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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1101

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 94/22, Beschluss v. 11.04.2022, HRRS 2022 Nr. 1101


BGH 2 StR 94/22 - Beschluss vom 11. April 2022 (LG Meiningen)

Sexueller Missbrauch von Kindern (Urteilsgründe: erforderliche Individualisierung der einzelnen Taten bei Aburteilung in Serie, keine übersteigerten Anforderungen, bestimmte Mindestzahl von Straftaten, hochgerechnete Gesamtzahl, Überzeugung von jeder einzelnen individuellen Straftat); Strafzumessung (Tatfolgen: festgestellte Tatfolgen bei einer Serie von Sexualdelikten, Berücksichtigung bei der Einzelstrafbemessung mit vollem Gewicht, Folge allein einzelner Taten, Folge aller abgeurteilten Straftaten, Gesamtstrafenbildung).

§ 176 StGB; § 46 StGB; § 54 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 16. September 2021 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) in den Fällen II. 1. bis 49. der Urteilsgründe,

b) im Ausspruch über die Einzelstrafe im Fall II. 50. der Urteilsgründe und

c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen, jeweils tateinheitlich begangen mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, in Tatmehrheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in 44 Fällen, jeweils tateinheitlich begangen mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte war seit dem Jahr 2010 der Lebensgefährte der Mutter der am 2. Februar 2008 geborenen Nebenklägerin; als mit Erziehungsaufgaben betrauter „Ersatz-Vater“ verbrachte er mit der Nebenklägerin viel Zeit, insbesondere wenn die Kindesmutter „außer Haus weilte“.

Im Zeitraum vom 21. Januar 2019 bis 31. Oktober 2020 streichelte der Angeklagte die Nebenklägerin „in 44 Fällen - teilweise oberhalb und teilweise unterhalb der Bekleidung - an der Brust und am Gesäß, um sich sexuell zu erregen“. In weiteren fünf Fällen streichelte der Angeklagte „ebenfalls Brust und Gesäß des Kindes und führte anschließend einen Finger in die Vagina der Geschädigten ein, um sich sexuell zu erregen“.

Im Fall II. 50. der Urteilsgründe führte der Angeklagte den Kopf der Nebenklägerin an seinen Penis, den das Kind sodann in den Mund nehmen musste.

Die Taten fanden entweder im Kinderzimmer der Geschädigten oder im Wohnzimmer der Wohnung des Angeklagten und „überwiegend zu Zeitpunkten statt, in denen sich die Mutter der Nebenklägerin in J. befand und das Kind der alleinigen Obhut des Angeklagten anvertraut hatte“.

2. Die Strafkammer hat den Sachverhalt in den Fällen II. 1. bis 44. der Urteilsgründe als sexuellen Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und in den Fällen II. 45. bis 50. der Urteilsgründe als schweren sexuellen Missbrauch von Kindern, jeweils tateinheitlich begangen mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, gewürdigt. Hinsichtlich weiterer 10 angeklagter Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen hat das Landgericht das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.

II.

1. Die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

2. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat hinsichtlich des Schuldspruchs im Fall II. 50. der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt. In den Fällen II. 1. bis 49. der Urteilsgründe fehlt es an der für eine Verurteilung erforderlichen hinreichenden Individualisierung.

a) Bei der Aburteilung in Serie begangener sexueller Missbrauchshandlungen dürfen zwar zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken an die Individualisierung der einzelnen Taten im Urteil keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden, da eine Konkretisierung der jeweiligen Straftaten nach genauer Tatzeit und exaktem Geschehensablauf oft nicht möglich ist. Das Tatgericht muss sich aber in objektiv nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass es in einem gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist. Entscheidend dabei ist nicht, dass eine - möglicherweise auf nicht völlig sicherer Grundlage hochgerechnete - Gesamtzahl festgestellt wird, sondern dass das Gericht von jeder einzelnen individuellen Straftat, die es aburteilt, überzeugt ist (BGH, Urteil vom 27. Januar 2022 - 3 StR 74/21, NStZ-RR 2022, 145; Beschluss vom 27. März 1996 - 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107, 109 f.).

Ist eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer das Tatgericht den Tatzeitraum eingrenzt und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Missbrauchstaten des Angeklagten in diesem Zeitraum gründet (vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 2022 - 3 StR 74/21, NStZ-RR 2022, 145 mwN).

b) Diesen Maßstäben hinreichender Individualisierung wird das Urteil in den Fällen II. 1. bis 49. der Urteilsgründe nicht gerecht.

aa) Das Landgericht ist von einem Tatzeitraum zwischen dem 21. Januar 2019 bis zum 31. Oktober 2020 ausgegangen. Dem Senat erschließen sich weder der Tatzeitraum von etwa einem Jahr und neun Monaten noch die Anzahl der - mit Ausnahme von Fall II. 50. der Urteilsgründe - nicht näher individualisierten Taten, die stets in gleicher Art und Weise (Streicheln von Brust und Gesäß ober- bzw. unterhalb der Kleidung; in den Fällen II. 45. bis 49. der Urteilsgründe zusätzlich mit vaginaler Penetration mittels Fingers) abliefen. Der vom Landgericht herangezogene zeitliche Anknüpfungspunkt, wonach die Taten „überwiegend“ zu Zeitpunkten stattfanden, in denen sich die Mutter der Nebenklägerin in J. befand, ist mangels näherer Angaben unzureichend.

bb) Die festgestellten Taten sind auch nicht im Übrigen hinreichend individualisiert. Das Landgericht hat zwar pauschal ausgeführt, der Angeklagte habe „die festgestellten Taten eingeräumt“, und seine Überzeugung zudem auf die verlesene Aussage der Nebenklägerin gegenüber der Ermittlungsrichterin gestützt.

Nach dieser Aussage sei es allerdings „in einigen Fällen“ auch zu entsprechenden Handlungen gekommen, als ihre Mutter zu Hause gewesen sei. Zudem habe der Angeklagte „immer wieder einen Finger in ihre Vagina eingeführt“. Vor dem Hintergrund, dass die Strafkammer aus der zugrunde gelegten Tatserie von 49 Fällen - ohne weitere Erläuterungen - indes genau fünf Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs herausgestellt hat, vermag auch die sehr knappe Beweiswürdigung die Taten nicht zureichend individualisieren.

c) Die Aufhebung des Schuldspruches in den Fällen II. 1. bis. 49. der Urteilsgründe zieht die Aufhebung der insoweit verhängten Einzelstrafen nach sich.

3. Das Urteil ist überdies auch im Einzelstrafausspruch im Fall II. 50. der Urteilsgründe aufzuheben. Die Strafkammer hat bei der Bemessung aller Einzelstrafen die „sich noch heute erheblich auswirkenden Tatfolgen“ der Nebenklägerin straferschwerend berücksichtigt. Dies lässt besorgen, dass der Strafkammer aus dem Blick geraten ist, dass festgestellte Tatfolgen einer Serie von Sexualdelikten nur dann bei der Einzelstrafbemessung mit ihrem vollen Gewicht berücksichtigt werden können, wenn sie unmittelbare Folge allein einzelner Taten sind; sind sie Folge aller abgeurteilten Straftaten, können sie strafzumessungsrechtlich nur einmal bei der Gesamtstrafenbildung berücksichtigt werden (vgl. Senat, Beschluss vom 18. Februar 2021 - 2 StR 7/21, juris Rn. 4 mwN). Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Einzelstrafe im Fall II. 50. der Urteilsgründe auf diesem Rechtsfehler beruht.

4. Nach allem ist dem Ausspruch über die Gesamtstrafe die Grundlage entzogen; diese unterliegt ebenfalls der Aufhebung.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1101

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede