HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 866
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 117/14, Urteil v. 11.06.2014, HRRS 2014 Nr. 866
Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 12. Dezember 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels sowie die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Mit ihrer Revision beanstandet die Nebenklägerin, dass eine Verurteilung wegen versuchten Mordes unterblieben ist. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision hat Erfolg.
1. Der heute 56-jährige Angeklagte und die später geschädigte Zeugin M. bezogen im Jahr 2008 eine gemeinsame Wohnung. Nachdem der Angeklagte wiederholt Kontakte zu anderen Frauen unterhalten und zuletzt ein Wochenende mit seiner Arbeitskollegin S. verbracht hatte, warf ihn die Zeugin M. im Juli 2012 aus der Wohnung. Nach wenigen Tagen nahm sie ihn jedoch wieder auf, allerdings mit der Maßgabe, sich schnellstmöglichst eine andere Unterkunft zu suchen. Da der Angeklagte keine entsprechenden Bemühungen entfaltete, verwies sie ihn im August 2012 endgültig aus der ehemals gemeinsamen Wohnung. Gleichwohl unterhielten beide fortan ein freundschaftliches Verhältnis. Der Angeklagte nutzte weiterhin die zur Wohnung der Zeugin gehörende Garage, und beide tranken mehrmals die Woche gemeinsam Kaffee.
Am Tattag, den 7. Februar 2013, war der Angeklagte dazu entschlossen, sich umzubringen. Schon Tage zuvor hatte er Vorbereitungen wegen der Auflösung seines Haushalts getroffen. Nach Beendigung seiner Arbeit als Paketzusteller fuhr er zur Wohnung der Zeugin M. und hielt sich dort zunächst in der Garage auf. Er trug noch immer seine Arbeitskleidung, in der sich seine üblichen Arbeitsutensilien, u.a. ein Paketscanner und ein Cuttermesser, befanden. Gegen 17.00 Uhr erschien die Geschädigte. Beide gingen ins Haus, tranken im Wohnzimmer gemeinsam einen Kaffee und unterhielten sich über alltägliche Dinge. Schließlich bat die Zeugin den Angeklagten zu gehen, weil sie sich hinlegen wollte. Der Angeklagte verließ daraufhin das Wohnzimmer, und die Geschädigte begleitete ihn - hinter ihm hergehend - zur Tür. Einer von beiden betätigte beim Betreten des Flurs den Lichtschalter, der jedoch regelmäßig nur verzögert die Deckenbeleuchtung im Flur auslöste. Als der Angeklagte etwa die Mitte des Flurs erreicht hatte, der zu diesem Zeitpunkt nur durch das aus dem Wohnzimmer einfallende Licht beleuchtet war, zog er, einem spontanen Entschluss folgend, hervorgerufen durch den erneuten Verweis aus der ehemals gemeinsamen Wohnung, für die Geschädigte nicht sichtbar, den Paketscanner aus seiner Arbeitsweste, drehte sich um und schlug ihr damit wortlos auf den Kopf. Die Geschädigte wurde von dem plötzlichen Angriff überrascht und konnte zunächst nicht abwehrend reagieren. Nach weiteren Schlägen auf den Kopf ging sie zu Boden. Der Angeklagte kniete sich auf die Geschädigte, würgte sie und drückte ihr mit einem Knie auf die Kehle. Anschließend schnitt er ihr mit dem Cuttermesser mehrmals in den Hals sowie in den Kopf. Es gelang der Geschädigten indes, den Angeklagten wegzustoßen und in das Wohnzimmer zu flüchten. Der Angeklagte folgte ihr, setzte sich erneut auf sie und schlug mit dem Scanner solange auf die Geschädigte ein, bis diese das Bewusstsein verlor.
Der Angeklagte verließ die Wohnung um 18.15 Uhr und schrieb in der Folgezeit per E-Mail sowohl an seine Arbeitskollegin S. wie an seine Chefin jeweils einen Abschiedsbrief. Anschließend traf er sich mit der Zeugin S. Er händigte ihre einige seiner Arbeitsutensilien aus und fuhr anschließend gegen 19.50 Uhr in suizidaler Absicht gegen einen Brückenpfeiler. Er überlebte schwer verletzt.
Die Geschädigte erlitt lebensgefährliche Verletzungen, musste mehrfach operiert werden und befand sich rund ein halbes Jahr lang in stationärer Behandlung. Sie leidet bis heute an Depressionen und Angstzuständen sowie an ständigen Kopfschmerzen, einem Druckgefühl im Kopf sowie einer linksseitigen Zungenlähmung verbunden mit Sprach- und Essstörungen. Zwei ihrer Finger sind taub und ihr rechter Arm ist nur eingeschränkt funktionsfähig. Die Geschädigte ist nur drei Stunden täglich körperlich belastbar und bis auf weiteres arbeitsunfähig.
2. Das Landgericht hat die Tat als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet. Das Vorliegen der Voraussetzungen eines Heimtückemords hat es verneint. Zwar habe sich das Tatopfer keines Angriffs des Angeklagten versehen und sei infolgedessen arg- und wehrlos gewesen. Der Angeklagte habe die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers aber nicht bewusst zu dessen Tötung ausgenutzt.
1. Die Erwägungen des Landgerichts, mit denen es ein Ausnutzungsbewusstsein des Angeklagten verneint hat, sind nicht frei von Rechtsfehlern.
a) Schon die Ausgangsüberlegung des Landgerichts, es spreche gegen ein Ausnutzungsbewusstsein des Angeklagten, dass er die Geschädigte nicht in den Flur "gelockt" und damit ihre Arg- und Wehrlosigkeit nicht gezielt herbeigeführt habe, ist rechtsfehlerhaft. Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Täter die Arglosigkeit herbeiführt oder bestärkt (vgl. BGH, Urteil vom 10. März 2006 - 2 StR 561/05, NStZ 2006, 338, 339); worauf die Arglosigkeit des Angegriffenen beruht, ist ohne Belang (vgl. BGH, Urteil vom 18. Oktober 2007 - 3 StR 226/07, NStZ 2008, 93, 94).
b) Die Urteilsgründe werden aber auch den Anforderungen an eine lückenlose und widerspruchsfreie Beweiswürdigung nicht gerecht.
Soweit darauf abgestellt wird, der Angeklagte habe, weil er vorausgegangen sei, die Verhältnisse hinter sich - insbesondere den Abstand zur Geschädigten und deren Möglichkeiten abwehrend zu reagieren bzw. auszuweichen - gar nicht beobachten und in sein Bewusstsein aufnehmen können, hat das Landgericht erkennbar nicht bedacht, dass es sich um einen lediglich zwei Meter langen und einen Meter breiten Flur handelte, auf dessen Seite zudem eine Kommode stand. Auch war der Angeklagte zum Zeitpunkt des ersten Angriffs auf die Geschädigte erst in der Mitte des Flurs angelangt. Weshalb es für das Ausnutzungsbewusstsein des Angeklagten von Belang sein sollte, dass er - worauf das Landgericht ergänzend abgestellt hat - sich nicht sicher sein konnte, den ersten Angriff gegen die Geschädigte noch bei fehlender Deckenbeleuchtung im Flur führen zu können, erschließt sich nicht.
Auch die Spontanität des Tatentschlusses sowie die affektive Erregung des Angeklagten sprechen entgegen der Annahme des Landgerichts nicht ohne Weiteres gegen ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit der Geschädigten. Zwar kann die Spontanität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass dem Täter das Ausnutzungsbewusstsein fehlte (BGH Beschluss vom 29. November 2011 - 3 StR 326/11, NStZ 2012, 270, 271; Urteil vom 20. Januar 2005 - 4 StR 491/04, NStZ 2005, 691, 692). Maßgeblich sind aber die in der Tatsituation bestehenden tatsächlichen Auswirkungen des psychischen Zustands des Täters auf seine Erkenntnisfähigkeit.
Die insoweit erforderlichen Erwägungen sind dem angefochtenen Urteil in seinem Gesamtzusammenhang schon nicht widerspruchsfrei zu entnehmen. Während das Landgericht bei Prüfung der subjektiven Seite des Heimtückemords davon ausgegangen ist, der Angeklagte habe auf Grund seiner affektiven Erregung und seiner Persönlichkeit in der Zeit zwischen dem spontanen Tatentschluss und der Durchführung der Tat nicht in sein Bewusstsein aufnehmen können, dass er die Arg- und Wehrlosigkeit der Geschädigten ausnutzen werde, hat es bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten eine entsprechende Einengung des Bewusstseins und insbesondere Einengung seines Wahrnehmungsfeldes nicht feststellen können. Es ist vielmehr von einer für ein vergleichbares Gewaltdelikt typischen und im normalpsychologischen Bereich liegenden affektiven Erregung des Angeklagten ausgegangen.
Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu einer Verurteilung wegen Heimtückemords gekommen wäre. Dies führt zur Aufhebung des Urteils auch, soweit der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
2. Im Übrigen weist der Senat noch auf Folgendes hin:
Bedenklich sind, was entsprechend §§ 301, 401 Abs. 3 Satz 1 StPO zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen ist (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 1986 - 3 StR 377/86; Beschluss vom 21. Februar 2013 - 3 StR 496/12), die Ausführungen des Landgerichts zur Anwendung des § 21 StGB. Das Gericht hat eine erhebliche Minderung der Steuerungsfähigkeit und insbesondere das Vorliegen eines schuldrelevanten Affekts ausgeschlossen. Dabei hat es zwar berücksichtigt, dass sich bei dem Angeklagten durch die wiederholten "Rausschmisse" aus der ehemals gemeinsamen Wohnung gegen sich selbst gerichtete Aggressionen aufgebaut hatten und dass es im Tatzeitpunkt nach dem nunmehr dritten Wohnungsverweis zu einer Umkehr dieser aggressiven Impulse gekommen war. Nicht bedacht hat es aber, dass der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt gleichwohl dazu entschlossen war, auch sich selbst zu töten, was zudem den Schluss nahe legt, dass er sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 866
Externe Fundstellen: NStZ 2014, 639
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel