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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 199

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 352/24, Urteil v. 04.12.2024, HRRS 2025 Nr. 199


BGH 2 StR 352/24 - Urteil vom 4. Dezember 2024 (LG Meiningen)

Schuldfähigkeit (Rechtsfrage; Darlegungsanforderungen: Auswirkungen der festgestellten psychischen Störung auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit; Persönlichkeitsstörung; Triggerreiz); Heimtücke (Arglosigkeit: offen feindseliges Entgegentreten, latente Angst des Opfers, Schlafende; Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit: Ausnutzungsbewusstsein, psychischer Ausnahmezustand, affektive Erregung).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 211 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, muss in der Regel - notfalls unter Anwendung des Zweifelssatzes - in einem ersten Schritt die Frage beantwortet werden, ob und gegebenenfalls welche relevante Störung beim Angeklagten vorlag. In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob diese tatsächlich festgestellte Störung rechtlich unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Auf dieser Grundlage ist in einem dritten Schritt zu klären, ob sich eine von § 20 StGB erfasste Störung auf die Einsichts- oder auf die Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung in einem relevanten Ausmaß ausgewirkt hat.

2. Für die Tatsachenbewertung ist das Gericht auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.

3. Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt.

4. Arglos ist das Opfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet. Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen.

5. Arglosigkeit scheidet im Allgemeinen aus, wenn das Opfer in der Tatsituation mit ernsthaften Angriffen auf seine körperliche Unversehrtheit gerechnet hat. Eine auf früheren Aggressionen beruhende latente Angst des Opfers hebt indes seine Arglosigkeit erst dann auf, wenn es deshalb im Tatzeitpunkt mit Feindseligkeiten des Täters rechnet. Bei Opfern, die auf Grund von bestehenden Konfliktsituationen oder früheren Bedrohungen dauerhaft Angst um ihr Leben haben, kann ein Wegfall der Arglosigkeit erst dann in Betracht gezogen werden, wenn für sie ein akuter Anlass für die Annahme bestand, dass der ständig befürchtete schwerwiegende Angriff auf ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit nun unmittelbar bevorstehe.

6. Ein Täter handelt gegenüber seinem Opfer auch dann heimtückisch, wenn er dessen Arglosigkeit nur bewusst ausnutzt, ohne dass es darauf ankommt, ob er sie bewusst herbeigeführt oder bestärkt hat.

7. Arglos ist regelmäßig auch der Schlafende. Er überlässt sich dem Schlaf im Vertrauen darauf, dass ihm nichts geschehen werde; in diesem Vertrauen überliefert er sich der Wehrlosigkeit. Arglos ist er hingegen nicht nur, ehe er einschläft. Wer sich zum Schlafen niederlegt, nimmt die Arglosigkeit mit in den Schlaf; sie begleitet ihn, auch wenn er sich ihrer nicht mehr bewusst ist, sofern er nicht gegen seinen Willen vom Schlaf übermannt wurde oder wenn er auf Grund sonstiger Umstände - und nicht wegen seiner Arglosigkeit - nicht in der Lage war, die (Angriffs-)Absicht des Täters zu erkennen und dessen Angriff wirksam entgegenzutreten.

8. Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise ist, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt. Er muss die Lage nicht nur in einer äußerlichen Weise wahrgenommen, sondern in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst haben, und ihm muss bewusst gewesen sein, einen durch Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen; das kann allerdings „mit einem Blick“ geschehen. Dabei können sich aus der Vorgeschichte der Tat, dem psychischen Zustand des Täters oder aus im Einzelfall gegebenen Modalitäten der Tatausführung Beweisanzeichen dafür ergeben, dass dem Täter das Ausnutzungsbewusstsein fehlte. Insoweit können auch psychische Ausnahmezustände unterhalb der Schwelle des § 21 StGB der Annahme des Ausnutzungsbewusstseins entgegenstehen. Andererseits hindert nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat zu erkennen; dies ist vielmehr eine vom Tatgericht zu bewertende Tatfrage.

9. Wenn ein Geschädigter mit einem Angriff gegen sich rechnete, ist das Mordmerkmal der Heimtücke objektiv zu verneinen. Glaubt der Täter jedoch bei dem Angriff gegen das Leben seines Opfers, dieses sei arglos, und wollte er seine Tat unter Ausnutzung der daher von ihm angenommenen Wehrlosigkeit des Opfers begehen, so kommt eine Verurteilung wegen eines heimtückisch begangenen Mordversuchs in Betracht.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 11. März 2024 mit den Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte im Fall II.2 der Urteilsgründe verurteilt ist, und

b) im Gesamtstrafenausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt und einen Gürtel als Tatmittel eingezogen. Von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hat es abgesehen.

Hiergegen richten sich die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten und auf die Sachrüge gestützten Revision die Verneinung des Mordmerkmals der Heimtücke im Fall II.2 der Urteilsgründe. Das Rechtsmittel ist im Umfang der Anfechtung begründet. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der geringfügig vorbelastete Angeklagte leidet an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit vornehmlich paranoiden, aber auch narzisstischen Anteilen sowie einem Abhängigkeitssyndrom von Alkohol. Zwischen April 2020 und dem 30. Juni 2023 befand er sich - teils freiwillig, teils untergebracht nach ThürPsychKG - mehrfach stationär für unterschiedlich lange Zeiten in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie.

1. Am 1. Mai 2021 gegen 2:45 Uhr morgens schlug der Angeklagte seiner Mutter in der gemeinsamen Wohnung nach einem Streitgespräch, bei dem er möglicherweise provoziert oder beleidigt worden war, in Verletzungsabsicht mit einem Ledergürtel auf den Kopf und traf sie mit der Gürtelschnalle, wodurch sie eine stark blutende, ca. 4 cm lange Platzwunde erlitt.

Die Strafkammer hat nicht auszuschließen vermocht, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner kombinierten Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit der akuten Intoxikation mit Alkohol - ein beim Angeklagten um 2:55 Uhr durchgeführter Atemalkoholtest ergab „einen Wert von 1,43 ‰“ - und dem unmittelbar vorangegangenen Streitgespräch mit seiner Mutter erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB war.

2. Am Abend des 23. Juli 2023 entschloss sich der Angeklagte, seine Mutter zu töten, die nach seiner Auffassung sein Leben zerstört hatte; auch wollte er seiner Meinung nach ihm gehörende Gegenstände mitnehmen. Um 23:45 Uhr traf der Angeklagte an der Wohnung seiner Mutter ein. Nachdem er mit seinem Schlüssel die Wohnungstür nicht öffnen konnte, trat er diese ein, begab sich in das Schlafzimmer, legte einen mitgebrachten Kabelbinder um den Hals seiner im Bett schlafenden Mutter und erdrosselte sie. Er entfernte sich sodann mit dem Pkw seiner Mutter, konnte aber wenig später festgenommen werden. Beim Eintreffen an der Wohnung hatte der Angeklagte aufgrund vorangegangenen Alkoholkonsums eine maximale Blutalkoholkonzentration von 1,77 ‰. Bei der Tat war seine Steuerungsfähigkeit nicht erheblich vermindert.

Das Handeln des Angeklagten hat die Strafkammer als Totschlag gemäß § 212 StGB gewertet. Der Angeklagte habe nicht heimtückisch gehandelt, weil seine Mutter nicht arglos gewesen sei; auch beim „Zubettgehen“ habe sie immer noch mit einem erheblichen und gewichtigen Angriff des Angeklagten auf ihr Leben gerechnet. Hierzu hat die Strafkammer folgendes Vortatgeschehen festgestellt:

Der Angeklagte, der in Folge der gewalttätigen Auseinandersetzung mit der Mutter aus deren Wohnung hatte ausziehen müssen, war im Juni 2023 nach dem ThürPsychKG in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Am Tag nach seiner Entlassung hatte er die Wohnung seiner Mutter aufgesucht und war durch Zerschlagen der Glasscheibe der Wohnungseingangstür gewaltsam eingedrungen. Seine ihn später schlafend in seinem alten Zimmer antreffende Mutter hatte hierauf die Polizei verständigt.

Zwei Tage später hatte die Mutter auf Bitten des Angeklagten dessen Krankenkassenkarte zu einer Arztpraxis gebracht, wo der Angeklagte sie lautstark verbal und aggressiv bedrohte. Ungeachtet einer daraufhin auf Antrag der Mutter erlassenen Gewaltschutzanordnung, mit der es dem Angeklagten unter anderem untersagt wurde, sich in der Nähe der Wohnung der Mutter ohne deren vorherige schriftliche Zustimmung aufzuhalten, hatte der Angeklagte am 17. Juli 2023 seine Mutter angerufen und gesagt, dass er noch Sachen aus der Wohnung holen wolle; auf das Kontaktverbot hingewiesen hatte der Angeklagte angegeben, dass er trotzdem hingehen werde und ihm dies egal sei.

Am Abend des 22. Juli 2023 hatte der Angeklagte gegen 19:30 Uhr an der Wohnung seiner Mutter geklingelt, die daraufhin die Polizei informiert hatte. Am Folgetag hatte die Mutter erneut bei der Polizei angerufen, weil sie Angst hatte, dass der Angeklagte erneut vor ihrer Wohnungstür stehen könnte. An diesem Tag hatte sie auch das Schloss an ihrer Wohnungstür austauschen lassen. Gleichwohl hatte sie weiterhin große Angst vor einem Eindringen des Angeklagten in ihre Wohnung und einem schwerwiegenden körperlichen Angriff durch ihn auf sie. Daher hatte sie um 22:08 Uhr erneut die zuständige Polizeiinspektion angerufen. Mit deren Auskünften hatte sie sich nicht zufrieden gezeigt, der Polizeibeamte hatte aber den Eindruck gewonnen, dass er sie dahingehend etwas habe beruhigen können, dass die Gesamtumstände und Dringlichkeit bekannt seien und die Polizei immer schnell vor Ort sei. Die Mutter, die die Wohnungstüre abgeschlossen und zusätzlich eine Türverschlusskette angebracht hatte, hatte zur Beruhigung noch Alkohol getrunken und sich sodann schlafen gelegt.

II.

Die Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

2. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende Nachprüfung des angefochtenen Urteils hat zum Schuld- und zum Rechtsfolgenausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erbracht. Rechtlicher Nachprüfung hält insbesondere die Annahme der Strafkammer stand, im Fall II.2 der Urteilsgründe sei die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung nicht erheblich vermindert gewesen.

a) Für die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, muss in der Regel - notfalls unter Anwendung des Zweifelssatzes (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. November 2014 - 4 StR 497/14, Rn. 9; vom 14. Juni 2016 - 1 StR 221/16, Rn. 9) - in einem ersten Schritt die Frage beantwortet werden, ob und gegebenenfalls welche relevante Störung beim Angeklagten vorlag. In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob diese tatsächlich festgestellte Störung rechtlich unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Auf dieser Grundlage ist in einem dritten Schritt zu klären, ob sich eine von § 20 StGB erfasste Störung auf die Einsichts- oder auf die Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung in einem relevanten Ausmaß ausgewirkt hat (vgl. nur BGH, Beschluss vom 12. Mai 2022 - 5 StR 99/22, NJW 2022, 1966).

Für die Tatsachenbewertung ist das Gericht auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 13. September 2023 - 4 StR 40/23, NStZRR 2024, 54 mwN).

b) Diesen Anforderungen ist die Strafkammer gerecht geworden.

Sie geht zunächst im Anschluss an den von ihr gehörten psychiatrischen Sachverständigen davon aus, dass die kombinierte Persönlichkeitsstörung des Angeklagten, die paranoide und narzisstische Anteile aufweist, so schwer ist, dass sie das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB erfüllt, was nur dann in Betracht kommt, wenn Symptome von beträchtlichem Gewicht vorliegen, deren Folgen den Angeklagten vergleichbar schwer belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Februar 2024 - 5 StR 561/23, Rn. 13 mwN). Dies legt - wie die Strafkammer zutreffend erkannt hat - nahe, dass diese Störung zur Verminderung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB führte (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. September 2016 - 2 StR 223/16, NStZ-RR 2017, 37 f.; vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7 f.).

Sodann hat die Strafkammer die tatbezogene Ausprägung der Störung in den Blick genommen und - wiederum dem psychiatrischen Sachverständigen folgend - in noch ausreichend nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass die überdauernde kombinierte Persönlichkeitsstörung des Angeklagten zusammen mit der Alkoholeinwirkung bei der konkreten Tatbegehung nur dann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit hätte führen können, wenn „als zwingend Drittes“ ein „Triggerreiz“ im Sinne einer akut hochkonflikthaften und eher plötzlichen Konfrontation hinzugekommen wäre. Die Wertung der Strafkammer, ein solcher „Triggerreiz“ im zeitlichen Zusammenhang mit der Tatbegehung habe im Fall II.2 der Urteilsgründe - anders als im Fall II.1 der Urteilsgründe - nicht vorgelegen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen hat der Angeklagte seine Mutter unmittelbar nach Betreten der Wohnung mit einem von ihm hierzu mitgebrachten Kabelbinder erdrosselt. Seiner Einlassung, es habe nach dem Eintreten der Wohnungstüre noch ein Streitgespräch mit seiner Mutter gegeben, ist die Strafkammer mit rechtsfehlerfreier Begründung nicht gefolgt.

III.

Die auf die Verurteilung des Angeklagten im Fall II.2 der Urteilsgründe beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft ist zulässig und im Umfang der Anfechtung begründet.

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf die Verurteilung des Angeklagten im Fall II.2 der Urteilsgründe beschränkt.

Zwar hat die Staatsanwaltschaft einen umfassenden Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Ausweislich der Revisionsbegründung wendet sie sich aber allein dagegen, dass der Angeklagte im Fall II.2 der Urteilsgründe nicht wegen Heimtückemordes verurteilt ist. Die darin liegende Revisionsbeschränkung ist auch wirksam. Die Feststellungen zur Schuldfähigkeit im Fall II.1 der Urteilsgründe sind nicht untrennbar mit der nämlichen Frage bezogen auf die zwei Jahre später begangene Tötung im Fall II.2 der Urteilsgründe verbunden, zumal die Auswirkung der beim Angeklagten diagnostizierten Störung auf die Schuldfähigkeit von einzelfallbezogenen Umständen („Triggerreiz“) abhängig ist.

2. Im Umfang der Anfechtung hat das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft Erfolg.

a) Die Wertung der Strafkammer, die Mutter des Angeklagten sei nicht arglos gewesen, weil sie - wie die Anrufe bei der Polizei gezeigt hätten - auch beim „Zubettgehen“ noch mit einem erheblichen und gewichtigen Angriff des Angeklagten auf ihr Leben gerechnet habe, zumal sie aufgrund der vorangegangenen Vorfälle gewusst habe, dass ihr die Wohnungstüre keinen ausreichenden Schutz bieten werde, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie lässt nicht erkennen, dass die Strafkammer alle zur Beurteilung des Tatgeschehens maßgeblichen Umstände in den Blick genommen hat.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung handelt heimtückisch, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Arglos ist das Opfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 4. Juli 1984 - 3 StR 199/84, BGHSt 32, 382, 383 f.; vom 9. Januar 1991 - 3 StR 205/90, BGHR § 211 Abs. 2 Heimtücke 13; vom 9. September 2003 - 5 StR 126/03, NStZ-RR 2004, 14, 16; vom 1. März 2012 - 3 StR 425/11, Rn. 20). Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen (BGH, Urteil vom 6. Januar 2021 ? 5 StR 288/20, NStZ 2021, 287).

Arglosigkeit scheidet im Allgemeinen aus, wenn das Opfer in der Tatsituation mit ernsthaften Angriffen auf seine körperliche Unversehrtheit gerechnet hat (BGH, Urteil vom 20. August 2014 ? 2 StR 605/13, NStZ 2014, 574). Eine auf früheren Aggressionen beruhende latente Angst des Opfers hebt indes seine Arglosigkeit erst dann auf, wenn es deshalb im Tatzeitpunkt mit Feindseligkeiten des Täters rechnet (BGH, Urteile vom 20. Oktober 1993 - 5 StR 473/93, BGHSt 39, 353, 368; vom 9. September 2003 - 5 StR 126/03, NStZRR 2004, 14, 16). Bei Opfern, die auf Grund von bestehenden Konfliktsituationen oder früheren Bedrohungen dauerhaft Angst um ihr Leben haben, kann ein Wegfall der Arglosigkeit erst dann in Betracht gezogen werden, wenn für sie ein akuter Anlass für die Annahme bestand, dass der ständig befürchtete schwerwiegende Angriff auf ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit nun unmittelbar bevorstehe (vgl. BGH, Urteile vom 9. September 2003 - 5 StR 126/03, NStZRR 2004, 14, 15; vom 10. Februar 2010 - 2 StR 503/09, NStZ 2010, 450, 451).

Ein Täter handelt gegenüber seinem Opfer auch dann heimtückisch, wenn er dessen Arglosigkeit nur bewusst ausnutzt, ohne dass es darauf ankommt, ob er sie bewusst herbeigeführt oder bestärkt hat (BGH, Urteil vom 7. Juni 1955 - 5 StR 104/55, BGHSt 8, 216, 219). Arglos ist regelmäßig auch der Schlafende. Er überlässt sich dem Schlaf im Vertrauen darauf, dass ihm nichts geschehen werde; in diesem Vertrauen überliefert er sich der Wehrlosigkeit. Arglos ist er hingegen nicht nur, ehe er einschläft. Wer sich zum Schlafen niederlegt, nimmt die Arglosigkeit mit in den Schlaf; sie begleitet ihn, auch wenn er sich ihrer nicht mehr bewusst ist, sofern er nicht gegen seinen Willen vom Schlaf übermannt wurde oder wenn er auf Grund sonstiger Umstände - und nicht wegen seiner Arglosigkeit - nicht in der Lage war, die (Angriffs-)Absicht des Täters zu erkennen und dessen Angriff wirksam entgegenzutreten (vgl. BGH, Urteile vom 8. Oktober 1969 - 3 StR 90/69, BGHSt 23, 119, 120 f.; vom 10. Mai 2007 - 4 StR 11/07, NStZ 2007, 523, 524 jeweils mwN).

bb) Ausgehend hiervon hätte die Strafkammer die zum Schlaf der Mutter des Angeklagten führenden Umstände näher in den Blick nehmen müssen. Diese hatte zwar zum Zeitpunkt ihres letzten Anrufs bei der Polizei um 22:08 Uhr - wie die Strafkammer entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin rechtsfehlerfrei festgestellt hat - trotz des Schlossaustausches und des Umstands, dass der letzte körperliche Angriff des Angeklagten auf sie zwei Jahre zurücklag, konkrete Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff des Angeklagten auf ihre körperliche Unversehrtheit. Dass sie in der Folgezeit bis zum Tatzeitpunkt um 23:45 Uhr dennoch den Schlaf in ihrem Bett fand, kann nach den bislang getroffenen Feststellungen aber auch darauf beruhen, dass sie aufgrund des Anrufs bei der Polizei ihre Angst überwunden hatte, etwa weil sie - gefördert durch den „zur Beruhigung“ konsumierten Alkohol - nunmehr darauf vertraute, dass sie ein Eindringen des Angeklagten in die Wohnung - zumal angesichts des ausgetauschten Schlosses - wahrnehmen und rechtzeitig die Polizei würde herbeirufen können. Hierzu verhalten sich die Urteilsgründe nicht. Es ist nach den bislang getroffenen Feststellungen auch nicht ersichtlich, dass der vor dem Schlaf konsumierte Alkohol die Mutter in einen Zustand versetzt hätte, aufgrund dessen sie - und nicht aufgrund (wiedererlangter) Arglosigkeit - nicht in der Lage war, dem Angriff des Angeklagten wirksam entgegenzutreten. Rückschlüsse ermöglichende Feststellungen etwa zum Alkoholisierungsgrad des Tatopfers oder zur genauen Auffindesituation sind nicht getroffen.

b) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht. Die Verurteilung des Angeklagten im Fall II.2 der Urteilsgründe und in der Folge der Gesamtstrafenausspruch können daher keinen Bestand haben.

Der Senat hebt die zugrundeliegenden Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht umfassende eigene, in sich widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

3. Das neue Tatgericht wird gegebenenfalls Folgendes in den Blick zu nehmen haben:

a) Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise ist auch, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1957 - GSSt 3/57, BGHSt 11, 139, 144; Urteil vom 11. Dezember 2012 - 5 StR 438/12, NStZ 2013, 232, 233). Er muss die Lage nicht nur in einer äußerlichen Weise wahrgenommen, sondern in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst haben, und ihm muss bewusst gewesen sein, einen durch Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 2009 - 2 StR 470/08, NStZ 2009, 569, 570); das kann allerdings „mit einem Blick“ geschehen (BGH, Urteil vom 8. Oktober 1969 - 3 StR 90/69, BGHSt 23, 119, 121).

Dabei können sich aus der Vorgeschichte der Tat, dem psychischen Zustand des Täters oder aus im Einzelfall gegebenen Modalitäten der Tatausführung Beweisanzeichen dafür ergeben, dass dem Täter das Ausnutzungsbewusstsein fehlte. Insoweit können auch psychische Ausnahmezustände unterhalb der Schwelle des § 21 StGB der Annahme des Ausnutzungsbewusstseins entgegenstehen (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 2014 - 3 StR 154/14, NStZ 2014, 507 mwN). Andererseits hindert nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran, die Bedeutung der Argund Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat zu erkennen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juni 2014 - 2 StR 117/14, NStZ 2014, 639); dies ist vielmehr eine vom Tatgericht zu bewertende Tatfrage (BGH, Urteil vom 11. Dezember 2012 - 5 StR 438/12, NStZ 2013, 232, 233 mwN).

b) Wenn ein Geschädigter mit einem Angriff gegen sich rechnete, ist das Mordmerkmal der Heimtücke objektiv zu verneinen. Glaubt der Täter jedoch bei dem Angriff gegen das Leben seines Opfers, dieses sei arglos, und wollte er seine Tat unter Ausnutzung der daher von ihm angenommenen Wehrlosigkeit des Opfers begehen, so kommt eine Verurteilung wegen eines heimtückisch begangenen Mordversuchs in Betracht (vgl. BGH, Urteile vom 7. Juni 1994 - 1 StR 279/94, BGHR StGB § 211 II Heimtücke 19; vom 8. Februar 2006 - 1 StR 523/05, NStZ 2006, 501; MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl., § 211 Rn. 278).

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 199

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede