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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 280

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 474/19, Beschluss v. 12.01.2023, HRRS 2023 Nr. 280


BGH 3 StR 474/19 - Beschluss vom 12. Januar 2023

Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen; selbständige Einziehung (Zulässigkeit der Einziehungsanordnung im subjektiven Verfahren bei Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. 3 StPO); Divergenzvorlage vor noch ausstehender Antwort eines Strafsenats.

§ 132 Abs. 2 GVG; § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB; 260 Abs. 3 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Dass eine selbständige Einziehungsanordnung (§ 76a StGB) ausschließlich in einem selbständigen Einziehungsverfahren nach § 435 StPO, nicht aber in einem noch anhängigen subjektiven Verfahren gegen eine bestimmte Person zulässig ist, folgt nicht aus dem Wortlaut von § 76a StGB und § 435 StPO. Gesetzessystematik, -entstehung und -zweck ergeben dies ebenso wenig.

2. Die Zulässigkeit einer Divergenzvorlage ist nicht von der noch ausstehenden Antwort eines Strafsenats abhängig, wenn ein für das Anfrageverfahren erforderliches negatives Ergebnis aufgrund des Beschlusses eines anderen Strafsenats bereits feststeht.

Entscheidungstenor

Dem Großen Senat für Strafsachen wird gemäß § 132 Abs. 2 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

Kann das Gericht die Einziehung des durch eine verjährte Straftat erlangten Wertes des Tatertrags nach § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB im subjektiven Verfahren in demjenigen Urteil anordnen, mit dem es zugleich die Einstellung des Verfahrens hinsichtlich der verjährten Tat ausspricht (§ 260 Abs. 3 StPO); bedarf es mithin in einem solchen Fall keines Übergangs in das objektive Verfahren?

Gründe

I.

1. Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen bandenmäßiger Ausfuhr von Gütern aufgrund erschlichener Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz in zwei Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen, unter Einstellung zweier Vorwürfe wegen Verjährung und Freispruch im Übrigen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. Die Angeklagte B. hat es wegen Beihilfe zur bandenmäßigen Ausfuhr von Gütern aufgrund erschlichener Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz in drei Fällen, davon in einem Fall in sechs tateinheitlichen Fällen sowie in einem Fall in drei tateinheitlichen Fällen, unter Freispruch im Übrigen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten verurteilt. Die Vollstreckung beider Strafen hat es zur Bewährung ausgesetzt. Gegen die Einziehungsbeteiligte hat das Landgericht die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 3.730.044 € angeordnet. Weitere Angeklagte sind freigesprochen worden.

Die gegen das Urteil gerichteten Revisionen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hatten keinen Erfolg. Die Entscheidung über das Rechtsmittel der Einziehungsbeteiligten gegen die Einziehung des Wertes des aus Tat 1 der Urteilsgründe Erlangten in Höhe von 690.699 € hat der Senat vorbehalten und die weitergehende Revision der Einziehungsbeteiligten ebenfalls verworfen (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2021 - 3 StR 474/19, BGHSt 66, 83).

Nach den vom Landgericht zu Tat 1 der Urteilsgründe getroffenen, für das Vorlageverfahren relevanten Feststellungen und Wertungen führte die Einziehungsbeteiligte im Mai 2006 auf der Grundlage einer erschlichenen Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz Waffen nach Mexiko aus und erlöste dadurch einen Umsatz in Höhe von mindestens 690.699 € netto. Der Angeklagte deckte als Vertriebsleiter die Ausfuhren und schritt bewusst pflichtwidrig nicht ein. Das Landgericht hat das Verfahren gegen ihn wegen einer hierdurch begangenen Straftat nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 9 AWG aF wegen Eintritts der Strafverfolgungsverjährung in seinem verfahrensabschließenden Urteil eingestellt (§ 260 Abs. 3 StPO). Gegenüber der Einziehungsbeteiligten hat es in demselben Urteil die Einziehung der aus den Ausfuhren erzielten Umsatzerlöse angeordnet.

Dieser Entscheidung war kein förmlicher Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung eines selbständigen Einziehungsverfahrens (§ 435 Abs. 1 Satz 1 StPO) vorausgegangen. Weder in der Anklageschrift noch im weiteren Verfahren hat die Anklagebehörde zum Ausdruck gebracht, sie begehre eine Einziehungsentscheidung im objektiven Verfahren. Sie hat lediglich nach dem gerichtlichen Hinweis, die durch die Staatsanwaltschaft zunächst erstrebte Geldbuße gegen die Nebenbeteiligte nach § 30 OWiG komme nicht in Betracht, angeregt, die bislang als Nebenbeteiligte geführte Gesellschaft als Einziehungsbeteiligte zu beteiligen und einen entsprechenden rechtlichen Hinweis zu einer möglichen Einziehungsanordnung (alternativ zu einer Unternehmensgeldbuße) zu erteilen. Dabei hat sie darauf hingewiesen, die mögliche Verjährung einzelner Taten stehe gemäß § 76a Abs. 2 StGB einer Einziehung nicht entgegen. In ihrem Schlussvortrag hat die Anklagebehörde hinsichtlich Tat 1 der Urteilsgründe keinen Antrag auf Verurteilung einzelner Angeklagter gestellt, das hieraus durch die Einziehungsbeteiligte Erlangte von ihrem Antrag auf Einziehung des Wertes von Taterträgen jedoch nicht ausgenommen.

2. Der Senat beabsichtigt, die Revision der Einziehungsbeteiligten auch hinsichtlich der Tat 1 der Urteilsgründe zu verwerfen. Daran hat er sich durch Rechtsprechung des 1., 4. und 5. Strafsenats gehindert gesehen, nach der die selbständige Anordnung der Einziehung des Tatertrags oder dessen Wertes aus einer verjährten Straftat gemäß § 76a Abs. 1 Satz 1 StGB nur im selbständigen Einziehungsverfahren nach §§ 435 ff. StPO zulässig sei (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2020 - 1 StR 328/19, juris Rn. 22; Beschlüsse vom 22. Januar 2019 - 1 StR 489/18, juris Rn. 7; vom 8. September 2020 - 4 StR 75/20, NStZ 2021, 222 Rn. 13; vom 11. Dezember 2019 - 5 StR 486/19, NStZ 2020, 271 Rn. 19). Auf seine Anfrage gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 und 3 GVG (BGH, Beschluss vom 10. August 2021 - 3 StR 474/19, NStZ 2022, 252; dazu einerseits El-Ghazi, NStZ 2022, 255 f.; Lantermann, NStZ-RR 2022, 85 f.; andererseits Zivanic, JR 2022, 196, 197 ff.) hat der 1. Strafsenat mit näherer Begründung erklärt, dass er an seiner Rechtsprechung festhalte (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2022 - 1 ARs 13/21, NStZ-RR 2022, 255). Der 4. und 5. Strafsenat haben sich dagegen der sich aus dem Anfragebeschluss ergebenden Rechtsauffassung unter Aufgabe entgegenstehender Rechtsprechung angeschlossen (BGH, Beschlüsse vom 30. März 2022 - 4 ARs 15/21; vom 20. Januar 2022 - 5 ARs 28/21, wistra 2022, 165). Der 6. Strafsenat hat mitgeteilt, seine Rechtsprechung stehe der beabsichtigten Entscheidung nicht entgegen (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2022 - 6 ARs 14/21).

II.

Der Senat hält an seiner im Anfragebeschluss dargelegten Rechtsauffassung fest und nimmt auf die dort dargelegten Gründe Bezug. Die vom 1. Strafsenat (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2022 - 1 ARs 13/21, NStZ-RR 2022, 255) dagegen vorgebrachten Argumente geben im Ergebnis keinen Anlass für eine abweichende Bewertung. Hierfür ist Folgendes von Belang:

1. Der gesetzlichen Konzeption ist nicht zu entnehmen, dass der durch eine verjährte Straftat erlangte Wert von Taterträgen nach § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB nur dann eingezogen werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft in Ausübung ihres Ermessens einen Antrag auf Einziehung im selbständigen Verfahren gemäß § 435 StPO stellt.

§ 76a StGB eröffnet die Möglichkeit für eine selbständige Einziehung, falls wegen der Straftat keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden kann. § 435 StPO stellt dazu ein Verfahren bereit, in dem eine Einziehung selbständig außerhalb eines gegen einen individuellen Angeklagten geführten Verfahrens angeordnet werden kann. Dass eine selbständige Einziehungsanordnung (§ 76a StGB) ausschließlich in einem solchen selbständigen Einziehungsverfahren nach § 435 StPO, nicht aber in einem noch anhängigen - subjektiven - Verfahren gegen eine bestimmte Person zulässig ist, folgt nicht aus dem Wortlaut von § 76a StGB und § 435 StPO. Gesetzessystematik, -entstehung und -zweck ergeben dies ebenso wenig.

Bereits für die frühere Rechtslage war in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass eine selbständige Einziehung auch in einem gegen eine bestimmte Person gerichteten subjektiven Verfahren möglich sein kann und es dafür nicht stets eines objektiven selbständigen Einziehungsverfahrens bedarf (vgl. BGH, Urteile vom 31. März 1954 - 6 StR 5/54, BGHSt 6, 62; vom 15. November 1967 - 3 StR 26/66, BGHSt 21, 367, 370; vom 22. Juli 1969 - 1 StR 456/68, NJW 1969, 1818; vom 3. Oktober 1979 - 3 StR 273/79 [S], juris Rn. 8; Beschluss vom 14. Dezember 1988 - 3 StR 295/88, BGHSt 36, 51, 58 f.; RG, Urteile vom 11. Oktober 1901 - Rep. 2493/01, RGSt 34, 388, 389; vom 21. November 1932 - III 991/32, RGSt 66, 419, 422). Dass davon im Zuge der Neuregelungen durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl. I S. 872) abgerückt werden sollte, ist weder dem Gesetzestext noch den Gesetzesmaterialien zu entnehmen. Vielmehr knüpfen diese ausdrücklich an den früheren Regelungsgehalt des § 440 StPO aF an (s. BT-Drucks. 18/9525 S. 91).

Zudem geht die Begründung des Gesetzentwurfs zur späteren Änderung des § 435 StPO durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 1. Juli 2021 in Bezug auf das Ermittlungsverfahren ausdrücklich davon aus, dass die allgemeinen Strafverfahrensvorschriften anwendbar bleiben, so lange das subjektive Strafverfahren geführt wird (s. BT-Drucks. 19/27654 S. 109). Mithin liegt nahe, dass diese Erwägungen gleichfalls für das gerichtliche Verfahren gelten und in einem Urteil, das in einem subjektiven Verfahren ergeht, die selbständige Einziehung angeordnet werden kann, wenn der Verurteilung der angeklagten Person die Verfolgungsverjährung entgegensteht.

Hierfür spricht überdies, dass es etwa im subjektiven Verfahren ebenfalls möglich ist, neben dem Freispruch eines Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit eine Einziehungsentscheidung zu treffen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Mai 2019 - 5 StR 118/19, juris Rn. 1; vom 21. Februar 2017 - 3 StR 535/16, juris Rn. 1, 16; zur Einziehung bei einer Rauschtat BGH, Urteil vom 2. Juni 1982 - 2 StR 758/81, BGHSt 31, 80; s. auch LK/Lohse, StGB, 13. Aufl., § 76a Rn. 45; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 76a Rn. 11), ohne dass hierfür der Weg eines - bei Schuldunfähigkeit ebenfalls zur Verfügung stehenden - selbständigen Einziehungsverfahrens beschritten werden müsste.

Ferner betrifft der nach § 435 Abs. 1 StPO erforderliche Antrag der Staatsanwaltschaft die Frage, ob ein selbständiges Einziehungsverfahren eingeleitet werden soll. Er ist nach § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB nicht materiellrechtliche Voraussetzung für eine selbständige Einziehung.

Wäre eine solche ausschließlich in einem selbständigen Einziehungsverfahren zulässig, könnte dies im Ãœbrigen zur Folge haben, dass in Bezug auf dieselbe Tat beide Verfahren geführt werden müssten. Da sowohl für eine etwaige Verfolgungsverjährung als auch für die Voraussetzungen der Einziehung auf den konkreten Straftatbestand abzustellen ist (vgl. etwa BGH, Urteile vom 29. Juli 2021 - 1 StR 29/21, juris Rn. 13 mwN; vom 15. Juni 2022 - 3 StR 295/21, NJW 2022, 3092 Rn. 13 mwN), kommt in Betracht, dass lediglich das die Einziehung ermöglichende Delikt verjährt ist, damit zusammentreffende Straftatbestände aber weiter verfolgbar sind (vgl. zu einer solchen Konstellation BGH, Beschluss vom 3. Juni 1998 - 3 StR 237/98, NStZ-RR 1999, 10).

2. Dem Grundsatz des fairen Verfahrens kann bei der selbständigen Einziehung im subjektiven Verfahren ausreichend Rechnung getragen werden (vgl. El-Ghazi, NStZ 2022, 255 f.). Über die einem Einziehungsbeteiligten gemäß §§ 424 ff. StPO zustehenden Verfahrensrechte hinaus kommt namentlich in Betracht, ihn auf die Möglichkeit einer selbständigen Einziehung hinzuweisen und so Gelegenheit zu geben, seine Rechtsverteidigung im subjektiven Verfahren darauf einzustellen. Da einem Einziehungsbeteiligten gemäß § 427 Abs. 1 Satz 1 StPO grundsätzlich die gleichen Befugnisse wie einem Angeklagten zustehen, ist nicht ersichtlich, dass es aus Gründen der Verfahrensfairness eines objektiven Verfahrens bedarf.

3. Für die rechtliche Beurteilung, ob eine selbständige Einziehung im subjektiven Verfahren zulässig ist, ist nicht von entscheidender Bedeutung, inwieweit ein etwaiges Antragserfordernis nach § 435 Abs. 1 Satz 1 StPO bei einem Übergang ins objektive Verfahren praktikabel umsetzbar ist. Ist aus Rechtsgründen ein objektives Verfahren nicht erforderlich, kommt es auf das Maß des damit einhergehenden Aufwands nicht an.

4. Ob der Gesetzgeber ein Antragserfordernis als unentbehrlich angesehen hat, wenn vom subjektiven Verfahren in ein (teilweises) selbständiges Verfahren übergegangen wird, ist für die hier in Rede stehende Frage nicht maßgeblich. Diese betrifft gerade die Konstellation, dass eine selbständige Einziehung in einem subjektiven Verfahren, nicht in einem selbständigen Einziehungsverfahren angeordnet werden soll.

III.

Der Senat legt die streitige - gegenüber dem Anfragebeschluss modifiziert gefasste - Rechtsfrage wegen Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 GVG dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vor.

Die Rechtsfrage ist entscheidungserheblich, da es an einem Antrag der Staatsanwaltschaft im Sinne des § 435 Abs. 2 StPO fehlt und die in Rede stehende Einziehungsentscheidung nach der vom Senat nicht vertretenen Auffassung keinen Bestand haben könnte.

Die Zulässigkeit der Divergenzvorlage ist nicht von der noch ausstehenden Antwort des 2. Strafsenats auf den Anfragebeschluss des Senats vom 10. August 2021 abhängig. Gemäß § 132 Abs. 3 GVG ist das mit negativem Ergebnis durchgeführte Anfrageverfahren zwar Zulässigkeitsvoraussetzung für die Anrufung des Großen Senats wegen Divergenz. Ein solches negatives Ergebnis steht hier jedoch bereits fest, nachdem der 1. Strafsenat mit Beschluss vom 4. Mai 2022 (1 ARs 13/21) an seiner von der Anfrage abweichenden Rechtsprechung festgehalten hat. Die zu beseitigende Divergenz besteht daher unabhängig von der Antwort des 2. Strafsenats. Aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung sieht der Senat ausnahmsweise davon ab, eine Antwort weiter abzuwarten (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2016 - 3 StR 63/15, juris Rn. 58).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 280

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede