Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 473/93, Urteil v. 20.10.1993, HRRS-Datenbank, Rn. X
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Bezirksgerichts Potsdam vom 9. Dezember 1992 dahin abgeändert, daß der Angeklagte H wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt wird.
1. Die Revision des Angeklagten H gegen das genannte Urteil wird verworfen.
2. Der Angeklagte H hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Der Jugendsenat des Bezirksgerichts hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Hiergegen richten sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, die mit sachlichrechtlichen Beanstandungen eine Verurteilung wegen Mordes erstrebt, und die Revision des Angeklagten mit Verfahrensrügen und der Sachrüge. Während das Rechtsmittel des Angeklagten ohne Erfolg bleibt, führt die Revision der Staatsanwaltschaft zur Änderung von Schuldspruch und Strafausspruch.
Im Herbst 1965 war der Angeklagte Grenzsoldat der DDR und als Gruppenführer der Hauptverantwortliche für die Sicherung eines bestimmten Grenzabschnitts zwischen der DDR und Berlin (West). Die nachts beleuchteten Grenzanlagen waren dort u.a. mit einem Stacheldrahtzaun und einem Kraftfahrzeug-Sperrgraben ausgebaut, der zwischen 50 cm und 1 m tief war. Der Angeklagte war Vorgesetzter auch des Postenpaares, das aus den früheren Mitangeklagten W., der rechtskräftig verurteilt ist, als Postenführer und B., der rechtskräftig freigesprochen ist, als Posten bestand. Am 18. Oktober 1965 gegen 2.45 Uhr versuchten der später Getötete K. und der Zeuge Kr., in dem genannten Grenzabschnitt aus der DDR nach Berlin (West) zu fliehen. Sie wurden innerhalb der Grenzanlagen von W. und B. gestellt. Nach Sperrfeuer und auf Anruf gaben beide Flüchtlinge ihr Fluchtvorhaben auf und gehorchten mit erhobenen Händen der Aufforderung der Posten, zurückzukehren. Auf Befehl W.s begaben beide Flüchtlinge sich in den Sperrgraben zurück, wo sie Deckung suchten. "Zur Mahnung" gaben W. und B. aus ihren Maschinenpistolen mehrere Dauerfeuer-Salven in den Graben ab. Hierdurch wurde Kr. schwer verletzt. Der Angeklagte, vom Geschehen etwa 500 m entfernt, wurde durch einen von W. abgeschossenen Signalstern alarmiert und ließ sich zum Ereignisort fahren, wo W. und B. mit ihren Maschinenpistolen im Anschlag die beiden im Graben befindlichen Flüchtlinge in Schach hielten. W. informierte den Angeklagten darüber, daß zwei Flüchtlinge gestellt worden seien, auf Befehl zurückgekommen seien und sich jetzt im Graben befänden.
Der Angeklagte übernahm das Kommando und befahl den Flüchtlingen, deren Gestalten er im Graben erkennen konnte: "Rauskommen!" Seine Entfernung zu K. und Kr. betrug höchstens 20 bis 25 Meter. Der angeschossene Zeuge Kr. rief: "Ich kann nicht, ich bin verletzt!" K. erhob sich aus dem Graben, um den Grenzposten entgegenzugehen. In diesem Augenblick gab der Angeklagte aus seiner Maschinenpistole "Kalaschnikow", die er auf Dauerfeuer gestellt hatte, mindestens drei Feuerstöße (mindestens 15 Schüsse) auf K. ab. Er schoß so lange, bis K. umfiel und bis er glaubte, sein Magazin sei leer. K. wurde von mehreren Schüssen in den Leib tödlich getroffen. Entweder vor oder nach den tödlichen Schüssen schrie der Angeklagte sinngemäß: "Ich habe mir geschworen, hier kommt keiner mehr lebend raus". Der Angeklagte wollte K. töten, weil er davon ausging, jeder Flüchtling sei ein Verbrecher und politischer Gegner, dessen Leben nicht geschont werde müsse. Alle beteiligten Grenzsoldaten wurden vom Brigadekommandeur ausgezeichnet. Der Angeklagte wurde zum Feldwebel befördert.
Ein Verfahrenshindernis besteht nicht.
1. Verfolgungsverjährung ist nicht eingetreten. Dies gilt unabhängig vom Verjährungsgesetz vom 26. März 1993 (BGBl I S. 392).
a) Zur Tatzeit am 18. Oktober 1965 betrug die Verjährungsfrist nach der in der DDR geltenden Fassung des Strafgesetzbuchs für das vom Bezirksgericht angenommene Verbrechen des Totschlags ebenso wie für das Verbrechen des Mordes zwanzig Jahre (§ 67 Abs. 1, § 212, § 211 Abs. 1 StGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung strafrechtlicher und verfahrensrechtlicher Bestimmungen vom 17. April 1963, GBl I S. 65). Diese Frist wurde für das Verbrechen der vorsätzlichen Tötung eines Menschen, das nach dem neuen Recht als Mord bezeichnet wurde, mit Wirkung vom 1. Juli 1968 auf fünfundzwanzig Jahre verlängert (§ 82 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 Satz 2, § 112 Abs. 1 StGB-DDR vom 12. Januar 1968 i.V.m. § 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 5 Abs. 1 EGStGB-DDR vom selben Tag, GBl I S. 22, 97).
Es kann dahinstehen, ob diese Verlängerung der Verjährungsfrist etwa an den Maßstäben des Grundgesetzes zu messen ist. Die genannte Regelung beschränkte ihre Wirkung auf Fälle noch laufender Verjährungsfrist, nahm die Fälle bereits eingetretener Verjährung ausdrücklich aus (§ 5 Abs. 2 EGStGB- DDR) und entsprach daher - jedenfalls für Verbrechen, die mit hohen Strafen bedroht sind - den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung des Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 13. April 1965 (BGBl I S. 315) aufgestellt hat (BVerfGE 25, 269).
b) Die fünfundzwanzigjährige Verjährungsfrist, die am 17. Oktober 1990 geendet hätte, wurde mit der Einigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 unterbrochen (Art. 315 a Satz 2, 1. Halbsatz EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 Buchst. c, jetzt Art. 315 a Satz 3, 1. Halbsatz EGStGB i.d.F. des Verjährungsgesetzes).
aa) Der gesetzlichen Überschrift zu Artikel 315 a EGStGB ("Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung für in der Deutschen Demokratischen Republik verfolgte und abgeurteilte Taten") kommt keine die Anwendbarkeit der Vorschrift einschränkende Bedeutung zu, etwa derart, daß die Vorschrift nur auf diejenigen Fälle anwendbar wäre, wegen derer in der DDR mit der Strafverfolgung begonnen worden war (so aber Küpper/Wilms ZRP 1992, 91, 96; vgl. auch Schneiders MDR 1990, 1049, 1051 und Breymann NStZ 1991, 463). Die einschränkende Formulierung in der Überschrift findet im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag. Vielmehr enthält die Vorschrift selbst eine eindeutige und in sich geschlossene Gesamtregelung. Diese würde in unverständlicher, schwer praktikabler und verfassungsrechtlich zweifelhafter Weise durchbrochen, wenn sie nur bei bereits in der DDR aufgenommener Strafverfolgung Geltung hätte. Ein wesentliches Teilziel des Gesetzgebers, nämlich insbesondere die Verfolgung der in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgten Straftaten nunmehr zu ermöglichen, würde in Frage gestellt. Danach kann die genannte Fassung der Gesetzesüberschrift nur als ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers verstanden werden (ähnlich König NStZ 1991, 566, 567 Fußnote 18; Riedel DtZ 1992, 162, 164).
bb) Allerdings würde für die Tat des Angeklagten, wenn sie - wie das Bezirksgericht annimmt - als Totschlag nach § 212 StGB zu bewerten wäre und auf sie - theoretisch - auch die Verjährungsvorschriften des Strafgesetzbuchs anzuwenden wären, eine gegenüber der fünfundzwanzigjährigen Verjährungsfrist des DDR-Rechts tätergünstigere Verjährungsfrist von zwanzig Jahren gelten (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB). Bei Mord nach § 211 StGB kehrt das Verhältnis sich angesichts der Unverjährbarkeit nach § 78 Abs. 2 StGB um. Der Senat folgt jedoch nicht einer im Schrifttum vertretenen Ansicht, daß Art. 315 a EGStGB entgegen dem Wortlaut nur auf diejenigen Fälle anzuwenden sei, in denen das Strafrecht der DDR längere Verjährungsfristen vorsah als das Strafgesetzbuch (so Schneiders a.a.O.). Denn Art. 315 a EGStGB soll generell ausschließen, daß Strafansprüche der DDR nach dem Beitritt ohne weiteres verjähren. Hierbei haben solche Straftaten besondere Bedeutung, die in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden (zum Ganzen König NStZ 1991, 566 f.).
cc) Die Regelung des Art. 315 a Satz 3, 1. Halbsatz EGStGB verstößt nicht gegen Verfassungsrecht.
Da sie lediglich die Unterbrechung noch laufender Verjährungsfristen vorsieht, verletzt sie weder das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG noch sonst das Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfGE 25, 269, 284, 289; vgl. auch BVerfGE 1, 418, 423 zum vergleichbaren Fall der Änderung der Vorschriften über die Hemmung der Strafverfolgungsverjährung mit Wirkung für bereits begangene Taten; vgl. ferner Schmidt- Aßmann in Maunz/Dürig/Herzog GG, Stand Dezember 1992, Art. 103 Abs. 2 Rdn. 245, 254 m.w.N.).
Soweit schließlich die Revision des Angeklagten meint, es sei "die Anwendung der jeweils günstigsten Verjährungsregel" geboten, widrigenfalls liege ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vor, ist zu bemerken: Unabhängig von der Rechtsnatur der Verjährungsvorschriften kann § 2 Abs. 3 StGB (i.V.m. Art. 315 EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 Buchst. b) jedenfalls insoweit nicht eingreifen, als Art. 315 a EGStGB in der genannten Fassung des Einigungsvertrages für die Verfolgungsverjährung eine spezielle und damit vorgehende Regelung enthält (Geiger JR 1992, 397 f.; Krehl DtZ 1992, 13, 14). Art. 315 a Satz 3, 1. Halbsatz EGStGB verstößt auch nicht gegen den Gleichheitssatz. Denn Anknüpfungspunkt der Regelung, daß die bis dahin nicht eingetretene Verfolgungsverjährung als am 3. Oktober 1990 unterbrochen gilt, ist "ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender Grund" (vgl. BVerfGE 1, 14, 52). Dieser liegt zum einen darin, daß in der Zeit kurz vor und nach der Einigung Deutschlands die Rechtspflege im Gebiet der ehemaligen DDR teilweise stillstand, zum anderen in der Tatsache, daß insbesondere Straftaten der vorliegenden Art in der DDR überhaupt nicht verfolgt wurden. Zudem werden die Wirkungen des Art. 315 a Satz 3, 1. Halbsatz EGStGB durch den 2. Halbsatz der Vorschrift erheblich gemildert (zu alledem König a.a.O.). Im übrigen entfällt das an die zwanzigjährige Verjährungsfrist für Totschlag (§ 78 Abs. 3 Nr. 2, § 212 Abs. 1 StGB) anknüpfende Gleichheitsargument beim Vorliegen eines Mordes nach § 211 StGB angesichts der Unverjährbarkeit eines solchen Verbrechens nach § 78 Abs. 2 StGB.
2. Die Verfolgung der Tat ist nicht durch in der DDR erlassene Amnestien ausgeschlossen.
a) Bohnert vertritt die Ansicht, daß wegen in der DDR erfolgter Amnestien die Verfolgung dort begangener Taten weitgehend unzulässig sei, was insbesondere "die Mehrzahl der Mauerschützen und den größten Teil der Delinquenz von Staatsfunktionären" betreffe (DtZ 1993, 167 ff., 173). Eine derart weitreichende Wirkung der Amnestien nimmt der Senat nicht an.
b) Nach der Tat des Angeklagten ergingen in der DDR acht Regelungen, durch die die DDR ihren Strafverfolgungsanspruch in dem jeweils bestimmten Rahmen aufgegeben oder modifiziert hat. Dies geschah in zwei Fällen durch Gesetz (Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsbürgerschaft vom 16. Oktober 1972, GBl I S. 265; Gesetz zum teilweisen Straferlaß vom 28. September 1990, GBl I S. 1987), einmal durch eine Verordnung (Verordnung zu Fragen der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juni 1982, GBl I S. 418) und in den übrigen fünf Fällen durch einen "Beschluß des Staatsrates über eine Amnestie" (Beschluß vom 6. Oktober 1972, veröffentlicht offenbar nur in Neues Deutschland vom 7. Oktober 1972; Beschluß vom 24. September 1979, GBl I S. 281; Beschluß vom 17. Juli 1987, GBl I S. 191; Beschluß vom 27. Oktober 1989, GBl I S. 237; Beschluß vom 6. Dezember 1989, GBl I S. 266), beruhend auf Artikel 74 Abs. 2 der Verfassung der DDR, wonach der Staatsrat "das Amnestie- und Begnadigungsrecht" ausübte. In der Sache haben diese Regelungen unterschiedlichen Rechtscharakter.
Zutreffend weist Bohnert (a.a.O. S. 167) darauf hin, daß der Rechtskomplex der Wirkungen der in der DDR erfolgten Amnestierungen im weitesten Sinne im Einigungsvertrag ohne spezielle Regelung geblieben ist, vielmehr der Auslegung durch Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen wurde. Danach werden sachlichrechtliche, vollstreckungsrechtliche und verfahrensrechtliche Fragen jeweils nach den dafür geltenden Regelungen des Einigungsvertrages zu behandeln sein. Indes kann hier dahingestellt bleiben, welche Übergangsregeln danach im einzelnen gelten; denn die Tat des Angeklagten wird von keiner der genannten acht Regelungen sachlich erfaßt.
aa) Ob sich dies schon daraus ergibt, daß Schüsse der Grenzsoldaten an den innerdeutschen Grenzen von vornherein außerhalb des Wirkungsbereichs der genannten Regelungen standen, bedarf keiner Entscheidung.
Für eine solche Entscheidung kann folgendes sprechen: Die Amnestien der DDR, ob im Neuen Deutschland oder im Gesetzblatt der DDR verkündet, hatten jeweils besonders zweckhaften Charakter und waren keine Generalamnestien, sondern erfaßten jeweils nur bestimmte Bereiche des nach den Vorschriften der DDR strafbaren Verhaltens. Es liegt nicht nahe, daß Taten der vorliegenden Art nach dem Willen des Amnestiegebers umfaßt wurden.
Dem Senat ist aus der bisherigen Befassung mit Tötungs- und Körperverletzungsdelikten von Grenzsoldaten der DDR bekannt, daß der Schußwaffengebrauch durch Grenzsoldaten der DDR von den Strafverfolgungsorganen der DDR keinesfalls verfolgt wurde, nicht einmal bei offensichtlichem Überschreiten der formalen Legitimation zum Schießen. Vielmehr wurden die an einem Schußwaffengebrauch beteiligten Grenzsoldaten stets in irgendeiner Form belobigt oder ausgezeichnet (vgl. BGHSt 39, 1, 11 ff.). Der vorliegende Fall fügt dem ein weiteres Beispiel hinzu. Wurden also Schüsse der DDR-Grenzsoldaten auf Flüchtlinge seitens der Strafverfolgungsbehörden der DDR durchgehend nicht als zu verfolgendes Unrecht behandelt, so bestand auch für den zur Amnestierung befugten Staatsrat der DDR kein Grund, derartige Taten einer Amnestieregelung zu unterwerfen. Was außerhalb jeder Verfolgung stand, bedurfte keiner Amnestie.
bb) Schon nach dem Wortlaut der Amnestien war die Tat des Angeklagten von ihnen nicht erfaßt.
Die Beschlüsse vom 6. Oktober 1972 und vom 24. September 1979 sowie das Gesetz vom 28. September 1990 betrafen ohne Ausnahme nur rechtskräftig Verurteilte. Das Gesetz vom 16. Oktober 1972, die Verordnung vom 21. Juni 1982 und der Beschluß vom 27. Oktober 1989 betrafen nur das "ungenehmigte Verlassen" der DDR bzw. den "ungesetzlichen Grenzübertritt".
Der Beschluß des Staatsrates vom 17. Juli 1987 erstreckt sich nach seiner Nr. 1 nur auf rechtskräftig Verurteilte. Nach der dortigen Nr. 3 ist die Entlassung der Amnestierten "aus dem Strafvollzug und der Untersuchungshaft" bis zum 12. Dezember 1987 abzuschließen. Nr. 4 des Beschlusses lautet: "Der Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik verkündet die Amnestie und trifft die erforderlichen Festlegungen." In den daraufhin ergangenen "Festlegungen" des Vorsitzenden des Staatsrates vom 17. Juli 1987 (GBl I S. 192) findet sich unter Nr. 3 folgende Regelung: "Ermittlungsverfahren gegen Personen und nicht rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren, die vor dem 7. Oktober 1987 eingeleitet wurden, sind einzustellen, sofern keine dem Anliegen der Amnestie entgegenstehenden Ausschließungsgründe vorliegen und im Zeitraum bis zum Abschluß der Amnestie die allseitige Aufklärung der Straftat gewährleistet ist." Damit dürfte der Staatsratsvorsitzende, wie Bohnert (a.a.O. S. 172) näher ausführt, den auf rechtskräftig Verurteilte beschränkten Wirkungsbereich der vom Staatsrat beschlossenen Amnestie auf Ermittlungsverfahren und nicht rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren "erweitert" haben. Ob dies von der Ermächtigung unter Nr. 4 des Beschlusses des Staatsrates gedeckt ist, wofür allein die Erwähnung auch der Untersuchungshaft unter Nr. 3 des Beschlusses sprechen kann, mag hinstehen; denn die Nr. 3 der "Festlegungen" enthält am Ende die bedeutsame Einschränkung, daß "im Zeitraum bis zum Abschluß der Amnestie die allseitige Aufklärung der Straftat gewährleistet" sein muß. Der damit gemeinte Zeitraum war ersichtlich der in Nr. 3 des Beschlusses genannte, nämlich die Zeit bis zum 12. Dezember 1987. Was mit der Gewährleistung der allseitigen Aufklärung der Straftat gemeint war, erhellt aus Äußerungen des Generalstaatsanwalts der DDR Wendland (NJ 1987, 396, 397 und 1988, 63, 64), nämlich ein "offenes, rückhaltloses Geständnis des Täters". Die Amnestie erfaßte also (insoweit anders als der Beschluß vom 27. Oktober 1989, der sich auch auf "Straftaten" bezieht, die "erst später bekannt werden") allenfalls solche nach dem Recht der DDR strafbaren Handlungen, deretwegen es bis zum 12. Dezember 1987 zu einem Ermittlungsverfahren kam.
Der Beschluß vom 6. Dezember 1989 betrifft zwar außer rechtskräftig Verurteilten auch Personen, gegen die ein "Verdacht" besteht, die aber vor dem 6. Dezember 1989 noch nicht rechtskräftig verurteilt wurden. Sie "sind nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung zu amnestieren" (Nr. 3 des Beschlusses). Auch dies spricht für die Auslegung, daß nur Fälle erfaßt wurden, wegen derer im Zeitpunkt der Amnestie bereits ein Strafverfahren stattfand.
Schließlich sind im Beschluß vom 6. Oktober 1972 Mord und "Gewaltverbrechen", im Beschluß vom 24. September 1979 "besonders schwere Verbrechen, wie Mord" und "andere Gewaltverbrechen", im Beschluß vom 6. Dezember 1989 "vorsätzliche Tötungsdelikte" und im Beschluß vom 17. Juli 1987 sowie im Gesetz vom 28. September 1990 die Fälle des Mordes vom Wirkungsbereich der jeweiligen Amnestie ausgenommen.
Die Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.
1. Ob die Besetzungsrügen in zulässiger Weise erhoben sind, kann dahinstehen; denn sie sind jedenfalls unbegründet.
a) Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, das erkennende Gericht sei deshalb nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 338 Nr. 1 StPO), weil diesem nur zwei statt drei Berufsrichter (sowie zwei Schöffen) angehört haben. Die Besetzung des Gerichts entspricht jedoch der gesetzlichen Regelung, gegen deren Verfassungsmäßigkeit der Senat keine Bedenken hat.
aa) Der Jugendsenat des Bezirksgerichts Potsdam hatte in der Hauptverhandlung als erkennendes Gericht im ersten Rechtszug durch zwei Richter und zwei Schöffen zu entscheiden (Einigungsvertrag Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 mit Maßgabe Buchst. j Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a).
bb) Im Ausgangspunkt zutreffend ist der vergleichende Hinweis der Revision auf die mit drei Richtern und zwei Schöffen besetzte Jugendkammer (§ 33 Abs. 3 Satz 1 JGG a.F.; § 33 b Abs. 1 und 2 JGG i.d.F. des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993, BGBl I S. 50).
Indes verletzt die unterschiedliche Besetzung der genannten Spruchkörper nicht das Gebot des gesetzlichen Richters in Verbindung mit dem Gleichheitssatz.
Bei der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands fand der Gesetzgeber im Gebiet der DDR Richter, die im Dienst verbleiben würden, oder Personen, die für eine Tätigkeit als Richter in Betracht kamen, nur in knapper Zahl vor. Die Gewinnung von Richtern aus den alten Bundesländern war nur in begrenztem Umfang möglich. Die Ausbildung des Nachwuchses bedarf einiger Zeit. Deshalb hat der Gesetzgeber für eine Übergangszeit Sonderregelungen als unvermeidlich erachtet (Erläuterungen zu den Anlagen zum Einigungsvertrag, BT-Drucks. 11/7817 S. 7 ff.). Er hat daher die in der DDR bestehende Gerichtsstruktur für eine Übergangszeit weitgehend beibehalten und dabei insbesondere als notwendig in Kauf genommen, daß die Besetzung der Strafsenate der Bezirksgerichte "aus Gründen des Richtermangels gegenüber der großen Strafkammer reduziert" ist (a.a.O. S. 12). Die damit verbundene und von der Revision hervorgehobene gewisse Verschiebung der Gewichte zwischen den Berufsrichtern einerseits und den Schöffen andererseits wird durch das in weitem Umfang geltende Erfordernis der Zweidrittelmehrheit bei Abstimmungen (§ 263 StPO) relativiert. Die Gesamtregelung ist danach durch sachliche Gründe gerechtfertigt.
Für die im Zuge der Einigung Deutschlands zu treffenden Regelungen insbesondere der Gerichtsverfassung muß dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zugebilligt werden (vgl. BVerfG DtZ 1990, 276; NJW 1991, 1597; BVerfG 1. Kammer des Ersten Senats DtZ 1991, 408; BVerfG 2. Kammer des Zweiten Senats Beschluß vom 10. Mai 1992 - 2 BvR 528/92 -; BGH NStZ 1992, 502 und BGH Beschluß vom 25. Februar 1992 - 5 StR 41/92 - ). Nach diesem Maßstab ist die Einschätzung des Gesetzgebers, eine einheitliche Gerichtsverfassung für Deutschland lasse sich nur oder zumindest am besten unter Inkaufnahme zeitlich begrenzt geltenden partiell differierenden Bundesrechts des genannten Inhalts herstellen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
b) Auch mit den Schöffen Sch. und G. war der Jugendsenat - entgegen der Ansicht der Revision - nicht vorschriftswidrig besetzt.
Die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Heranziehung der Schöffen sind in den neuen Bundesländern erstmals auf diejenigen Schöffen anzuwenden, die nach den Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes gewählt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt bleiben die Vorschriften der DDR über die Heranziehung der Schöffen in Kraft (Einigungsvertrag Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Maßgabe p Absatz 2 i.V.m. Anlage II Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt I Nr. 8). Dies ist die gemäß § 37 Abs. 1, § 49 Richtergesetz der DDR vom 5. Juli 1990 (GBl I S. 637) erlassene Zweite Durchführungsbestimmung zum Richtergesetz - Ordnung zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter - (Ehrenrichterwahlordnung) vom 1. September 1990 (GBl I S. 1553).
aa) Jugendschöffen im Sinne des § 35 JGG waren - entgegen der Revisionsansicht - zur Mitwirkung an der tatgerichtlichen Entscheidung nicht berufen.
Die unter b) zitierten Vorschriften enthalten eine abschließende spezielle Regelung für die Heranziehung der Schöffen in dem erfaßten Rahmen. Soweit die Revision sich auf andere Vorschriften des Einigungsvertrages beruft und damit offenbar Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 3 meint, beziehen diese sich allein auf das sachliche Jugendstrafrecht (vgl. auch die dortige Maßgabe a, wonach u. a. § 117 JGG nicht anzuwenden ist).
bb) Der nach § 1 Ehrenrichterwahlordnung zu bildende Wahlausschuß hat nach § 2 Ehrenrichterwahlordnung "insbesondere" eine Reihe benannter "Aufgaben zu erfüllen", darunter diejenige, "die Parteien und politischen Vereinigungen zum Einreichen von Wahlvorschlägen aufzufordern". Der Landeswahlausschuß zur Wahl der ehrenamtlichen Richter für die Bezirksgerichte Cottbus, Frankfurt/Oder und Potsdam hat in seiner konstituierenden Sitzung, wie im Ergebnisprotokoll vom 26. März 1991 ausgewiesen, u. a. folgende "Entscheidung" getroffen: "Vom Landtag sollen nur die im Landtag vertretenen Parteien aufgefordert werden, Personen für die Wahl als ehrenamtliche Richter zu benennen. Die anderen Varianten (alle zur Landtagswahl angetretenen Parteien oder alle im Land existierenden Parteien und politischen organisationen zur Aufstellung von Kandidaten aufzufordern) werden als nicht machbar - insbesondere wegen des hohen Aufwandes der Feststellungen, wer davon überhaupt noch im Land existiert - verworfen." Sollte der Wahlausschuß es dabei belassen haben, in der beschlossenen Weise den Landtag einzuschalten, so hat der Wahlausschuß seine genannte Aufgabe aus zweierlei Gründen nicht erfüllt. Ihm selbst oblag es, zum Einreichen von Wahlvorschlägen aufzufordern; eine Delegierung dieser Aufgabe an den Landtag ist nicht vorgesehen. Zum anderen ist der Kreis der aufgeforderten Gruppierungen zu eng. Allerdings hat der Landeswahlausschuß zutreffend erkannt, daß es Schwierigkeiten bereitet zu bestimmen, welche Gruppierungen "die Parteien und politischen Vereinigungen" im Sinne des § 2 Ehrenrichterwahlordnung sind. Indes erschöpft sich dieser Kreis jedenfalls nicht in den im Landtag vertretenen Parteien.
Die Auswirkungen dieser vom Wahlausschuß begangenen Fehler werden jedoch durch die Vorschriften des § 37 Abs. 1 Richtergesetz und des § 7 Abs. 1 Satz 1 Ehrenrichterwahlordnung relativiert. Danach werden die Kandidaten für die Wahl der ehrenamtlichen Richter von den im jeweiligen Bezirk vertretenen Parteien und politischen Vereinigungen vorgeschlagen, und zwar unabhängig davon, ob die vorschlagenden Gruppierungen durch den Wahlausschuß zum Einreichen von Wahlvorschlägen aufgefordert worden sind.
Die vom Wahlausschuß begangenen Fehler können die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts hier nicht in Frage stellen; denn sie liegen außerhalb des Bereichs, auf den die Gerichte unmittelbar einwirken können (BGHSt 22, 122, 124; 38, 47, 51). Willkür liegt nicht vor; denn die Verfahrensweise des Wahlausschusses war nicht derart fehlerhaft, daß sie als unverständlich, unhaltbar, auf sachfremden Erwägungen beruhend erschiene (vgl. BGHSt 33, 290, 293; 38, 47, 51).
cc) Soweit die Revision beanstandet, daß die Vorschrift des § 36 Abs. 4 (Satz 1) GVG nicht beachtet worden sei, übersieht sie, daß diese Vorschrift auf das hier in Rede stehende Wahlverfahren nicht anzuwenden war. Vielmehr richtete sich insoweit das Verfahren hier nach § 7 Abs. 1 Satz 2, § 9 Abs. 2, § 11, § 12 Abs. 2 Ehrenrichterwahlordnung. Danach hatte der Landtag die Anzahl der zu erbringenden Vorschläge festzulegen. Die Wahl im Landtag hatte "durch Abstimmung über die vom Wahlausschuß erstellte Vorschlagsliste" zu erfolgen.
dd) Daß auch zwei Personen gewählt wurden, die im Hinblick auf ihr Alter möglicherweise nicht hätten gewählt werden dürfen, macht die Wahl der übrigen ehrenamtlichen Richter nicht unwirksam (BGH NStZ 1991, 546).
ee) Die genannte Gesamtregelung ist verfassungsgemäß.
Dies gilt zunächst unter dem Gesichtspunkt, daß der Einigungsvertrag für die alsbald nach der Einigung Deutschlands erfolgenden Neuwahlen ehrenamtlicher Richter Recht der DDR fortgelten läßt. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, daß es schon aus organisatorischen Gründen unmöglich sein würde, die für Anfang des Jahres 1991 vorgesehenen Neuwahlen der ehrenamtlichen Richter etwa nach übergeleiteten Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland zeitgerecht durchzuführen (BT-Drucks. 11/7817 S. 13). Dies ist ein sachlicher Grund für die vom Gesetzgeber vorgenommene Differierung. Es gelten die unter a) bb) genannten Gesichtspunkte entsprechend. Dabei ist die hier in Rede stehende Problematik unterschiedlicher Regelungen der Schöffenwahl den Sondervorschriften des Einigungsvertrages über Schöffen im Land Berlin besonders verwandt (dazu BVerfG 2. Kammer des Zweiten Senats Beschluß vom 10. Mai 1992 - 2 BvR 528/92 -; BGH NStZ 1992, 502 und BGH Beschluß vom 25. Februar 1992 - 5 StR 41/92 -).
Zutreffend weist die Revision darauf hin, daß nach der Ehrenrichterwahlordnung den politischen Parteien bei der Gewinnung der ehrenamtlichen Richter ein größeres Gewicht zukommt als nach den entsprechenden Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes (vgl. dazu auch BGHSt 12, 197, 201; 38, 47, 50). Dieser Einfluß wird jedoch dadurch eingeschränkt, daß neben den Parteien auch andere politische Vereinigungen das Vorschlagsrecht haben (§ 37 Abs. 1 Richtergesetz; § 7 Satz 1 Ehrenrichterwahlordnung). Schon deshalb verstößt die intensive Beteiligung der politischen Parteien an der Gewinnung der ehrenamtlichen Richter nicht gegen Verfassungsrecht.
2. Die Überprüfung des Urteils auf die allgemein erhobene Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt. Der Erörterung bedarf nur folgendes.
a) Zu Recht hat das Bezirksgericht (UA S. 34 f.) angenommen, daß die Tat des Angeklagten rechtswidrig war.
Zur Tatzeit war der Schußwaffengebrauch der DDR-Grenzsoldaten nicht durch ein Gesetz, sondern lediglich durch die am 1. Mai 1964 in Kraft getretene "Vorschrift über die Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR vom 8. Februar 1964 (DV- 30/10) geregelt. Dieses Regelungswerk war noch weniger als das Grenzgesetz der DDR vom 25. März 1982 (GBl I S. 197; vgl. dazu BGHSt 39, 1, 9 ff.; 39, 168; zum Gesamtzusammenhang BGHSt 39, 199 und BGH NStZ 1993, 488) geeignet, vorsätzliches tödliches Schießen auf Flüchtlinge an den innerdeutschen Grenzen zu rechtfertigen. Abgesehen davon war die Tat des Angeklagten von den "Handlungserlaubnissen" der DV-30/10 nicht gedeckt, verstieß sie vielmehr sogar gegen das Schießverbot des Regelungswerkes. Dort war in Abschnitt IX "der Gebrauch der Schußwaffe" geregelt. Unter Nr. 114 bis 116 war in umfangreichen Einzelregelungen vorgesehen, in welchen Fällen von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden durfte. Soweit es den vorliegenden Zusammenhang betrifft, war darin der Schußwaffengebrauch nur in den Fällen gestattet, in denen er zur präventiven Verhinderung eines Grenzübertritts erforderlich war. Nr. 117 der DV-30/10 lautete: "(1) Der Gebrauch der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Er ist nur dann zulässig, wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos blieben oder dann, wenn es auf Grund der Lage nicht möglich ist, andere Maßnahmen zu treffen. (2) Von der Schußwaffe darf insbesondere nicht oder nicht mehr Gebrauch gemacht werden, wenn ... b) die Umstände, die den Gebrauch der Schußwaffe rechtfertigen, nicht oder nicht mehr vorliegen (z. B. wenn kein unmittelbar drohender Angriff vorliegt oder dieser mit anderen Mitteln abgewehrt werden kann, wenn der Widerstand inzwischen gebrochen ist usw.)."
Der Fluchtversuch war endgültig gescheitert. Die Flüchtlinge hatten sich ergeben, befanden sich im Graben und wurden durch die auf sie gerichteten Maschinenpistolen der Grenzsoldaten in Schach gehalten. Ein Fluchtversuch, der aus der Sicht des Angeklagten etwa hätte verhindert werden müssen, lag "nicht mehr" (vgl. Nr. 117 Abs. 2 Buchst. b DV-30/10) vor. Auf die insbesondere in dem Senatsurteil BGHSt 39, 1 erörterten Rechtfertigungs- und Rückwirkungsprobleme kommt es deshalb hier nicht an.
b) Rechtsfehlerfrei hat das Bezirksgericht (UA S. 24 ff., 35) ausgeschlossen, daß der Angeklagte irrtümlich Umstände angenommen hat, die seine Schüsse gerechtfertigt hätten, oder die Verbotenheit seines Tuns verkannt hat.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
1. Zu Recht beanstandet die Staatsanwaltschaft, daß das Bezirksgericht den Angeklagten nicht wegen Mordes verurteilt hat. Der Angeklagte hat sein Opfer heimtückisch (im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB, des § 211 Abs. 2 StGB in der zur Tatzeit in der DDR geltenden Fassung und des § 112 Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR von 1968, Nachweise oben II. 1. a) getötet.
Nach ständiger Rechtsprechung handelt heimtückisch, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewußt zur Tötung ausnutzt. Der in diesem Mordmerkmal zum Ausdruck kommende höhere Unrechtsgehalt des Täterverhaltens liegt darin, daß der Mörder sein Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren (BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2 m.w.N.).
Arglos ist, wer sich keiner Feindseligkeit des Täters versieht (BGHSt 27, 322, 324). Allerdings hat das Bezirksgericht zu den vom Opfer gehegten Vorstellungen keine ausdrücklichen Feststellungen getroffen. Indes ergibt sich aus dem Verhalten K.s ohne weiteres, daß er keinen Angriff des Angeklagten erwartete. Nur so ist zu erklären, daß K. sich aus der Deckung, die ihm der Graben bot, erhob, um den Grenzposten entgegenzugehen.
Diese Arglosigkeit wird nicht durch das generelle Mißtrauen ausgeschlossen, das K. "rollenbedingt" als Flüchtling gegen den Angeklagten als Angehörigen der Grenztruppen der DDR gehegt haben mag. Denn es kommt insoweit nicht auf ein allgemein begründetes Mißtrauen, sondern allein darauf an, ob das Opfer im Tatzeitpunkt mit Feindseligkeiten des Täters rechnet. Deshalb ist insbesondere anerkannt, daß auch Zivil- oder Kriegsgefangene - trotz ihres naheliegenden allgemeinen Mißtrauens - arglos gegenüber ihren Bewachern sein können (BGHSt 2, 251, 254; 6, 120; Jähnke in LK 10. Aufl. § 211 Rdn. 44 m.w.N.; vgl. auch Geilen, Gedächtnisschrift für Horst Schröder, 1978, S. 235, 250).
Auch das vorangegangene Geschehen steht der Arglosigkeit K.s dem Angeklagten gegenüber nicht entgegen. Allerdings hatten die Grenzposten W. und B. Sperrfeuer schräg hinter die beiden Flüchtlinge abgegeben, um ihnen den Weg zum Grenzzaun abzuschneiden. Nachdem die beiden Flüchtlinge in den Graben gelangt waren, hatten W. und B. "zur Mahnung" mehrere Dauerfeuersalven in den Graben abgegeben und dabei Kr. schwer verletzt. Diese Vorgänge waren jedoch in der Weise abgeschlossen, daß W. und B. mit ihren Maschinenpistolen die beiden im Graben befindlichen Flüchtlinge in Schach hielten. Zudem war einige Zeit vergangen, bis der Angeklagte zum Tatort gekommen war und informiert wurde. Wenn der Angeklagte nunmehr den Flüchtlingen befahl, aus dem Graben zu kommen, so hatten sie keinen Anlaß zu der Annahme, der Angeklagte werde tätlich gegen sie vorgehen, gar auf sie schießen. Hierdurch unterscheidet der vorliegende Sachverhalt sich von denjenigen Fällen, in denen eine offene feindselige Auseinandersetzung andauert und daher Arglosigkeit des Opfers ausgeschlossen ist (so z.B. BGHSt 19, 321, 322; 27, 322, 324; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 17). Vielmehr entspricht das vorliegende Geschehen insofern eher dem Fall der beendeten offenen feindseligen Auseinandersetzung (dazu BGHSt 28, 210, 211). Nach der Beruhigung der Lage, dem weiteren Zeitablauf und dem Hinzukommen des Angeklagten, das nach der Gesamtsituation auch von K. nur als das Erscheinen eines vorgesetzten Grenzsoldaten verstanden werden konnte, hatte K. allen Anlaß zu der Annahme, er werde nunmehr nach der elementaren Regel behandelt werden, die praktisch allen nationalen Polizeirechts-, Grenzrechts- und Strafverfahrensordnungen sowie selbst dem Kriegsvölkerrecht gemein ist, nämlich als Unbewaffneter, der sich ergeben hat, in Gefangenschaft geführt zu werden, ohne daß ihm körperliches Leid geschehen würde.
Infolge dieser Arglosigkeit war K. wehrlos; denn er gab die sein Leben schützende Deckung des Grabens auf. Hierdurch unterscheidet sich das vorliegende Geschehen von denjenigen Fällen, in denen lediglich die - nicht auf Arglosigkeit beruhende - Wehrlosigkeit eines Gefangenen ausgenutzt wird (vgl. dazu BGH, Urteil vom 20. September 1966 - 5 StR 321/66 - und Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. § 211 Rdn. 6 a).
Dieser Situation war sich der Angeklagte, der von W. kurz über die vorangegangenen Geschehnisse informiert worden war, daraufhin das Kommando übernahm (UA S. 17) und die Lage beherrschte (UA S. 33 f.), trotz Ermüdung und Aufgeregtheit (UA S. 32) bewußt (vgl. auch UA S. 35, 36, 39). Diese ihm bekannte auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit seines Opfers hat der Angeklagte ausgenutzt. Bei einer derart wie hier offen zutage liegenden, dem Täter bewußten Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers versteht es sich von selbst, daß der Täter diese Situation ausnutzt, wenn er das Opfer tötet (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 1).
2. Der Senat ändert nach § 354 Abs. 1 StPO den Schuldspruch dahin, daß der Angeklagte des Mordes schuldig ist.
§ 265 Abs. 1 StPO steht dieser Schuldspruchänderung nicht entgegen. Bereits durch die Anklage wurde dem Angeklagten ein Mord nach § 112 StGB-DDR, § 211 StGB vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Schlußantrag Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes beantragt. Allerdings wurde in der Anklageschrift ein bestimmtes Mordmerkmal, insbesondere die Heimtücke, nicht besonders benannt. Gleichwohl kann der Senat (ähnlich wie im Senatsurteil vom 7. September 1993 -5 StR 455/93 - S. 10) ausschließen, daß der Angeklagte sich in tatsächlicher Hinsicht anders als geschehen gegen den Vorwurf heimtückischen Mordes hätte verteidigen können. Denn nach dem angefochtenen Urteil (UA S. 24 ff.) hat der Angeklagte in der tatgerichtlichen Hauptverhandlung die Schüsse auf K. zugegeben, jedoch diejenigen Umstände bestritten, die den heimtückischen Charakter seiner Tat begründen. Den letztgenannten Teil der Einlassung des Angeklagten hat das Bezirksgericht aufgrund der Beweisaufnahme für widerlegt erachtet.
Die Strafe muß danach neu bemessen werden. Dabei ist nach dem angefochtenen Urteil davon auszugehen, daß ein Fall verminderter Schuld nicht vorliegt.
1. Zwischen Tatbegehung und Aburteilung bestanden nacheinander vier verschiedene Strafdrohungen. Von diesen ist das mildeste Gesetz anzuwenden (§ 2 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 Buchst. b). Hierbei ist auch ein "Zwischengesetz", also ein Gesetz, das zur Tatzeit noch nicht galt und bei der Entscheidung nicht mehr gilt, einzubeziehen (Gribbohm in LK 11. Aufl. § 2 Rdn. 21 m.w.N.). Neben den ab der Tatzeit geltenden Vorschriften der DDR, die Zuchthaus oder gar Todesstrafe vorsahen (§ 211 StGB in der im Jahre 1965 in der DDR geltenden Fassung; § 112 StGB-DDR von 1968; Nachweise oben II. 1. a) und § 211 StGB mit der zwingenden Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe ist die mildeste Strafdrohung für Mord diejenige, die nach § 112 StGB- DDR seit dem 4. Strafrechtsänderungsgesetz der DDR vom 18. Dezember 1987 (GBl I S. 301) bis zur Einigung Deutschlands galt, nämlich Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder "lebenslängliche" Freiheitsstrafe. Dem letztgenannten Rahmen ist die zu verhängende Strafe zu entnehmen.
2. Der Senat setzt diese Strafe in Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalbundesanwalts - und mit dem Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft - nach § 354 Abs. 1 StPO auf die gesetzlich niedrigste Strafe von zehn Jahren Freiheitsstrafe fest.
An diesem Ergebnis würde sich wegen der Besonderheiten des Falles auch dann nichts ändern, wenn neben Heimtücke das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe vorläge.
Externe Fundstellen: BGHSt 39, 353; NJW 1994, 267; NStZ 1994, 125
Bearbeiter: Rocco Beck