HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 665
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 238/23, Urteil v. 13.03.2024, HRRS 2024 Nr. 665
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 18. Januar 2023 im Strafausspruch in den Fällen II.1 bis II.16 der Urteilsgründe sowie im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung und mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in sieben Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in acht Fällen sowie wegen Herstellens kinderpornographischer Inhalte und wegen Besitzes kinderpornographischer Inhalte in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Inhalte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Darüber hinaus hat es eine Einziehungs- und eine Adhäsionsentscheidung getroffen.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Nach den Feststellungen des Landgerichts bewohnte der Angeklagte ab Weihnachten 2017 ein Zimmer in der Wohnung seiner Tochter B. Z., die mit ihren drei Kindern, darunter die am 4. August 2008 geborene Nebenklägerin K. Z., zusammenlebte. Er verstand sich auf Anhieb mit seiner Enkelin, die sich in der Folgezeit zu einem „Opa-Kind“ entwickelte. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Angeklagten, der auch in ihre Erziehung eingebunden war. Die Nebenklägerin litt seit ihrem vierten Lebensjahr an Epilepsie, wobei es dabei zu Anfällen in Form von Abwesenheits- und Dämmerungszuständen und Ganzkörperkrämpfen kam. Zu deren Vermeidung war sie auf die Einnahme von Medikamenten angewiesen und bedurfte insbesondere zur Nachtzeit der Überwachung. Vor diesem Hintergrund kam es dazu, dass K. regelmäßig, meistens an den Wochenenden, im Bett des Angeklagten übernachtete. Im Jahr 2019 wurde die Medikation der Nebenklägerin umgestellt. Infolgedessen verschlimmerten sich die epileptischen Anfälle erheblich. Die Nebenklägerin erlitt Abwesenheits- und Dämmerungszustände mehrfach pro Stunde und mehrere Ganzkörperanfälle pro Woche. Am 1. November 2019 zog die Tochter des Angeklagten mit ihren Kindern und dem Angeklagten um. Der Angeklagte bezog auch in der neuen Wohnung ein eigenes Zimmer.
Im Zeitraum vom 24. Mai 2018 bis 4. Juni 2021 kam es zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten gegenüber K. Z. .
Vor dem Umzug fertigte der Angeklagte mittels seines Tablets Fotos von ihr in sexuell aufreizenden Posen (Fall II.1 der Urteilsgründe). Er zwang die Nebenklägerin gewaltsam, an ihm Oralverkehr mit anschließender Ejakulation vorzunehmen (Fall II.2). Er hielt sie an den Handgelenken oder Händen fest, kniete sich zwischen ihre gespreizten Beine und übte Geschlechtsverkehr mit ihr aus, bei dem sie Schmerzen erlitt (Fall II.3). Bei einer Gelegenheit musste K. am Penis des Angeklagten bis zum Samenerguss manipulieren (Fall II.4). Zweimal leckte der Angeklagte an ihrer nackten Vulva, um sich sexuell zu erregen (Fälle II.5 und II.6).
Nach dem Umzug in die neue Wohnung drückte der Angeklagte bei („mindestens“) zwei Gelegenheiten den Kopf der Nebenklägerin in Richtung seines Geschlechtsteils, hielt sie fest, drang mit dem Penis in ihren Mund ein und vollzog den Oralverkehr bis zum Samenerguss (Fälle II.7 und II.8 der Urteilsgründe). An einem Tag entkleidete er die sich wehrende Nebenklägerin, drang mit dem Penis in ihren Scheidenvorhof ein und vollzog den Geschlechtsverkehr (Fall II.9). Am 27. Mai 2021 führte er gegen ihren geäußerten Willen den Vaginalverkehr durch, wobei sie Schmerzen verspürte und auch dies äußerte (Fall II.10). In einer weiteren Nacht führte der Angeklagte gegen ihren geäußerten Willen einen Schraubenzieher in die Scheide der Nebenklägerin ein, was sie schmerzte (Fall II.11). Bei zwei Gelegenheiten manipulierte die Nebenklägerin auf seine Aufforderung mit ihrer Hand an seinem Penis, bis er ejakulierte (Fälle II.12 und II.13). In einem Fall umwickelte K. auf Aufforderung des Angeklagten dessen Hoden mit einem Haargummi, worauf sie sich dunkelrot verfärbten und der Angeklagte stöhnte. Die Nebenklägerin sorgte sich, dass es dem Angeklagten schlecht gehe, und entfernte das Haargummi (Fall II.14). In zwei weiteren Fällen umklammerte der Angeklagte die Arme der Nebenklägerin mit seinen Beinen und ihre Füße mit seinen Händen, so dass sie sich nicht mehr fortbewegen konnte, und leckte an ihrer nackten Vulva (Fälle II.15 und II.16). Bei einer Durchsuchung am 4. Juni 2021 besaß der Angeklagte drei kinderpornographische und vier jugendpornographische Bilder auf zwei PCs, die er allein nutzte (Fall II.17 der Urteilsgründe).
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat im Umfang der Anfechtung Erfolg.
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist auf den Strafausspruch hinsichtlich der Fälle II.1 bis II.16 der Urteilsgründe sowie auf den Gesamtstrafenausspruch beschränkt. Dies ergibt eine Auslegung des Angriffsziels des Rechtsmittels unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV. Die Revisionsbegründung wendet sich mit Blick auf die vorgebrachten materiellrechtlichen Einwände allein gegen die Strafaussprüche zum Nachteil der Nebenklägerin (Fälle II.1 bis II.16 der Urteilsgründe) sowie gegen den Gesamtstrafenausspruch. Vom Rechtsmittelangriff ausgenommen sind daher die Adhäsionsentscheidung, der Einzelstrafausspruch im Fall II.17 der Urteilsgründe und die allein auf diesen Fall bezogene Einziehungsentscheidung. Die Beschränkung des Rechtsmittels ist auch wirksam. Der Senat kann ausschließen, dass die allein Fall II.17 der Urteilsgründe betreffende Einziehungsentscheidung Auswirkungen auf die Strafzumessung im Übrigen gehabt haben kann.
2. Die Überprüfung des Strafausspruchs deckt auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteile vom 17. Februar 2021 - 2 StR 294/20, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 47; und vom 24. Juni 2021 - 5 StR 545/20, NStZ-RR 2021, 346) durchgreifende Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten hinsichtlich der Einzelstrafen in den Fällen II.1 bis II.16 der Urteilsgründe auf.
a) Die Revision beanstandet zu Recht, die Strafzumessung in den Fällen II.2 bis II.16 der Urteilsgründe sei rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht sich nicht damit auseinandergesetzt habe, dass bzw. inwieweit der Angeklagte die Krankheit der Nebenklägerin und den daraus resultierenden Betreuungsumfang für die Begehung der Taten ausgenutzt habe. Es handelt sich um einen bestimmenden Strafzumessungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO, der in die Urteilsgründe keinen Eingang gefunden hat.
aa) Das Tatgericht ist nicht nur verfahrensrechtlich (§ 267 Abs. 3 Satz 1 und 2 StPO), sondern auch materiellrechtlich verpflichtet, in den Urteilsgründen die für die Strafzumessung bestimmenden Umstände darzulegen. Auswahl und Gewichtung der Strafzumessungsgesichtspunkte obliegen grundsätzlich dem Tatgericht. Es hat unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls zu entscheiden, welchen Umstand es als bestimmenden Strafzumessungsgrund ansieht (BGH, Urteile vom 16. April 2015 - 3 StR 638/14, NStZ-RR 2015, 240; und vom 24. Juni 2021 - 5 StR 545/20, juris Rn. 7; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 267 Rn. 24). Eine erschöpfende Aufzählung aller für die Strafzumessungsentscheidung relevanten Gesichtspunkte ist dagegen weder gesetzlich vorgeschrieben noch in der Praxis möglich (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 2. August 2012 - 3 StR 132/12, NStZ-RR 2012, 336, 337; und vom 14. März 2018 - 2 StR 416/18, NStZ 2019, 138, 139; Beschluss vom 9. September 2020 - 2 StR 281/20, juris Rn. 5). Hat das Tatgericht bei seiner Zumessungsentscheidung einen Gesichtspunkt, der nach den Gegebenheiten des Einzelfalls als bestimmender Strafzumessungsgrund in Betracht kommt, allerdings nicht erkennbar erwogen, ist die Strafzumessung in sachlich-rechtlicher Hinsicht rechtsfehlerhaft (BGH, Urteile vom 14. März 2018 - 2 StR 416/18, NStZ 2019, 138, 139; vom 4. April 2019 - 3 StR 31/19, juris Rn. 15; und vom 27. Februar 2020 - 4 StR 552/19, juris Rn. 10).
bb) Die von der Jugendschutzkammer festgestellte besondere krankheitsbedingte Betreuungsbedürftigkeit der Nebenklägerin stellte einen das Tatgeschehen zumindest auch prägenden Umstand dar, dessen Bedeutung erheblich über das vom Tatbestand des § 174 Abs. 1 StGB geforderte Schutzverhältnis hinausging. Dass die Strafkammer diesen Faktor bei ihren Zumessungserwägungen nicht erwähnt hat, lässt den Senat besorgen, dass sie ihm nicht das genügende Gewicht beigemessen hat.
Nach den Urteilsgründen bedurfte die Nebenklägerin insbesondere zur Nachtzeit der Überwachung durch eine weitere Person. Vor diesem Hintergrund sei es dazu gekommen, dass sie regelmäßig, meistens an den Wochenenden in dem Bett des Angeklagten übernachtet habe. Auch nach der Verschlechterung des Zustands der Nebenklägerin im Jahre 2019, der zur Notwendigkeit einer ständigen Überwachung geführt habe, sei der Angeklagte in die diesbezügliche Betreuung der Nebenklägerin eingebunden gewesen.
Danach hat der Angeklagte - zumindest auch - die krankheitsbedingte Betreuungsbedürftigkeit zur Tatbegehung in einer das Tatgeschehen prägenden Weise ausgenutzt, so dass das Landgericht in den Fällen II.2 bis II.16 der Urteilsgründe diese besonderen Umstände als wesentliche Strafzumessungsgründe hätte berücksichtigen müssen.
b) Die Revision rügt weiter zu Recht, das Landgericht habe in den Fällen II.1, II.4, II.12, II.13, II.15 und II.16 der Urteilsgründe rechtsfehlerhaft jeweils strafmildernd berücksichtigt, dass der Angeklagte „sich teilweise geständig eingelassen hat und zwar teilweise über die Anklagevorwürfe hinaus“. Diese Erwägung wird von den Urteilsfeststellungen in Bezug auf die Fälle II.1, II.4, II.12, II.13, II.15 und II.16 nicht getragen, aus denen sich ergibt, dass der Angeklagte lediglich in den Fällen II.7 und II.8 der Urteilsgründe über die Anklagevorwürfe hinaus weitere Taten eingestanden hat. Dieser Rechtsfehler führt tragend zur Aufhebung des Strafausspruchs auch im Fall II.1 der Urteilsgründe, weil der Senat nicht ausschließen kann, dass die Einzelstrafe ohne die fehlerhafte Berücksichtigung des Geständnisses höher ausgefallen wäre.
c) Die Aufhebung der Einzelstrafen in den Fällen II.1 bis II.16 der Urteilsgründe entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage, ohne dass es darauf ankommt, ob auch die fehlende Berücksichtigung der Tatfolgen für die Nebenklägerin einen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten bei der Gesamtstrafenbildung darstellt. Die Feststellungen sind von den der Strafzumessung in den Fällen II.1 bis II.16 der Urteilsgründe zugrundeliegenden Wertungsfehlern nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Durch sämtliche Taten verursachte Tatfolgen sind erst bei der Gesamtstrafenbildung zu berücksichtigen (BGH, Beschluss vom 11. April 2022 - 2 StR 94/22, BeckRS 2022, 22769). Das setzt voraus, dass sie nicht nur festgestellt, sondern auch beweiswürdigend unterlegt sind. Ob die im angefochtenen Urteil beschriebenen „Tatfolgen“ auf die Tatbegehung zurückzuführen sind, ist angesichts der oberflächlichen Bemerkungen in der Beweiswürdigung zum „Nachtatgeschehen“ und mit Blick darauf, dass bereits eine Medikamentenumstellung im Jahr 2019 zu einer deutlichen Verschlimmerung der epileptischen Anfälle und zu einer Unmöglichkeit der Beschulung führte, zweifelhaft.
b) Im Hinblick auf die unterbliebene Einbeziehung von Geldstrafen weist der Senat ergänzend zur Zuschrift des Generalbundesanwalts darauf hin, dass bei Anwendung des § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB die Zäsurwirkung nicht entfällt (vgl. BGH, Urteil vom 12. August 1998 - 3 StR 537/97, BGHSt 44, 179, 184; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 53, Rn. 7 mwN). Das Landgericht hätte also, sofern die Strafe aus der rechtskräftigen Vorverurteilung des Angeklagten durch den Strafbefehl des Amtsgerichts Siegburg vom 27. Mai 2020 am 18. Januar 2023 noch nicht vollständig vollstreckt war, zwei Gesamtstrafen bilden und dabei das Gesamtstrafenübel in den Blick nehmen und gegebenenfalls den Nachteil ausgleichen müssen, der durch die Zäsurwirkung bei Verhängung mehrerer Strafen entstehen kann (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2019 - 4 StR 421/19, NStZ-RR 2020, 28, 29). Dabei wird das neue Tatgericht in den Blick zu nehmen haben, dass jedenfalls die im Zeitraum vom 24. Mai 2018 bis zum 1. November 2019 begangenen Taten zu den Fällen II.1 bis II.6 der Urteilsgründe vor der Verurteilung des Angeklagten durch das Amtsgericht Siegburg am 27. Mai 2020 begangen wurden. Zudem müssen sich die Urteilsgründe zur Frage der möglichen Erledigung dieser zäsurbildenden Verurteilung zur Zeit des angefochtenen Urteils vom 18. Januar 2023 verhalten, um eine revisionsrechtliche Prüfung der Voraussetzungen des § 55 StGB zu ermöglichen.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 665
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede