hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 737

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 457/22, Urteil v. 26.04.2023, HRRS 2023 Nr. 737


BGH 5 StR 457/22 - Urteil vom 26. April 2023 (LG Leipzig)

Anforderungen an die Beweiswürdigung beim freisprechenden Urteil (Lückenhaftigkeit; isolierte Betrachtung von Indizien, Gesamtwürdigung; Zweifelssatz); Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen.

§ 261 StPO; § 267 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Spricht das Tatgericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel nicht zu überwinden vermag, ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Insbesondere ist es ihm verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatgerichts durch seine eigene zu ersetzen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. In diesem Sinne rechtsfehlerhaft ist es u.a., Indizien lediglich einzeln zu betrachten und isoliert den Zweifelssatz auf sie anzuwenden. Sie sind vielmehr mit vollem Gewicht in die erforderliche Gesamtwürdigung einzustellen und in diesem Rahmen in ihrem Beweiswert zu würdigen. Erst anschließend ist Platz für die Anwendung des Zweifelssatzes, der keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel ist.

2. Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen eines Angeklagten sind auch im Falle eines Freispruchs erforderlich, wenn diese für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können und deshalb zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler hin notwendig sind. Das ist der Fall, wenn vom Tatgericht getroffene Feststellungen zum Tatgeschehen ohne solche zu den persönlichen Verhältnissen nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar und deshalb lückenhaft sind.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 3. Februar 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben Fällen und der Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in einem weiteren Fall aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die hiergegen mit Verfahrens- und der Sachrüge begründete Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

Dem Angeklagten liegt gemäß der von der Strafkammer unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage der Staatsanwaltschaft Leipzig zur Last, zwischen dem 26. März 2020 und dem 4. Juni 2020 unter Verwendung eines EncroChat-Handys unter dem Nutzernamen „u.“ gewerbsmäßig im Stadtgebiet L. an verschiedenen Tagen mit 1 kg Methamphetamin, 4 kg Marihuana „Haze“, 5 kg Marihuana „Haze“, 3,5 kg Metamphetamin, 1 kg Methamphetamin, 2 kg Methamphetamin, 35 kg Marihuana und 12 kg Methamphetamin Handel getrieben zu haben; zudem habe er den gesondert Verfolgten G. am 14. April 2020 beim Ankauf zum gewinnbringenden Verkauf bestimmter 4,8 kg Marihuana durch Vermittlungstätigkeiten unterstützt. Das Marihuana habe mindestens einen Wirkstoffgehalt von 10 % THC gehabt, das Methamphetamin einen solchen von mindestens 70 % Base.

Das Landgericht hat durch Auswertung von Chat-Nachrichten festgestellt, dass die Drogengeschäfte mit Ausnahme von Fall 6 wie angeklagt vom EncroChat-Nutzer „u.“ begangen worden sind. Es hat sich aber nicht die Überzeugung davon verschaffen können, dass es sich bei dem Angeklagten um diesen EncroChat-Nutzer handelte.

Der Angeklagte hat zu den Tatvorwürfen geschwiegen. Der bereits wegen Beteiligung an drei der angeklagten Taten rechtskräftig verurteilte EncroChat-Nutzer „n. “, der Zeuge A., erklärte in der Hauptverhandlung, den Angeklagten zum ersten Mal zu sehen, und berief sich hinsichtlich der Frage zur Identität des Nutzers „u.“ auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO. Er hatte den Nutzer „u.“ unter dem Namen „L.“ abgespeichert. Der mit „u.“ kommunizierende EncroChat-Nutzer „f. “, der Zeuge Ke., sagte in der Hauptverhandlung aus, bei „u.“ handele es sich jedenfalls nicht um den Angeklagten; im Übrigen berief sich dieser Zeuge ebenfalls auf ein Auskunftsverweigerungsrecht. Diese Angaben hat das Landgericht als den Angeklagten glaubhaft entlastend angesehen.

Weitere gegen den Angeklagten sprechende Indizien aus den ausgewerteten Chat-Nachrichten (Hinweis auf Immobiliengeschäfte; Abspeicherung von „u.“ unter dem Namen „P.“ als Hinweis auf eine bestimmte Haarfarbe; Verwendung des Vornamens des Angeklagten in zwei Chats; Eintausch eines PKW Mercedes AMG C 63 im Rahmen eines Drogengeschäfts, der nur „minimale Abweichungen“ zu einem vom Angeklagten im Tatzeitraum erworbenen Fahrzeug aufweist) hat das Landgericht als nicht hinreichend aussagekräftig angesehen und insbesondere auch eingestellt, dass eine Durchsuchung beim Angeklagten sowie Nachforschungen zu etwaigen eigenen Immobilen keine Hinweise auf einen finanziell aufwändigen Lebensstil oder vorhandenes Vermögen ergeben hätten.

II.

Die Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich als rechtsfehlerhaft, so dass der Freispruch keinen Bestand haben kann.

1. Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Spricht es einen Angeklagten frei, weil es Zweifel nicht zu überwinden vermag, ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Insbesondere ist es ihm verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatgerichts durch seine eigene zu ersetzen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, etwa hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie Lücken aufweist, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Ferner ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden. Weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst ist es geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 10. Mai 2017 - 5 StR 19/17 mwN).

Rechtsfehlerhaft ist es auch, Indizien lediglich einzeln zu betrachten und isoliert den Zweifelssatz auf sie anzuwenden. Sie sind vielmehr mit vollem Gewicht in die erforderliche Gesamtwürdigung einzustellen und in diesem Rahmen in ihrem Beweiswert zu würdigen. Erst anschließend ist Platz für die Anwendung des Zweifelssatzes, der keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel ist (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2022 - 5 StR 309/22 mwN).

Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen eines Angeklagten sind auch im Falle eines Freispruchs erforderlich, wenn diese für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können und deshalb zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler hin notwendig sind. Das ist der Fall, wenn vom Tatgericht getroffene Feststellungen zum Tatgeschehen ohne solche zu den persönlichen Verhältnissen nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar und deshalb lückenhaft sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 16. Januar 2023 - 5 StR 269/22 mwN).

2. Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

a) Die Würdigung der nach Auffassung der Strafkammer den Angeklagten entlastenden Angaben der Zeugen A. und Ke. ist unvollständig. Die Teilaussage eines Zeugen, dem - wie offensichtlich hier - ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zugebilligt wird, ist kritisch zu bewerten (vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 2002 - 5 StR 130/01, BGHSt 47, 220, 223 f.). Dies gilt nicht nur für belastende, sondern auch für entlastende Angaben, denn die Auskunftsverweigerung nach einer Teilaussage nimmt dem Gericht die Möglichkeit, die Angaben des Zeugen kritisch zu hinterfragen (vgl. zur beweisrechtlichen Würdigung des Teilschweigens eines Angeklagten auch BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2021 - 3 StR 380/21 mwN). Daran fehlt es.

b) Bei der Frage, ob dem Angeklagten der Nutzername „u.“ aufgrund eines Chats über werthaltige Immobilien zugeordnet werden könnte, hat die Strafkammer einen dafür sprechenden Hinweis (später mangels Kaufpreiszahlung gescheiterter Kaufvertrag über ein Grundstück im L. er Stadtteil S. in der O. straße) unter anderem mit dem Argument zurückgewiesen, sie könne „nicht ausschließen“, dass es angesichts der nicht unerheblichen Menge an Grundstücken an dieser Straße „ein Zufall sein könnte“, dass sich der Angeklagte darum bemüht habe, dort Eigentümer zu werden. Damit hat das Landgericht den Zweifelssatz zu Unrecht auf ein Einzelindiz angewendet.

c) Gleiches gilt für die Erörterung der Frage, ob die mehrfache Abspeicherung des EncroChat-Nutzers „u.“ unter dem Namen „P.“ als Indiz dafür spricht, dass der Angeklagte unter diesem Nutzernamen agiert hat. Denn die Strafkammer hat hierzu ausgeführt, dies lasse „nicht in hinreichendem Maße“ auf den Angeklagten schließen und es sei „keineswegs zwingend“, dass dies auf eine rote Haarfarbe des Nutzers hinweise. Es ist aber gerade Wesensmerkmal von Indizien, dass diese keine zwingenden Schlüsse zulassen, sondern ihren Beweiswert erst im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller dafür und dagegen sprechenden Gesichtspunkte gewinnen.

Die entscheidende Frage, ob der Angeklagte überhaupt ins Rötliche gehende Haare hat, beantwortet die Strafkammer zudem nicht klar. Sie stellt lediglich fest, dass er nicht wie „P.“ rote bis ins Orange gehende Haare habe, sondern seine Haarfarbe „eher als blond“ zu beschreiben sei. Ob die Haare des Angeklagten auch rötliche Anteile haben, erschließt sich daraus nicht.

d) Schließlich sind die Erwägungen, mit denen die Strafkammer der Verwendung des Namens „E.“ (Vorname des Angeklagten) in zwei Chats in Zusammenhang mit Drogengeschäften des Nutzers „u.“ einen Indizwert abspricht, lückenhaft. Die Argumentation der Strafkammer, dieses Indiz wiege nicht allzu stark, weil „E.“ - auch in anderer Schreibweise - kein ungewöhnlicher oder seltener Name sei und im Zusammenhang mit dem Zeugen Ke. ein „E.“ mit 100 g Marihuana festgestellt worden sei, lässt außen vor, dass die Schreibweise des Vornamens lediglich mit derjenigen des Angeklagten identisch ist. In ihrer indiziellen Bedeutung hat die Strafkammer diese auf den Angeklagten als Täter hinweisenden Umstände zudem nicht in eine Gesamtwürdigung eingestellt. Hinsichtlich einer Chatnachricht hat sie etwa ausgeführt, sie wolle „daher den möglichen Schluss, dass es sich bei dem E. … um den Angeklagten E. K. handeln könnte, nicht ziehen“. Auch damit hat sie den Indizcharakter des Chatinhalts verkannt.

e) Auch den ganz erheblich für die Identifizierung des Angeklagten als EncroChat-Nutzer „u.“ sprechenden Umstand, dass in einem von diesem betriebenen Rauschgiftgeschäft ein PKW als Tauschobjekt angeboten wurde, wie ihn der Angeklagte nur einen Tag zuvor erworben hatte, behandelt die Kammer rechtsfehlerhaft. Denn ihre Argumentation, eine Identifizierung des Angeklagten als „u.“ sei durch dieses Fahrzeug nicht möglich, weil ein Zeuge angegeben habe, der Angeklagte habe den PKW für ihn erworben, lässt unberücksichtigt, dass der Tausch auch im Einvernehmen mit diesem Zeugen angeboten worden sein kann. Zudem wird auch dieses gewichtige Indiz nicht im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung, sondern lediglich isoliert in seinem Beweiswert bewertet.

f) Schließlich waren vorliegend auch Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten geboten. Die bloße Mitteilung, er sei mehrfach, aber nicht einschlägig vorbestraft, reicht hierfür nicht aus. Schließlich können sich auch aus anderen biografischen Ereignissen, persönlichen Verhältnissen und nicht einschlägigen Vorstrafen Hinweise auf die Verstrickung in ein möglicherweise dem Drogenhandel nahestehendes Milieu ergeben.

g) Soweit das Landgericht sich schon keine Überzeugung davon verschaffen konnte, dass „u.“ in die Tat 6 eingebunden war, greift der Rechtsfehler auch insoweit durch, zumal da eine Beweiswürdigung dazu fehlt, wer der weitere unbekannte Tatbeteiligte in diesem Fall war.

3. Auf die Rügen mehrerer Verstöße gegen § 261 StPO durch Nichtberücksichtigung in die Hauptverhandlung eingeführter Chatinhalte (etwa mit dem Nachnamen des Angeklagten) und Bilder kommt es danach nicht mehr an.

4. Die Sache bedarf insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Die zur neuen Entscheidung berufene Strafkammer wird dabei auch die in den Verfahrensrügen benannten Beweisinhalte ausreichend zu berücksichtigen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 737

Bearbeiter: Christian Becker