HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 499
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, StB 3/18, Beschluss v. 19.04.2018, HRRS 2018 Nr. 499
Die sofortige Beschwerde des Generalbundesanwalts gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 23. Februar 2018 wird verworfen.
Der Verurteilte ist unverzüglich aus der Strafhaft zu entlassen.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten zu tragen.
Der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt hat den Verurteilten am 23. Januar 2014 wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Anstiftung zum schweren Raub und mit Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt; die Entscheidung ist seit dem 10. Dezember 2014 rechtskräftig. Mit Beschluss vom 23. Februar 2018 hat das Oberlandesgericht die Vollstreckung des Strafrestes nach der Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe, die am 27. Dezember 2017 vollstreckt waren, auf Antrag des Verurteilten zur Bewährung ausgesetzt, ihn der Aufsicht und Leitung durch einen Bewährungshelfer unterstellt und ihm Weisungen erteilt; die Dauer der Bewährungszeit hat es auf fünf Jahre bestimmt. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Generalbundesanwalts bleibt ohne Erfolg.
1. Der Senat teilt die Ansicht des Oberlandesgerichts, dass die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB).
a) Nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ist die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen dieses Absatzes dann zur Bewährung auszusetzen, wenn dem Verurteilten eine günstige Prognose für eine Legalbewährung in Freiheit gestellt werden kann. Dabei sind an die Erwartung künftiger Straffreiheit umso strengere Anforderungen zu stellen, je gewichtiger das im Falle eines Rückfalls bedrohte Rechtsgut ist (BGH, Beschlüsse vom 25. April 2003 - StB 4/03, BGHR StGB § 57 Abs. 1 Erprobung 2; vom 4. Oktober 2011 - StB 14/11, NStZ-RR 2012, 8). Die vorzunehmende Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des bereits erlittenen Strafvollzugs und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit kann auch bei Kapitaldelikten, schweren Sexualstraftaten oder terroristischen Verbrechen zu dem Ergebnis führen, dass die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug verantwortbar ist; die Voraussetzungen an eine positive Legalprognose dürfen auch in diesem Bereich nicht so hochgeschraubt werden, dass dem Verurteilten letztlich kaum eine Chance auf vorzeitige Haftentlassung bleibt (BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2011 - StB 14/11, NStZ-RR 2012, 8). Insbesondere wenn sich ein terroristischer Straftäter im Vollzug ordnungsgemäß führt und von seiner früheren Gewaltbereitschaft glaubhaft lossagt, kann auch hier eine Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung in Betracht kommen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 1990 - StB 39/89, BGHR StGB § 57 Abs. 1 Erprobung 1).
b) Nach diesen Maßstäben ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden. Das Oberlandesgericht hat - sachverständig beraten (§ 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO) - die nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB für die Entscheidung zu berücksichtigenden Umstände einer Gesamtwürdigung unterzogen und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass eine hinreichend günstige Prognose für eine bedingte Entlassung des Verurteilten gestellt werden kann, der sich von den seinen Taten zugrunde liegenden radikalen Einstellungen distanziert hat. Dem schließt sich der Senat an.
aa) Zwar ist der Beschwerde zuzugeben, dass einige Umstände - die auch das Oberlandesgericht Frankfurt erkannt hat - durchaus gegen die Annahme einer günstigen Legalprognose sprechen könnten. So beging der Verurteilte die verfahrensgegenständlichen Straftaten unter laufender Bewährung und weist nach dem eingeholten Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. S. Persönlichkeitszüge auf, die seine Einordnung in ein soziales Gefüge erschweren können. Eine begonnene Umschulungsmaßnahme konnte er wegen Fehlzeiten, die allerdings durch seine Erkrankung an Morbus Crohn bedingt waren, nicht abschließen. Auch verlief der Strafvollzug nicht frei von Verstößen gegen Weisungen der Justizvollzugsbediensteten und disziplinarischen Beanstandungen; die gegen ihn verhängte Disziplinarmaßnahme wegen Verletzung der Arbeitspflicht hat der Verurteilte indes akzeptiert, sich für sein Fehlverhalten entschuldigt und schließlich zunehmend angepasste Verhaltensweisen gezeigt.
bb) Demgegenüber fällt jedoch entscheidend ins Gewicht, dass sich der Verurteilte glaubhaft von seiner früheren radikalen Einstellung, die für die hier gegenständlichen Straftaten ursächlich war, gelöst und während des Strafvollzuges seit der über vier Jahre zurückliegenden Hauptverhandlung einen positiven Reifungsprozess durchlaufen hat, in dessen Folge er sich intensiv mit seinen Taten auseinandergesetzt und sich von diesen distanziert hat.
Seine Verurteilung hat er als „richtig“ erkannt, die verhängte Strafe akzeptiert und eine insgesamt günstige Entwicklung genommen. Bereits im Jahre 2013 hat sich der Verurteilte schriftlich mit der Bitte um Unterstützung an das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen gewandt und nach seiner Aufnahme in das Aussteigerprogramm Islamismus (API) im Jahre 2015 mehr als einhundert Stunden intensive Gespräche mit dessen Mitarbeitern bei regelmäßigen, alle drei bis vier Wochen stattfindenden Besuchen geführt. Zudem hat er sich mit Literatur zum Islam befasst und schließlich erkannt, dass er in der Vergangenheit „den falschen Leuten vertraut“ habe und „Rattenfängern“ gefolgt sei; heute ist er der Ansicht, dass er durch Propagandavideos, Hasspredigten und die Einbindung in die islamistische Szene hin zu einem „Schwarz-Weiß-Denken“ manipuliert worden sei. Die terroristische Vereinigung „Islamischer Staat“ sieht er als „Räuberbande“ an, die nicht zum Islam gehöre und die Religion missbrauche.
Ausweislich der Stellungnahme des API vom 13. November 2017 sei die Deradikalisierung des Verurteilten „besonders weit fortgeschritten“, zudem sei er „in herausragender Weise“ dazu in der Lage, extremistische Argumentationsmuster zu benennen und zu entkräften. Den Kontakt zu Personen, die ihn während des Strafvollzuges dahin beeinflussen wollten, seine früheren Einstellungen beizubehalten, hat der Verurteilte abgebrochen. Mit seinem Bruder, der weiterhin der salafistischen Szene angehöre, habe er über seine Erlebnisse bei Al Qaida und Al Shahab gesprochen; er wünsche sich, dass auch dieser in das Aussteigerprogramm aufgenommen werde. Seine im Februar 2016 begonnene externe Einzelpsychotherapie hat der Verurteilte nach 21 Sitzungen mit positivem Ergebnis abgeschlossen.
Für eine günstige Legalprognose spricht schließlich das soziale Umfeld des Verurteilten. Er hat nach wie vor eine sehr enge Beziehung zu seiner Familie, die nach Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. S. wesentlich zu seiner Stabilisierung beitragen wird. Nach der Entlassung wird er bei seiner Ehefrau und seinen Kindern in H. wohnen; die Familie plant einen Umzug nach D., sodass der Verurteilte nicht mehr in sein früheres Umfeld in W. zurückkehren wird. Seine Ehefrau war ihm zwar nach Waziristan gefolgt, hat jedoch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland von radikalen Einstellungen Abstand genommen und wirkt inzwischen deutlich gereift. Sie absolviert eine Ausbildung zur Kindergärtnerin, arbeitet mit dem API zusammen und will ihre Kinder im westlichen Wertekontext erziehen. Ein erneutes Abgleiten in Kriminalität oder Extremismus würde sie dem Verurteilten nicht verzeihen. Zudem kann der Verurteilte bei seinen Zukunftsplänen - er will eine Fahrerlaubnis erwerben und sodann eine Arbeit in dem Imbissbetrieb seines Schwagers aufnehmen - auf die Unterstützung seiner weiteren Familienangehörigen zählen.
Zusammenfassend geht auch der Sachverständige Prof. Dr. S. in seinem Prognosegutachten - etwas zurückhaltender als die ausgesprochen positive Stellungnahme des API - davon aus, dass die in den Taten zutage getretene spezifische Gefährlichkeit des Verurteilten nicht mehr fortbesteht, „hinsichtlich der speziellen Bereitschaft zu ähnlichen Straftaten (…) konkrete Anhaltspunkte für derartige Gefährdungen heute nicht mehr zu erkennen sind“ und „mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit“ davon auszugehen sei, dass der Verurteilte zu einer Einsicht und auch zu einer Umkehr gelangt ist. Geeignete Auflagen und Weisungen könnten aus psychiatrischer Sicht zum Schutz vor Gefährdungen und Fehlentwicklungen beitragen.
Die kaum jemals zu erlangende Gewissheit, dass der Verurteilte dauerhaft keine Straftaten mehr begehen wird, ist im Übrigen selbst bei lebenslanger Freiheitsstrafe keine Voraussetzung für die Reststrafenaussetzung (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97, NStZ 1998, 373, 374; KG, Beschluss vom 12. Oktober 2006 - 1 AR 1018/06 - 5 Ws 482/06, juris Rn. 15); ein vertretbares Restrisiko ist daher auch im vorliegenden Fall hinzunehmen.
c) Das weitere Beschwerdevorbringen - insbesondere auch, soweit es auf Umstände gründet, die erst nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts mitgeteilt worden sind - zeigt hinreichende Gründe, die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung abzulehnen und die angetragene Sperrfrist von sechs Monaten festzusetzten, nicht auf. Die Ermittlungsergebnisse in dem auf die Bezichtigungen durch ehemalige Mitgefangene eingeleiteten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Kleve/Zweigstelle Moers gegen den Verurteilten (508 Js 579/17) sind bisher so vage, dass darauf eine abweichende Beurteilung der Sozialprognose nicht gestützt werden kann.
2. Es verbleibt auch bei den Begleitentscheidungen des angefochtenen Beschlusses. Die auf fünf Jahre bestimmte Dauer der Bewährungszeit (§ 56 Abs. 1 StGB) ist angemessen; der Verurteilte bedarf der gemäß § 57 Abs. 3, § 56c StGB erteilten Weisungen. Sie verfolgen das Ziel, seine Lebensführung spezialpräventiv zu beeinflussen und sind angemessen und erforderlich, um ihn zu einem künftig straffreien Leben anzuhalten.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 473 Abs. 2 Satz 1 StPO.
HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 499
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 228; StV 2020, 169
Bearbeiter: Christian Becker