HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 688
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 570/19, Beschluss v. 10.03.2020, HRRS 2020 Nr. 688
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 28. Mai 2019 mit den Feststellungen aufgehoben. Jedoch bleiben die objektiven Feststellungen zum Unfallgeschehen aufrechterhalten.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Außerdem hat es ihm die Fahrerlaubnis „für immer“ entzogen und seinen Führerschein eingezogen. Seine hiergegen eingelegte Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg.
Nach den Feststellungen leidet der bisher unvorbestrafte Angeklagte an einer bipolaren affektiven Störung. Im Jahr 2000 hatte er eine erste manische Phase mit Wahrnehmungsveränderungen, Wahnerleben und Größenvorstellungen. Im Jahr 2014 zeigten sich erneut vergleichbare Symptome. In der Folge kam es zu einer dreitägigen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Nachdem er ihm verordnete Medikamente zunächst zuverlässig eingenommen hatte, setzte er diese nach sechs Monaten eigenmächtig ab, ohne dass es zu neuen Krankheitssymptomen kam. Der Angeklagte hat eine große Leidenschaft für den Motorsport. In der Vergangenheit versuchte er sich mit seinem Pkw im Straßenverkehr mehrfach als Rennfahrer und übte sich in riskanten Fahrweisen.
Nachdem sich in der Vorwoche bereits Symptome einer beginnenden manischen Krankheitsepisode gezeigt hatten, fuhr er am 13. Mai 2017 mit seinem Pkw durch den Taunus. Dabei begann er Kurven zu schneiden und diese mit überhöhter Geschwindigkeit zu durchfahren. Dies löste in ihm ein Gefühl wachsender Stärke und der Unverletzlichkeit aus.
Um 09.40 Uhr überholte er in L. zwei Fahrzeuge gleichzeitig und scherte so spät auf seine Spur zurück, dass der ihm mit seinem Fahrzeug entgegenkommende Zeuge auf die Standspur ausweichen musste, um einen Zusammenstoß mit dem Angeklagten zu vermeiden. In D. fuhr der Angeklagte innerorts trotz der unübersichtlichen Verkehrssituation mit Geschwindigkeiten bis zu 120 km/h. Dabei überfuhr er mehrere Rotlicht zeigende Ampeln. Einen Abbiegevorgang nach rechts führte er mit so überhöhter Geschwindigkeit aus, dass das Heck seines Wagens ausbrach. In der Folge vollführte er ruckartige Ausscherbewegungen und überfuhr noch weitere rote Ampeln. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Angeklagte in einen „regelrechten Rausch gefahren“. Dabei war es zu einer „kaskadenartigen Potenzierung“ seiner Größenideen gekommen. Diese wurden krankheitsbedingt „derart entzügelt“, dass er sich teils mit Jesus und teils mit dem Teufel verglich. Zudem geriet er in einen psychotischen Zustand mit Depersonalitäts- und Entfremdungserleben.
In diesem Zustand näherte er sich mit einer Geschwindigkeit von mindestens 124 km/h einer Kreuzung, für die eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h galt. Die für ihn geltende Lichtzeichenanlage zeigte Rot. Sein Sichtkreis war verengt und sein Blick stur geradeaus gerichtet, er war ganz auf sein eigenes Autorennen konzentriert. Ob der Angeklagte das Rotlicht nicht wahrnahm oder ignorierte konnte nicht aufgeklärt werden. Er erkannte jedoch, dass ein Fahrzeug an der Haltelinie stand. Etwa vier Sekunden bevor der Angeklagte unter Missachtung des Rotlichts die für ihn geltende Haltelinie überfuhr, überquerte der Geschädigte auf der kreuzenden Straße bei Grünlicht die für ihn geltende Haltelinie. Als er die Mitte der Kreuzung erreichte überfuhr der Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von mindestens 124 km/h die für ihn geltende Haltelinie bei Rotlicht, nachdem er zuvor auf die linke Fahrspur auf seiner Fahrbahn gewechselt war, weil auf der rechten Fahrspur ein Fahrzeug an der Haltelinie stand. Obgleich er noch vor der Kollision eine abrupte Ausweichbewegung vollführte und eine Vollbremsung einleitete, konnte er einen Zusammenstoß seines Fahrzeugs mit dem Motorroller des Geschädigten S. nicht mehr verhindern. Der Geschädigte erlitt dabei tödliche Verletzungen und verstarb noch am Unfallort.
Die Revision des Angeklagten ist nicht wirksam auf die Anordnung der Sperrfrist beschränkt. Zwar hat der Angeklagte den Antrag gestellt, das Urteil mit den Feststellungen aufzuheben, in der Folge aber ausgeführt, dass sich seine Revision „im Wesentlichen“ bzw. „allein“ gegen die lebenslange Entziehung der Fahrerlaubnis richte. Auch seine in der Sache gemachten Ausführungen betreffen nur die Dauer der Sperrfrist. Unter den hier gegebenen Umständen kann es jedoch dahinstehen, ob sich aus diesen Erklärungen bei verständiger Würdigung (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2014 ? 4 StR 512/14 Rn. 6 mwN) eindeutig ein nur auf die Dauer der Sperrfrist gerichteter Anfechtungswille ergibt. Denn die zum Freispruch und im Rahmen der Unterbringungsentscheidung nach § 63 StGB zum psychischen Zustand des Angeklagten sowie zur Gefährlichkeitsprognose getroffenen Feststellungen und Wertungen stehen in einem untrennbaren Zusammenhang zu den Erwägungen, die den Entscheidungen nach § 69 Abs. 1, § 69a Abs. 1 StGB zugrunde liegen, sodass eine isolierte Anfechtung der Sperrfristanordnung oder nur der Fahrerlaubnisentziehung ausscheidet (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 1957 ? 4 StR 372/57, BGHSt 10, 379, 382 f. [zu § 69 StGB und Strafausspruch]).
Das gesamte Urteil unterliegt mit Ausnahme der Feststellungen zum konkreten Unfallgeschehen der Aufhebung, weil die Unterbringungsanordnung revisionsrechtlicher Überprüfung nicht standhält.
1. Die Unterbringung des Angeklagten nach § 63 StGB hat schon deshalb keinen Bestand, weil nicht eindeutig festgestellt ist, dass der Angeklagte die Anlasstaten im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat.
a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB setzt die positive Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekts voraus, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit zur Tatzeit im Sinne des § 21 StGB begründet (vgl. BGH Beschluss vom 18. Dezember 2019 - 4 StR 617/19 Rn. 8; Urteil vom 23. November 2016 ? 2 StR 108/16 Rn. 7; Urteil vom 17. Februar 1999 ? 2 StR 483/98, BGHSt 44, 369; Beschluss vom 4. November 2004 ? 4 StR 81/04; Beschluss vom 1. April 2014 ? 2 StR 602/13 Rn. 4; Urteil vom 6. März 1986 ? 4 StR 40/86, BGHSt 34, 22, 26 f.; Kaspar in: SSW-StGB, 4. Aufl., § 63 Rn. 17 mwN).
b) Die Urteilsgründe enthalten bereits keine eindeutige Feststellung, dass bei dem Angeklagten zur Tatzeit die Voraussetzungen des § 21 StGB vorgelegen haben. Zwar wird auf UA 20 angeführt, dass sich der Angeklagte „in einer manischen Episode mit psychotischen Symptomen als Krankheitsphase im Kontext seiner bipolaren affektiven Störung“ befunden habe, aufgrund der bei ihm die Steuerungsfähigkeit „nicht ausschließbar“ aufgehoben gewesen sei. Hieraus ergibt sich aber noch kein sicher festgestellter Zustand im Sinne des § 21 StGB. Auch der anschließenden Wendung, wonach der Angeklagte nicht in der Lage gewesen sei, seinen Impulsen, ein Straßenrennen zu fahren, etwas entgegenzusetzen, kann dies nicht entnommen werden. Soweit darin die positive Annahme einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit zum Ausdruck kommen könnte, steht dies in Widerspruch zu der vorausgegangenen Feststellung, wonach eine solche lediglich „nicht ausschließbar“ sei. Auch der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe vermag hier keine endgültige Klärung zu bringen. Das Referat der Einschätzung des angehörten Sachverständigen enthält nur eindeutige Aussagen zu einer nicht ausschließbaren Aufhebung der Steuerungsfähigkeit (UA 38, 42 und 43), nicht aber in Bezug auf eine positive Feststellung der Voraussetzungen des § 21 StGB. Soweit im Zuge der gerichtlichen Bewertung der Einschätzung des Sachverständigen auf UA 44 davon die Rede ist, dass der Angeklagte „unfähig“ gewesen sei, „nach seiner vorhandenen Unrechtseinsicht“ zu handeln, deutet dies zwar wieder auf eine sichere Annahme einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit hin. Im Anschluss hieran ist aber erneut von einer lediglich nicht ausschließbaren Aufhebung der Steuerungsfähigkeit die Rede (UA 44 unten).
2. Auch die Gefährlichkeitsprognose ist nicht ausreichend begründet.
a) Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB begehen wird. Dabei ist die erforderliche Prognose auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (vgl. BGH, Beschluss vom 13. August 2019 ? 4 StR 342/19 Rn. 3; Beschluss vom 31. August 2017 - 4 StR 221/17 Rn. 6; Beschluss vom 13. Juni 2017 - 2 StR 174/17 Rn. 11; Beschluss vom 25. April 2017 - 5 StR 78/17, NStZ-RR 2017, 239; jew. mwN). Dass der Täter trotz bestehenden Defekts lange Zeit keine Straftaten begangen hat, ist dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten (vgl. BGH, Urteil vom 23. November 2016 ? 2 StR 108/16 Rn. 12; Beschluss vom 14. Juli 2005 ? 4 StR 135/05, NStZ-RR 2005, 303 mwN).
b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Die Strafkammer ist - dem angehörten Sachverständigen folgend - davon ausgegangen, dass bei dem Angeklagten in akutmanischen Phasen vor dem Hintergrund seiner Rennbegeisterung mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder mit Fahrweisen zu rechnen sei, die derjenigen entsprechen, die zu dem verfahrensgegenständlichen Unfall geführt hat. Unter diesen Umständen hätte sich die Strafkammer aber auch damit auseinandersetzen müssen, dass bei dem Angeklagten die relevante Grunderkrankung (bipolare affektive Störung) bereits seit dem Jahr 2000 vorliegt und es vor der verfahrensgegenständlichen Tat nur in den Jahren 2000 und 2014 zu Ausbrüchen kam, wobei der Angeklagte ? trotz bestehender Rennbegeisterung ? jeweils straflos blieb. Der Hinweis der Strafkammer, dass sie bei ihrer Prognoseentscheidung berücksichtigt habe, dass der Angeklagte seit der verfahrensgegenständlichen Tat am 13. Mai 2017 keine weitere Tat mehr begangen habe (UA 47), greift zu kurz.
3. Schließlich fehlt es an einer nachvollziehbaren Zuordnung der vom Landgericht vorgenommenen rechtlichen Würdigung zu den der Gefahrenprognose zugrunde gelegten Anlasstaten.
a) Nach § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO sind die für erwiesen erachteten Tatsachen anzugeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Dabei muss erkennbar sein, durch welche bestimmten Tatsachen die gesetzlichen Merkmale die angeführten Tatbestände in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt sein sollen. Bleibt unklar, welchen Sachverhalt das Tatgericht seiner rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt hat, liegt ein sachlicher Mangel des Urteils vor (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 7. November 2019 ? 4 StR 390/19 Rn. 15; Beschluss vom 31. Januar 2017 ? 4 StR 597/16 Rn. 3; Beschluss vom 28. September 2010- 4 StR 307/10 Rn. 4).
b) Diese Voraussetzungen sind jedenfalls in Bezug auf § 315c Abs. 1 StGB nicht erfüllt.
Das Landgericht hat im Rahmen der rechtlichen Würdigung lediglich angeführt, dass der Angeklagte „durch sein Handeln den Tatbestand der fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2a, b, d und e StGB erfüllt“ habe. Dabei habe er verkehrswidrig und rücksichtslos gehandelt. In welchen der mitgeteilten Tatsachen sie die gesetzlichen Merkmale der angeführten Tatbestände gefunden hat, teilt die Strafkammer nicht mit. Da sich dies angesichts der Vielzahl der geschilderten Verkehrsvorgänge auch nicht von selbst versteht, hätte es hierzu näherer Ausführungen bedurft. Auch verhalten sich die Urteilsgründe weder in den Feststellungen, noch an anderer Stelle zu den subjektiven Tatbestandselementen einer vorsätzlich begangenen Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c StGB, obwohl diese Vorschrift verschiedene Varianten enthält. § 315c Abs. 1 StGB setzt voraus, dass sowohl der bezeichnete Verkehrsverstoß, als auch die konkrete Gefahr zumindest bedingt vorsätzlich begangen bzw. verursacht worden sind. § 315c Abs. 3 Nr. 1 StGB beschreibt insoweit eine Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination (vgl. Ernemann in: SSW-StGB, 4. Aufl., § 315c Rn. 27 mwN).
4. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Die in den Urteilsgründen ab UA 17 zweiter Absatz bis UA 20 erster Absatz (einschließlich) enthaltenen objektiven Feststellungen zum Unfallgeschehen beruhen auf einer mangelfreien Beweiswürdigung und können daher bestehen bleiben.
a) Der Umstand, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Aufhebung auch des freisprechenden Teils des Urteils nicht; denn nach § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ist es möglich, in einer neuen Hauptverhandlung an Stelle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Täter schuldig zu sprechen und eine Strafe zu verhängen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135, 136; Beschluss vom 29. Juli 2015 - 4 StR 293/15, NStZ-RR 2015, 315, 316).
b) Der neue Tatrichter wird auch konkrete Feststellungen zur Fahrerlaubnis des Angeklagten zu treffen haben. Hinsichtlich der Begründungsanforderungen für eine lebenslange Sperre weist der Senat auf die hierzu ergangene Rechtsprechung hin (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juli 1997 ? 4 StR 271/97, NStZ-RR 1997, 331, 332; weitere Nachweise bei Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 69a Rn. 9).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 688
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner