HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 543
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 237/23, Urteil v. 13.03.2024, HRRS 2024 Nr. 543
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers M. wird das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 15. September 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel sowie die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die Revision des Angeklagten H. wird als unbegründet verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels sowie die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils der „gemeinschaftlichen“ Sachbeschädigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen. Den Angeklagten B. hat es zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dem Angeklagten H. hat es auferlegt, binnen sechs Monaten ab Rechtskraft des Urteils 200 gemeinnützige Arbeitsstunden nach Weisung der Jugendgerichtshilfe zu leisten.
Hiergegen richten sich die zuungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers M., die sich jeweils mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts im Wesentlichen gegen die unterbliebene Verurteilung der Angeklagten wegen besonders schweren Raubes wenden. Der Angeklagte H. erhebt ebenfalls die Sachrüge. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers M. haben Erfolg, die Revision des Angeklagten H. ist unbegründet.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Am 29. April 2018 fuhren die Nebenkläger M. und R. nach F., einem Dorf mit etwa 250 Einwohnern, in dem die beiden Angeklagten wohnten. Die Nebenkläger gingen davon aus, auf dem Anwesen der Familie des Angeklagten H. finde ein Treffen von sogenannten Neonazis statt, das der Vorbereitung einer für den 1. Mai 2018 in E. geplanten Demonstration diene. Die Nebenkläger, die sich als Vertreter der freien Presse verstehen, wollten dieses vermeintliche Treffen beobachten und fotografieren. Zu diesem Zweck führte M. eine Spiegelreflexkamera Canon EOS 700 mit. Beide positionierten sich mit ihrem Pkw in der Nähe des Anwesens der Familie des Angeklagten H. ; M. fotografierte in den darauffolgenden eineinhalb Stunden u.a. eine Person, die er als aktives Mitglied der NPD erkannte.
Als der Angeklagte H. das Grundstück verließ, bemerkte er durch die Lücke einer Hecke den geparkten Pkw der Nebenkläger. Anhand des Kennzeichens schloss er, „dass - wieder einmal - Mitglieder der linken Göttinger Szene das Anwesen beobachteten.“ Er erkannte den Nebenkläger R., den er 2016 auf einer NPD-Wahlveranstaltung in G. als Teilnehmer der „Göttinger Antifa“ zugeordnet hatte; zugleich vermutete er, von dem ihm unbekannten Nebenkläger M. fotografiert worden zu sein. Als R. bemerkte, dass der Angeklagte H. schnell auf das Fahrzeug zulief, fuhren die Nebenkläger mit dem Pkw davon; der Angeklagte H. sprang zur Seite, „um - aus seiner Sicht heraus - nicht vom Fahrzeug der Nebenkläger erfasst zu werden.“ H. lief zurück zum Grundstück, stieg in einen Pkw und nahm die Verfolgung auf; er begegnete dabei dem Angeklagten B., berichtete ihm von dem vorangegangenen Geschehen und forderte ihn auf, gemeinsam den Nebenklägern zu folgen; nunmehr steuerte B. das Fahrzeug.
Zwischenzeitlich waren die Nebenkläger mit ihrem Pkw zurück nach F. gefahren, von wo ihnen der Pkw der Angeklagten entgegenkam. Beide Fahrzeuge hielten in einer Entfernung von ca. 50 m voneinander an. B. öffnete die Fahrertür und nahm so den Nebenklägern die Möglichkeit, am Fahrzeug der Angeklagten ohne Weiteres vorbeizufahren. H. nahm einen etwa 50 cm langen metallenen Schraubenschlüssel an sich, vermummte sich mit einem Schal, stieg aus und rannte auf den Pkw der Nebenkläger zu. Gleichzeitig zog der Angeklagte B. eine Skimaske über sein Gesicht und entstieg, mit einem Baseballschläger bewaffnet, ebenfalls dem Fahrzeug.
Die Nebenkläger befuhren daraufhin die Straße rückwärts, wobei M. den ihnen folgenden Angeklagten H. fotografierte. Kurz vor dem Ortsausgang kollidierte der Pkw der Nebenkläger mit einem anderen Pkw; gleichwohl wendeten sie das Fahrzeug und verließen die Ortschaft mit hoher Geschwindigkeit. Die Angeklagten folgten ihnen mit ihrem Pkw und hatten alsbald zum Fahrzeug der Nebenkläger aufgeschlossen. Teilweise fuhren die Fahrzeuge ‚Stoßstange an Stoßstange‘. Verkehrsbedingt bog der Nebenkläger R. sodann auf das Gelände einer Schweineproduktionsanlage ab, das indes über keine rückwärtige Ausfahrt verfügte. Der Pkw der Angeklagten versperrte zudem etwa zwei Drittel der Einfahrt. Der Angeklagte H. war ausgestiegen und hatte sich vermummt und mit dem Schraubenschlüssel bewaffnet; ein kleines Messer und eine Spraydose Tränengas führte er in seiner Hosentasche bei sich.
Bei dem Versuch der Nebenkläger, am Pkw der Angeklagten vorbeizufahren, kam es zu einer Kollision. Das Fahrzeug der Nebenkläger rutschte nach links in den Straßengraben und ließ sich nicht weiterbewegen. Der Angeklagte H., der den auf ihn zufahrenden Pkw als „erneuten Versuch (wertete), ihn zu überfahren,“ lief wütend um den Pkw der Nebenkläger herum und zertrümmerte mit dem Schraubenschlüssel die Scheiben der Fahrer- und Beifahrerseite. Zeitgleich waren R. und der Angeklagte B. aus ihren Fahrzeugen gestiegen. B. hatte sich ebenfalls erneut vermummt und schlug mit dem Baseballschläger zunächst auf den Pkw der Nebenkläger ein, um sodann nach dem Nebenkläger R., der dem Angeklagten H. um das Fahrzeug herum gefolgt war, zu schlagen. R. brachte den Baseballschläger an sich, während sich der Angeklagte B. den vom Angeklagten H. geführten Schraubenschlüssel verschaffen konnte, mit dem er nach R. schlug und ihn dabei einmal am Kopf traf. R. erlitt eine 5 cm lange, bis auf den Knochen reichende, stark blutende Wunde an der Stirn sowie ein Schädeltrauma.
Währenddessen versuchte der Angeklagte H. mehrfach, die Beifahrertür des Pkws der Nebenkläger zu öffnen. M. gelang es indes immer wieder, die Tür zu schließen und zu verriegeln. H. stach daraufhin durch das eingeschlagene Fenster der Beifahrertür mit dem von ihm mitgeführten Messer mit einer Klingenlänge von 5 bis 10 cm „mehrfach mittelkräftig und in rascher Abfolge in das Wageninnere in Richtung des sich auf dem Beifahrersitz befindlichen Nebenklägers M. “, dem er schließlich eine 1,5 cm lange und 1 cm tiefe blutende Stichverletzung am rechten Oberschenkel zufügte.
H. und M. liefen sodann auf B. und R. zu; der Angeklagte H. sprühte Tränengas in Richtung der Geschädigten und traf dabei R. Anschließend liefen die Angeklagten zu ihrem Fahrzeug zurück und fuhren in Richtung F. davon. Eine sich anschließende Nachschau im Pkw der Nebenkläger war erfolglos; die Spiegelreflexkamera des Geschädigten M. war nicht auffindbar.
2. Das Landgericht hat dieses Tatgeschehen als „gemeinschaftliche“ Sachbeschädigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5 StGB bewertet; davon sei indes „mangels entsprechender Anklage“ der festgestellte Einsatz des Tränengases durch den Angeklagten H. nicht erfasst.
Auch an einer - tateinheitlichen - Verurteilung der Angeklagten wegen (besonders) schweren Raubes hat sich das Landgericht gehindert gesehen. Der Angeklagte H. hat bestritten, „etwas ‚gestohlen‘ zu haben“. Den Aussagen der Nebenkläger fehle die notwendige Konstanz, weil ihre Bekundungen in der Hauptverhandlung, nach denen der Angeklagte H. die Kamera des Nebenklägers M. aus dem Auto genommen habe, nicht mit den Angaben in der Erstbefragung durch die Polizeibeamtin Re., wonach einer der beiden Nebenkläger gesagt habe, dass sich eine Spiegelreflexkamera mit Objektiv im Pkw befinden müsse, in Übereinstimmung zu bringen seien. Die Geschädigten hätten sich zudem „in einem ganz wesentlichen Punkt“ widersprochen, nämlich im Hinblick auf die Frage, von welcher Fahrzeugseite aus der Angeklagte H. die Kamera an sich genommen habe. Schließlich habe auch „keiner der anderen Zeugen“ die Wegnahme beobachtet.
Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers M.
1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers M. haben Erfolg. Die Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft, soweit das Landgericht die Tat nicht auch als besonders schweren Raub gewertet hat.
a) Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Gelangt es nur zu einem Schuldspruch in Bezug auf einzelne der tateinheitlich angeklagten Delikte, weil es Zweifel nicht zu überwinden vermag, ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Ihm ist es insbesondere verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatgerichts durch seine eigene zu ersetzen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, wenn sie Lücken aufweist, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Ferner ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden. Dabei ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 28. Juni 2023 - 1 StR 421/22, juris Rn. 9 und vom 26. April 2023 - 5 StR 457/22, juris Rn. 7).
b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts, soweit sie sich mit dem Vorwurf des besonders schweren Raubes durch Wegnahme der Spiegelreflexkamera des Nebenklägers M. befasst, in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
aa) Es fehlt an einer geschlossenen Darstellung der Einlassungen der Angeklagten (dazu unter (1)), aber auch der Aussagen der beiden Nebenkläger (dazu unter (2)) und der übrigen Tatzeugen (dazu unter (3)). Dies ist hier durchgreifend rechtsfehlerhaft. Die Urteilsgründe gehen zwar an verschiedenen Stellen auf einzelne Aussageinhalte ein, vermitteln jedoch kein klares Bild davon, was die Beteiligten im Zusammenhang ausgesagt haben. Auf der Grundlage einer thematisch selektiven Wiedergabe einzelner, aus dem Gesamtzusammenhang der jeweiligen Aussage gerissener Angaben kann der Senat nicht prüfen, ob das Tatgericht die widersprechenden Bekundungen der Beteiligten in gebotener Weise auf Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität überprüft hat (vgl. BGH, Urteil vom 25. August 2022 - 3 StR 359/21, NJW 2023, 89, 90 mwN; vgl. zur Einlassung eines Angeklagten auch: BGH, Beschluss vom 17. August 2023 - 2 StR 215/23, juris Rn. 9).
(1) Die Urteilsgründe teilen zwar mit, dass der Angeklagte H. bestritten hat, etwas „gestohlen“ zu haben, es bleibt jedoch offen, welche Angaben der „weitgehend geständig(e)“ Angeklagte B. zu dem angeklagten Raubgeschehen gemacht hat. Damit sich der Beweiswert der von beiden Angeklagten (offenbar erstmals in der Hauptverhandlung) abgegebenen Einlassungen nachvollziehen lässt, hätte das Landgericht zudem mitteilen müssen, ob diese sich in freier Rede geäußert und Fragen beantwortet oder sich lediglich von ihren Verteidigern vorbereitete Erklärungen zu eigen gemacht haben (vgl. BGH, Urteil vom 28. Juni 2023 - 1 StR 421/22, juris Rn. 13).
(2) Auch die von den Nebenklägern im Laufe des Verfahrens gemachten Angaben werden in den Urteilsgründen nur selektiv dargestellt, sodass sich die Aussageanalyse der Jugendkammer revisionsgerichtlich nicht nachprüfen lässt.
(a) So stellen die Urteilsgründe maßgeblich auf die fehlende Aussagekonstanz ab, weil die Bekundungen beider Nebenkläger nicht mit ihren Angaben in der Erstbefragung am Tatort durch die Polizeibeamtin Re. in Übereinstimmung zu bringen seien. Welcher der beiden Nebenkläger der Zeugin Re. was gesagt hat, teilen die Urteilsgründe jedoch nicht mit. Ob entsprechende Äußerungen von dem Nebenkläger M., von dem - von der Wegnahmehandlung nicht unmittelbar betroffenen - Nebenkläger R. oder von beiden getätigt wurden, bleibt offen. Dies entzieht der vom Landgericht vorgenommenen Konstanzanalyse die Grundlage. Denn es erschließt sich nicht, warum es gegen die Glaubwürdigkeit beider Nebenkläger sprechen soll, sollte einer von ihnen bei der Erstbefragung durch die Polizei andere Angaben gemacht haben.
(b) Im Übrigen liegt es nahe, dass beide Nebenkläger sowohl im Ermittlungsverfahren als auch in der Hauptverhandlung mit den (vermeintlichen) Widersprüchen in ihren Aussagen konfrontiert worden sind. Wie sie sich hierzu verhalten haben, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen.
(3) Schließlich fehlt es auch an einer nachvollziehbaren Darstellung der Angaben der weiteren Tatzeugen. So heißt es in den Urteilsgründen, dass „keiner der anderen Zeugen“ die Wegnahme gesehen habe. Welche Wahrnehmungen die Zeugen Ri. und S., die sich zum Tatzeitpunkt in der Nähe des Tatorts aufhielten, genau bekundet haben und ob sie das Geschehen - auch während der von ihnen abgesetzten Notrufe - durchgängig im Blick hatten, bleibt unerörtert.
bb) Soweit das Landgericht die Aussagen der beiden Nebenkläger zueinander in Beziehung gesetzt hat, erweisen sich die Urteilsgründe ebenfalls als lückenhaft und unklar. Die Auffassung der Jugendkammer, die Aussagen der Nebenkläger hätten sich „in einem ganz wesentlichen Punkt“ widersprochen, nämlich im Hinblick auf die Frage, von welcher Fahrzeugseite aus der Angeklagte H. die Kamera an sich genommen hat, weist Rechtsfehler auf.
(1) Es hätte bereits näherer Erörterung bedurft, warum es sich hierbei um einen „wesentlichen Punkt“ handeln soll, zumal die Beteiligten während des dynamischen Geschehens ihre Positionen mehrmals wechselten. Jedenfalls liegt es nahe, dass sich der vermeintliche Widerspruch durch eine sorgfältige Inhaltsanalyse der beiden Aussagen aufgelöst hätte. Die Nebenkläger haben nämlich insofern übereinstimmend erklärt, gesehen zu haben, dass der Angeklagte H. einen Gegenstand aus dem Beifahrerfenster nahm. Die vom Landgericht betonte Abweichung besteht allein darin, dass der Nebenkläger R. diesen Gegenstand für die Spiegelreflexkamera hielt, während der Nebenkläger M. angegeben hat, dass es sich hierbei um eine Tasche mit Süßigkeiten handelte und der Angeklagte H. erst im Anschluss - nunmehr durch das eingeschlagene Fenster auf der Fahrerseite - auch die Kamera an sich nahm.
Wie die Revisionen zu Recht ausführen, drängt es sich auf, dass der Nebenkläger R. insoweit einer Verwechslung unterlag. Anders als der Geschädigte M. befand sich R. im fraglichen Zeitpunkt nämlich nicht im Fahrzeug und wurde zudem im Moment der Wegnahmehandlung von dem Angeklagten B. mit einem Schraubenschlüssel attackiert. Dass R. davon ausging, bei dem fraglichen Gegenstand handele es sich um die Kamera, erscheint im Übrigen auch deshalb naheliegend, weil er wusste, dass der auf dem Beifahrersitz sitzende M. eine solche Kamera bei sich trug. Hierzu passt die Aussage M. s, wonach er die Kamera erst in dem Moment vom Beifahrerin den Fahrerbereich legte, als der Angeklagte H. ihn mit dem Messer angriff.
(2) Das Landgericht verkennt zudem, dass ein Widerspruch zwischen zwei Zeugenaussagen nicht bedeuten muss, dass beide die Unwahrheit sagen. Es hätte zumindest näherer Erörterung bedurft, warum die Jugendkammer weder die Aussage des Nebenklägers M. noch die des Nebenklägers R. im Hinblick auf das Raubgeschehen für glaubhaft erachtet hat. Hierfür hätte sie zunächst jede der beiden Aussagen für sich genommen auf Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität prüfen müssen.
cc) Schließlich fehlt es auch an einer sorgfältigen Gesamtwürdigung sämtlicher be- und entlastender Indizien einschließlich eines möglichen Raubmotivs der Angeklagten. So wird in den Urteilsgründen zwar erwähnt, dass sich zumindest der Angeklagte H. durch den „Eingriff in sein Recht am eigenen Bild“ angegriffen gefühlt habe; die Jugendkammer hat sich jedoch nicht damit auseinandergesetzt, inwiefern sich hieraus ein Motiv für die gewaltsame Wegnahme der Kamera ergeben haben könnte. Gänzlich unerörtert bleibt die für die Gesamtwürdigung der Beweise zentrale Frage nach dem Verbleib der Kamera. Sollte das Landgericht davon ausgegangen sein, dass diese dem Nebenkläger M. gar nicht abhandengekommen war, wofür die spätere Aushändigung der SD-Karte sprechen könnte, hätte es darauf eingehen müssen, warum die unmittelbar nach der Tat erfolgte Nachschau im Pkw der Nebenkläger ergebnislos verlief.
2. Das Urteil kann insgesamt keinen Bestand haben. Der Schuldspruch kann schon im Hinblick darauf, dass im neuen Rechtsgang ein weiterer tateinheitlich verwirklichter Tatbestand hinzukommen könnte, isoliert nicht aufrechterhalten werden. Der Rechtsfehler zieht hier die Aufhebung der vom Landgericht insgesamt getroffenen Feststellungen nach sich, einschließlich derjenigen zu den Verletzungen (§ 353 Abs. 2 StPO).
3. Das neue Tatgericht wird sich im Hinblick auf den Schuldumfang der gefährlichen Körperverletzung eingehender als bislang geschehen mit dem bereits in der zugelassenen Anklage aufgeführten Reizgasangriff des Angeklagten H., der mit den sonstigen, in diesem Tatkomplex als einer Tat im prozessualen Sinn verübten Körperverletzungshandlungen eine natürliche Handlungseinheit bildet (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Mai 2021 - 6 StR 132/21, NStZ-RR 2021, 212), zu befassen haben, um seiner Kognitionspflicht gemäß § 264 StPO rechtsfehlerfrei zu genügen.
Ebenso wird das neue Tatgericht die mittäterschaftliche Zurechnung der festgestellten Verletzungshandlungen gemäß § 25 Abs. 2 StGB näher in den Blick zu nehmen haben. Voraussetzung der mittäterschaftlichen Zurechnung ist das Vorliegen eines gemeinsamen Tatentschlusses, auf dessen Grundlage jeder Mittäter einen objektiven Tatbeitrag leisten muss. Der gemeinsame Tatplan braucht nicht ausdrücklich geschlossen zu sein, vielmehr genügt eine konkludente Übereinkunft; diese kann auch - in Erweiterung des ursprünglichen Tatplans - im Rahmen arbeitsteiliger Tatausführung getroffen werden (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2020 - 4 StR 482/19, BGHSt 65, 42, 47; Beschluss vom 13. September 2017 - 2 StR 161/17, NStZ-RR 2018, 40).
Der Senat weist im Übrigen darauf hin, dass das nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB erforderliche einverständliche Zusammenwirken von Täter und Tatbeteiligtem bereits dann gegeben ist, wenn ein am Tatort anwesender Tatgenosse die Wirkung der Körperverletzungshandlung des Täters bewusst in einer Weise verstärkt, welche die Lage des Verletzten zu verschlechtern geeignet ist. Daran kann es indes fehlen, wenn sich mehrere Opfer jeweils nur einem Angreifer ausgesetzt sehen, ohne dass die Positionen ausgetauscht werden (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 2017 - 3 StR 93/17, NStZ-RR 2017, 339 mwN).
Revision des Angeklagten H.
1. Die Revision des Angeklagten H., der sich mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts ausdrücklich gegen den Schuldspruch wendet, hat auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens keinen sich zu seinem Nachteil auswirkenden Rechtsfehler ergeben.
Dies gilt insbesondere für die Beweiserwägungen, mit denen sich das Landgericht die Überzeugung verschafft hat, dass der Angeklagte dem Nebenkläger M. mit einem Messer eine Stichverletzung am Oberschenkel zufügte. Entgegen der Auffassung der Revision liegt hier eine „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellation nicht vor. Das Urteil stützt sich insoweit nämlich nicht allein auf die Aussage des Geschädigten, sondern auch auf weitere tatbezogene Beweismittel (vgl. auch BGH, Urteile vom 21. Januar 2004 - 1 StR 379/03, NStZ 2004, 635, 636 und vom 28. Mai 2003 - 2 StR 486/02, NStZ-RR 2003, 268, 269). So hat der Nebenkläger R. ausgesagt, er habe beobachten können, dass der Angeklagte H. mit dem Messer in den Beifahrerraum des Pkw gestochen habe. Zudem korrespondieren die Stichverletzung des Geschädigten M. und der hierzu passenden Beschädigung seiner Kleidung mit der von ihm bekundeten Verletzungshandlung des Angeklagten. Angesichts dieser objektiven Beweismittel wirkt es sich nicht zum Nachteil des Angeklagten aus, dass die Aussagen der beiden Nebenkläger - wie auch die Einlassungen der Angeklagten - in den Urteilsgründen nicht im Zusammenhang dargestellt werden. Erörterungsbedürftige Anhaltspunkte dafür, dass der Messerstich von dem Mitangeklagten B. oder gar einer dritten Person ausgeführt wurde, lassen sich den Urteilsgründen nicht entnehmen und werden auch von der Revision nicht aufgezeigt.
Auch im Ãœbrigen weist das Urteil keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf, so dass die Revision insgesamt zu verwerfen ist.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO; der Senat sieht keinen Anlass, von der Auferlegung der Kosten und Auslagen im Revisionsverfahren gemäß §§ 74, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG abzusehen.
Soweit der Angeklagte eine Abänderung des Ausspruchs über die Tragung der Kosten und Auslagen gegen die Hauptentscheidung begehrt, ist eine Entscheidung des Senats nicht veranlasst. Die - insoweit ausschließlich statthafte - sofortige Beschwerde (§ 464 Abs. 3 StPO; vgl. auch BGH, Beschluss vom 1. Februar 2011 - 3 StR 502/10, juris Rn. 3) hat der Verteidiger mit Erklärung vom 30. Januar 2023 zurückgenommen. Zu diesem Zeitpunkt ist der Senat noch nicht mit der Sache befasst gewesen, so dass das Landgericht für die Kostenentscheidung der Rücknahme des im Übrigen erst nach Ablauf der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO erklärten Rechtsmittels zuständig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Februar 2021 - StB 4/21; KK-StPO/Gieg, 9. Aufl., § 473 Rn. 2; MüKo-StPO/Maier, § 473 Rn. 34 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 543
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede