HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 518
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 609/23, Beschluss v. 06.02.2024, HRRS 2024 Nr. 518
Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag und seine Kosten Wiedereinsetzung in den Stand vor Ablauf der Frist zur Einlegung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Halle vom 11. September 2023 gewährt.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung sowie wegen sexuellen Übergriffs mit Gewalt in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen das am 11. September 2023 in seiner Anwesenheit verkündete Urteil hat er mit einem am 18. September 2023 dem Landgericht über den Nachtbriefkasten zugegangenen Verteidigerschriftsatz Revision eingelegt. Nachdem der Strafkammervorsitzende mit einem am 20. September 2023 durch die Geschäftsstelle ausgefertigten Schreiben den Verteidiger auf die nicht den Maßgaben des § 32d StPO entsprechende Form der Rechtsmitteleinlegung hingewiesen hatte, hat der Verteidiger mit einem am 22. September 2023 über das besondere elektronische Anwaltspostfach übermittelten Dokument beantragt, dem Angeklagten Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision zu gewähren und erneut Revision eingelegt. Zur Begründung hat er - anwaltlich versichert - ausgeführt, dass er vom Angeklagten am 15. September 2023 mit der Revisionseinlegung beauftragt worden sei. „Zu diesem Zeitpunkt bis einschließlich 20. September 2023“ habe ihm der „Arbeitscomputer, über den das elektronische Anwaltspostfach geführt wird, aufgrund eines technischen Fehlers nicht zur Verfügung gestanden“. Um gleichwohl die Revisionseinlegungsfrist einzuhalten, habe er den Schriftsatz nach § 32d Satz 3 StPO in Papierform in den Nachtbriefkasten eingeworfen.
1. Dem Angeklagten ist auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 StPO).
a) Der Antrag ist zulässig.
aa) Der Angeklagte hat die Wochenfrist (§ 341 Abs. 1 StPO) zur Einlegung des Rechtsmittels versäumt. Nach der seit dem 1. Januar 2022 geltenden Vorschrift des § 32d Satz 2 StPO müssen Verteidiger und Rechtsanwälte die Revision und ihre Begründung als elektronisches Dokument übermitteln. Insoweit handelt es sich um eine Form- und Wirksamkeitsvoraussetzung der jeweiligen Prozesshandlung, welche bei Nichteinhaltung deren Unwirksamkeit zur Folge hat (vgl. BT-Drucks. 18/9416, 51; BGH, Beschlüsse vom 20. April 2022 - 3 StR 86/22, wistra 2022, 388; vom 28. April 2022 - 4 StR 59/22, NStZ 2023, 436; vom 9. August 2022 - 6 StR 268/22, NJW 2022, 3588; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 66. Aufl., § 32d Rn. 2 mwN). Diesen Anforderungen entspricht die dem Landgericht über den Nachtbriefkasten zugegangene Revisionseinlegung durch seinen Verteidiger nicht. Diese war auch nicht ausnahmsweise nach § 32d Satz 3 StPO zulässig. Der Verteidiger hat weder mit der Ersatzeinreichung noch in vertretbarer Zeit danach glaubhaft gemacht, dass eine Übermittlung als elektronisches Dokument aus technischen Gründen lediglich vorübergehender Natur war (§ 32d Satz 4 StPO).
bb) Die gesetzlichen Form- und Fristerfordernisse gemäß § 45 StPO sind erfüllt. Insbesondere hat der Antragssteller einen Sachverhalt glaubhaft gemacht, der ein fehlendes Verschulden des Angeklagten an der Fristversäumnis belegt und Alternativen ausschließt (vgl. BeckOK-StPO/Cirener, 50. Ed., § 45 Rn. 6 mwN). Weitergehende Darlegungsanforderungen bestehen nicht.
(1) Der Senat vermag der Rechtsansicht des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nicht zu folgen, wonach die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrags in Fällen, in denen die vorübergehende technische Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument geltend gemacht wird, einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände bedarf (vgl. BGH, Beschluss vom 5. September 2023 - 3 StR 256/23, NStZ-RR 2023, 347). Gestützt wird dieses Erfordernis auf die für eine zulässige Ersatzeinreichung von Schriftsätzen gemäß § 130d Satz 3 ZPO entwickelten Anforderungen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. September 2022 - XII ZB 264/22, NJW 2022, 3647; vom 1. März 2023 - XII ZB 228/22, NJW-RR 2023, 760, 762). Mit den an die Darlegung des technischen Defekts gestellten Anforderungen soll eine missbräuchliche Übersendung von Schriftsätzen im Zivilprozess nach den allgemeinen Vorschriften verhindert werden (vgl. BT-Drucks. 17/12634 S. 27 zu § 130d ZPO). Während das Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO demjenigen der Partei gleichsteht und daher die Wiedereinsetzung gemäß § 233 Satz 1 ZPO versagt werden kann, wenn die elektronische Übermittlung etwa wegen eines technischen Fehlers fehlschlägt und der Anwalt nicht die Möglichkeit ergreift, das Dokument nach den allgemeinen Vorschriften fristwahrend zu übermitteln (vgl. BGH, Beschluss vom 1. März 2023 - XII ZB 228/22, NJW-RR 2023, 760, 762), erscheint die Übertragung der insoweit entwickelten Grundsätze auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß §§ 44, 45 StPO nicht sachgerecht, weil das Verschulden des Verteidigers bei der formwidrigen Übermittlung von Schriftsätzen dem Angeklagten nicht als eigenes zuzurechnen ist (vgl. BVerfG, NJW 1994, 1856; BGH, Beschluss vom 4. Juli 2023 - 5 StR 145/23, NJW 2023, 3304).
(2) Es kann letztlich dahinstehen, ob das vom 3. Strafsenat postulierte Darlegungserfordernis anzunehmen ist. Denn hier würde das Vorbringen des Antragstellers diesen Anforderungen gerecht, weil es mit Blick auf den glaubhaft gemachten Hardware-Defekt am Kanzleirechner, über den das besondere elektronische Anwaltspostfach geführt wurde (§ 31a BRAO), und die Dauer der Störung eine verständliche und geschlossene Schilderung enthielte.
b) Das Wiedereinsetzungsgesuch ist auch begründet.
Den Angeklagten trifft kein Verschulden an der Fristversäumnis (§ 44 Abs. 1 Satz 1 StPO). Sie ist nach der Antragsbegründung allein auf das Verschulden seines Verteidigers zurückzuführen. Die versäumte Handlung hat der Angeklagte frist- und formwirksam nachgeholt (§ 45 Abs. 2 Satz 2 StPO).
2. Da das Landgericht bereits ein vollständiges (und nicht nach § 267 Abs. 4 StPO nur abgekürztes) Urteil abgefasst hat, das zudem wirksam zugestellt worden ist, bedarf es keiner Rückgabe der Akten an das Landgericht zur Ergänzung der Urteilsgründe oder zur Zustellung des Urteils (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. September 2022 - 5 StR 328/22; vom 6. Juni 2023 - 5 StR 164/23). Mit der Zustellung dieses Beschlusses beginnt die Frist zur Begründung der Revision (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 2019 - 5 StR 18/19).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 518
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede