen Belastungszeugen in Form einer geschlossenen Darstellung in den Urteilsgründen wiederzugeben (vgl. etwa BGH, Urteil vom 13. März 2014 - 4 StR 15/14, juris Rn. 11; Urteil vom 10. August 2011 - 1 StR 114/11, NStZ 2012, 110, 111); grundsätzlich nicht ausreichend sind einzelne, aus dem Zusammenhang der Aussage gerissene Angaben. Die Darstellung hat auch vorangegangene, frühere Aussagen des Zeugen zu umfassen, denn anderenfalls kann das Revisionsgericht nicht überprüfen, ob das Tatgericht eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 4. April 2017 - 2 StR 409/16, NStZ 2017, 551, 552; Beschluss vom 7. Juli 2014 ? 2 StR 94/14, NStZ-RR 2015, 120).

bb) Daran gemessen erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts als nicht tragfähig. Dem Urteil fehlt es bereits an einer in sich geschlossenen vollständigen und wertfreien Darstellung der Aussage der Zeugin O. in der Hauptverhandlung; die Strafkammer vermengt ihre Schilderung der Aussage mit wertenden Elementen. Ferner wird versäumt, die Aussage der Zeugin bei der Polizei im Ermittlungsverfahren wiederzugeben. Die vom Landgericht vorgenommene Inhaltsund Konstanzanalyse mit der Bewertung, Abweichungen und Widersprüche beträfen nur das Randgeschehen, kann aus diesen Gründen nicht überprüft werden. Dies gilt im Besonderen für die vom Landgericht benannte „Erinnerungslücke“ zu der Frage einer Erektion, die das Kerngeschehen des zeitlich beschränkten und überschaubaren Tatablaufs betrifft. Diese „Erinnerungslücke“ lässt sich jedenfalls auch nicht ohne weiteres auf ein Schamgefühl der Zeugin in der Hauptverhandlung zurückführen.

2. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1017

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede