HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 860
Bearbeiter: Fabian Afshar
Zitiervorschlag: BGH, StB 28/24, Beschluss v. 29.05.2024, HRRS 2024 Nr. 860
1. Dem Verurteilten wird auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 19. März 2024 gewährt.
2. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den vorgenannten Beschluss wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten der Wiedereinsetzung und des Rechtsmittels zu tragen.
1. Das Oberlandesgericht hat den Beschwerdeführer am 30. Mai 2023 nach 28 Tagen Hauptverhandlung wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Den getroffenen Feststellungen zufolge war er mehrere Jahre lang in Deutschland Gebietsleiter der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK). Das Urteil ist seit dem 10. Januar 2024 rechtskräftig.
Nachdem der Verurteilte am 1. März 2024 zwei Drittel seiner Freiheitsstrafe verbüßt sowie am 14. März 2024 in eine Vollstreckungsaussetzung eingewilligt hatte und mündlich angehört worden war, hat es der Staatsschutzsenat mit Beschluss vom 19. März 2024 abgelehnt, die Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung auszusetzen. Die Entscheidung ist der Verteidigerin des Verurteilten, Rechtsanwältin B., aufgrund Vorsitzendenverfügung am 25. März 2024, einem Montag, zugestellt worden. Am Mittwoch, den 3. April 2024, hat ein weiterer Verteidiger, Rechtsanwalt Br., für den Verurteilten sofortige Beschwerde eingelegt.
Am 29. April 2024 hat der Verurteilte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung hat der Verteidiger ausgeführt und anwaltlich versichert, er habe die Beschwerde am Osterdienstag, den 2. April 2024, über sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) abschicken wollen und auf „senden“ geklickt. Die Nachricht sei allerdings im Postausgangsfach verblieben und tatsächlich erst am Folgetag an das Gericht gelangt, was er nicht weiter kontrolliert und wovon er erst am 29. April 2024 nach Urlaubsrückkehr erfahren habe. Der Verurteilte sei bis dahin ebenfalls von einer fristgerechten Einlegung der Beschwerde ausgegangen.
Die Generalstaatsanwaltschaft ist dem Wiedereinsetzungsbegehren mit Schriftsatz vom 10. Mai 2024 entgegengetreten.
2. Dem Verurteilten ist Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde zu gewähren. Der Antrag erfüllt die Zulässigkeitsvoraussetzungen der §§ 44, 45 StPO und ist auch begründet. Denn der Verteidiger hat nachvollziehbar technische Probleme und eigene Versäumnisse bei der Nutzung seines beA und damit Anwaltsverschulden vorgetragen, das dem Verurteilten nicht zuzurechnen ist (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschlüsse vom 28. November 2023 - 3 StR 80/23, juris Rn. 4; vom 17. Dezember 2020 - 3 StR 423/20, NStZ 2021, 245 Rn. 9). Entgegen der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft gelten im Rahmen einer sofortigen Beschwerde nach § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO in dieser Hinsicht die gleichen Maßstäbe wie bei Rechtsbehelfen gegen den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 7. Februar 2013 - 1 Ws 49/13, juris Rn. 8; Thüringer OLG, Beschluss vom 31. Juli 2020 - 1 Ws 227/20, juris Rn. 20). Soweit Beteiligte in Teilbereichen des Strafverfahrens für das Verschulden ihres anwaltlichen Vertreters einzustehen haben (vgl. hierzu etwa BGH, Beschluss vom 4. Juli 2023 - 5 StR 145/23, NJW 2023, 3304 Rn. 8 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 44 Rn. 18a f. mwN), stellt dies die Ausnahme dar und betrifft jedenfalls nicht Entscheidungen über das „Ob“ ihrer Haft.
Bei Wiedereinsetzungsanträgen der vorliegenden Art, in denen ein vorübergehender technischer Defekt oder eine Fehlbedienung die fristgerechte Einreichung eines Schriftsatzes per beA verhindert haben, richten sich die Darlegungsanforderungen wie auch sonst nach § 45 StPO (zutreffend BGH, Beschluss vom 6. Februar 2024 - 6 StR 609/23, NStZ-RR 2024, 154, 155; insoweit nicht eindeutig BGH, Beschluss vom 5. September 2023 - 3 StR 256/23, NStZ-RR 2023, 347). Danach muss der Antrag einen aus sich heraus verständlichen Lebenssachverhalt enthalten, der das fehlende Verschulden des Angeklagten an der Säumnis belegt und Alternativen ausschließt, die der Wiedereinsetzung sonst entgegenstehen. Dazu sind alle zwischen Beginn und Ende der versäumten Frist liegenden Umstände zu schildern und glaubhaft zu machen, die für die Frage bedeutsam sind, wie und gegebenenfalls durch wessen Verschulden es zu dem Versäumnis gekommen ist. Ebenfalls mitzuteilen hat der Antragsteller, wann das Hindernis, das der Fristwahrung entgegenstand, weggefallen ist, und zwar auch dann, wenn der Verteidiger eigenes Verschulden geltend macht (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschlüsse vom 23. April 1996 - 1 StR 99/96, NStZ-RR 1996, 338; vom 31. August 2017 - 4 StR 294/17, NStZ-RR 2017, 381, 382; vom 26. Juni 2018 - 3 StR 197/18, juris Rn. 3 mwN; vom 1. September 2020 - 2 StR 45/20, juris Rn. 7; vom 28. November 2023 - 3 StR 80/23, juris Rn. 4; BeckOK StPO/Cirener, 51. Ed., § 45 Rn. 6 mwN).
Diese Anforderungen sind in den vorgenannten Fällen in der Regel erfüllt, wenn der Vortrag ergibt, dass beim Verteidiger eine grundsätzlich einsatzbereite elektronische Infrastruktur existierte, im Zeitpunkt der versuchten fristwahrenden Übermittlung eine technische Störung gegeben war, diese - erkannt oder zunächst unerkannt - zur Fristversäumung führte und die Einreichung unmittelbar nach Behebung beziehungsweise Erkennen des Fehlers nachgeholt wurde. Verschulden des Verurteilten am Fristversäumnis liegt unter diesen Umständen fern, so dass es grundsätzlich keiner Darlegung bedarf, warum der Verteidiger nicht die Möglichkeit einer fristwahrenden Einreichung in Papierform nach § 32d Satz 3 StPO gewählt hat.
3. Das Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg, da es unbegründet ist. Der Senat teilt die Ansicht des Oberlandesgerichts, dass die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden kann (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB), und nimmt auf die auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens fortgeltenden Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug. Dem Verurteilten ist keine hinreichend günstige Legalprognose zu stellen (zu den rechtlichen Maßstäben s. BGH, Beschlüsse vom 10. April 2014 - StB 4/14, juris Rn. 3; vom 19. April 2018 - StB 3/18, NStZ-RR 2018, 228; jeweils mwN).
Zu diesem Ergebnis ist das Oberlandesgericht zutreffend aufgrund einer Gesamtschau der prognoserelevanten Faktoren gelangt. Neben der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt hat es unter anderem Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung und der Anhörung des Beschwerdeführers berücksichtigt, aus denen sich jeweils ergibt, dass er weiterhin von der Richtigkeit des bewaffneten Kampfes der PKK und seines Einsatzes für die Vereinigung überzeugt ist.
Das Oberlandesgericht hat bei seiner Entscheidung bedacht, dass der Verurteilte fortgeschrittenen Alters und krank ist, erstmals eine Haftstrafe verbüßt, ein weitgehend beanstandungsfreies Vollzugsverhalten zeigt sowie im Fall seiner Freilassung bei seiner Schwester Wohnsitz nehmen könnte. Dies alles wiegt im Rahmen der Prognose allerdings weniger schwer als der Umstand, dass der Beschwerdeführer die für den gewaltsamen Widerstand der PKK gegen die türkische Regierung nötige Geldbeschaffung, Propaganda und Logistik in Deutschland seit Jahren zu seinem wesentlichen Lebensinhalt gemacht hat. Vor diesem Hintergrund ist der Staatsschutzsenat zutreffend davon ausgegangen, der Verurteilte werde seinen Einsatz für die Vereinigung nach seiner Freilassung erneut jedenfalls in dem Maße aufnehmen, das die gesundheitlichen Einschränkungen ihm erlauben.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 860
Bearbeiter: Fabian Afshar