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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 811

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, StB 28/22, Beschluss v. 13.07.2022, HRRS 2022 Nr. 811


BGH StB 28/22 - Beschluss vom 13. Juli 2022

Erfolgreiche Beschwerde gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls (dringender Tatverdacht; Schwerkriminalität; Verhältnismäßigkeit).

§ 112 StPO; § 116 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Beschwerde des Generalbundesanwalts wird der Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 17. Juni 2022 aufgehoben, soweit durch ihn der Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 23. März 2022 - 3 BGs 48/22 - außer Vollzug gesetzt worden ist.

Der Beschuldigte hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Der Beschuldigte ist am 4. April 2022 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 23. März 2022 festgenommen worden und befindet sich seither in Untersuchungshaft.

Gegenstand des Haftbefehls mit der Maßgabe des Invollzugsetzungsbeschlusses vom 4. April 2022 (3 BGs 194/22) ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe am 19. September 1991 in S. durch dieselbe Handlung aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und mit gemeingefährlichen Mitteln einen Menschen getötet, versucht, weitere 20 Menschen aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und mit einem gemeingefährlichen Mittel zu töten, sowie ein Gebäude, das der Wohnung von Menschen dient, in Brand gesetzt und dadurch wenigstens leichtfertig den Tod eines Menschen verursacht (§§ 211, 212 Abs. 1, 1 2 § 307 Abs. 1, § 306 Nr. 2 [in der zur Tatzeit geltenden Fassung], §§ 22, 23, 52 StGB, §§ 1, 105 JGG [in der zur Tatzeit geltenden Fassung]).

Auf den Haftprüfungsantrag des Beschuldigten vom 7. Juni 2022 hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs mit Beschluss vom 17. Juni 2022 (3 BGs 537/22) zwar den Haftbefehl aufrechterhalten, dessen Vollzug jedoch gemäß § 116 StPO unter Auflagen ausgesetzt und bestimmt, dass der Haftbefehl solange weiter zu vollstrecken ist, bis der Beschuldigte nachweist, seine Ausweispapiere bei dem Generalbundesanwalt und eine Kaution in Höhe von 7.500 € bei der Bundeskasse hinterlegt zu haben. Der Ermittlungsrichter hat dabei vor allem auf den Wunsch und die Bereitschaft des Beschuldigten sowie seiner Ehefrau abgestellt, in der früheren Familienwohnung wieder zusammenleben zu wollen. Darin sei ein maßgeblicher stabilisierender Faktor zu sehen, der geeignet sei, dem Fluchtanreiz hinreichend entgegenzuwirken.

Der Generalbundesanwalt hat gegen diesen Beschluss im Haftprüfungstermin vom 17. Juni 2022 Beschwerde eingelegt und beantragt, gemäß § 307 Abs. 2 StPO die aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels anzuordnen.

Mit Beschluss vom 17. Juni 2022 (3 BGs 540/22) hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs die Vollziehung der Außervollzugsetzung ausgesetzt, mit weiterem Beschluss vom 21. Juni 2022 (3 BGs 541/22) der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Das nach § 304 Abs. 5 StPO zulässige Rechtsmittel ist begründet. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls kommt nicht in Betracht, weil keine hinreichend begründete Erwartung besteht, dass der Zweck der Untersuchungshaft durch Auflagen erreicht werden kann.

Zwar greift der Generalbundesanwalt mit seinem Rechtsmittel, das auch zugunsten des Beschuldigten wirkt (§ 301 StPO), den Beschluss vom 17. Juni 2022 nur insoweit an, als der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden ist. Gleichwohl unterliegt der Haftbefehl der vollständigen Überprüfung durch das Beschwerdegericht. Denn die durch den Generalbundesanwalt erstrebte Wiederinvollzugsetzung ist nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft gegeben sind (BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2007 - StB 34/07, BGHR StPO § 116 Rechtsmittel 1 Rn. 2; OLG Stuttgart, Beschluss vom 29. Januar 1982 - 5 Ws 1/82, NJW 1982, 1296, 1297).

1. Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Am späten Abend des 18. September 1991 äußerte der schon damals als Anführer der örtlichen rechtsextremen Skinheadszene geltende Zeuge St. gegenüber dem Zeugen Sc. und dem Beschuldigten in einer Gaststätte in S. mit Blick insbesondere auf die seinerzeit fortdauernden rassistisch motivierten Übergriffe auf Unterkünfte für ausländische Vertragsarbeiter und Flüchtlinge in H. sinngemäß: „hier müsste auch sowas passieren“ oder „hier in S. müsste auch mal sowas brennen“. Sowohl Sc. als auch der Beschuldigte bekundeten Zustimmung hierzu. Alle drei einte ihre rechtsextremistische, ausländerfeindliche Einstellung.

Nachdem sich die Wege der Beteiligten nach Schließung der Gaststätte getrennt hatten, begab sich der Beschuldigte am 19. September 1991 gegen 3:30 Uhr zu einem Wohnheim für Asylbewerber in S., um dort einen Brand zu legen. In Ausführung seines Tatplans drang er in das Gebäude ein, in dem sich zur Tatzeit insgesamt 21 Personen aufhielten, goss im Treppenhaus des Erdgeschosses Benzin auf die dortige Holztreppe und entzündete diese. Er nahm dabei zumindest billigend in Kauf, dass Hausbewohner durch das Feuer getötet oder verletzt werden könnten. Ihm war bewusst, dass sich die im Wohnheim befindlichen Personen keines Angriffs auf ihr Leben versahen und daher in der Möglichkeit stark eingeschränkt waren, dem Brand entgegenzuwirken. Auch erkannte der Beschuldigte, dass er die Ausbreitung der Flammen nicht kontrollieren konnte und so eine unbestimmte Anzahl von Personen in Gefahr brachte. Er handelte bei der Tat aufgrund seiner rechtsextremistischen Überzeugung und hatte sein Anschlagsziel willkürlich aus Fremdenhass gewählt. Das Feuer erfasste mit großer Geschwindigkeit den gesamten Treppenbereich, wobei die Ausbreitung durch eine „Kaminwirkung“ des Treppenhauses begünstigt wurde. Die entstandene Feuerwalze traf im Flur des Dachgeschosses den ghanaischen Staatsangehörigen Y. Der Geschädigte erlitt Verbrennungen zweiten und dritten Grades am gesamten Körper sowie eine Rauchvergiftung. Diese Verletzungen verursachten ein multiples Organversagen, an dem er noch am selben Tag verstarb. Zwei weitere Personen des Hauses, die aus dem Fenster gesprungen waren, um dem Feuer zu entgehen, erlitten Knochenbrüche. Die übrigen Bewohner konnten sich unverletzt über die Feuerleiter sowie Fenster und Balkon in Sicherheit bringen.

2. Das Brandgeschehen vom 19. September 1991 und die Verletzungen der Opfer werden belegt durch die im Anschluss an die Tat durchgeführten Ermittlungen.

Der Beschuldigte hat in seiner verantwortlichen Vernehmung in Abrede gestellt, den Brand gelegt zu haben. Der dringende Tatverdacht in Bezug auf seine Täterschaft ergibt sich aus einer Gesamtschau der umfangreichen Ermittlungsergebnisse, insbesondere der Angaben einer Zeugin, der gegenüber der Beschuldigte die Tatbegehung mit den Worten „das war ich und sie haben mich nie erwischt“ anlässlich eines Grillfestes im Jahr 2007 zugegeben haben soll. Diese Aussage ist nach gegenwärtigem Ermittlungsstand glaubhaft. Zum einen hat die Zeugin im Rahmen mehrerer Vernehmungen widerspruchsfrei ausgesagt und ihre Erinnerungen ohne Belastungseifer geschildert. Zum anderen hat sie plausibel erklären können, weshalb sie ihr Wissen erst im Jahr 2019 den Ermittlungsbehörden offenbart hat. Die Umstände, die zur Anzeigeerstattung geführt haben, sind durch mehrere andere Zeugen bestätigt worden. Schließlich ist ein Falschbelastungsmotiv nicht ersichtlich. Soweit der Beschuldigte insofern mutmaßt, die Zeugin wolle sich an ihm rächen, weil er in einem Ermittlungsverfahren deren Cousin belastet habe, vermag dies nicht zu überzeugen. Denn zum einen hat die Zeugin glaubhaft bekundet, keinen engeren Kontakt zu ihrem Cousin zu pflegen, zum anderen ist dieser in dem genannten Ermittlungsverfahren freigesprochen worden, weil der Aussage des Beschuldigten kein Glauben geschenkt worden war. Eine weitergehende individuelle Glaubhaftigkeitsanalyse ist in diesem Stadium des Verfahrens zudem weder rechtlich geboten noch tatsächlich möglich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2018 - StB 43/18 u.a., juris Rn. 33; vom 22. Februar 2018 - StB 29/17 u.a., juris Rn. 28; vom 26. Juni 2019 - StB 10/19, NStZ-RR 2019, 282).

Die Angaben der Zeugen werden durch die weiteren Ermittlungsergebnisse gestützt. Hieraus ergibt sich, dass eine falsche Selbstbelastung des Beschuldigten, um gegenüber der Zeugin und/oder anderen Angehörigen der rechtsnationalen Szene besonderes Ansehen zu erlangen, unwahrscheinlich ist. So hat eine weitere Zeugin ein Treffen im Jahr 2003 in der Wohnung des Beschuldigten bekundet, anlässlich dessen er von St. als „Feuerteufel“ bezeichnet worden sei. Auf Nachfrage habe der Beschuldigte erklärt, er sei der Brandlegung beschuldigt worden; dies sei der einzige Anschlag, der nie aufgeklärt worden sei. Dabei habe er „hämisch verschlagen gegrinst“. Ein weiterer Zeuge hat von ähnlichen Reaktionen des Beschuldigten berichtet. Ihm gegenüber soll der Beschuldigte unter anderem gesagt haben, „der Nigger [sei] schön abgefackelt“. Überdies belegen die Aussagen mehrerer Szeneangehöriger, dass dort fremdenfeindliche Brandanschläge regelmäßig thematisiert und befürwortet wurden. Es habe dort die Überzeugung vorgeherrscht, der Beschuldigte sei für die verfahrensgegenständliche Tat verantwortlich.

Auch das aufgrund der bisherigen Ermittlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den Beschuldigten zutage gelegte Verhalten unmittelbar vor und nach dem Attentat spricht für dessen Täterschaft. So hat Sc. bekundet, in der Nacht vor dem Anschlag habe St. in Bezug auf rassistisch motivierte Übergriffe auf Unterkünfte für ausländische Vertragsarbeiter und Flüchtlinge in H. sinngemäß geäußert: „hier müsste auch sowas passieren“ oder „hier in S. müsste auch mal sowas brennen“. Diese Aussage habe allseitige Zustimmung gefunden. Der Beschuldigte sei am Tag nach der Tat, als er Sc. und St. über den Brandanschlag, von dem er im Radio gehört haben wollte, informierte, sehr aufgeregt, „anders als sonst“ gewesen. Dies habe ihn veranlasst, den Beschuldigten nach seiner Beteiligung an der Tat zu fragen, was dieser in Abrede gestellt habe.

Für eine Täterschaft des Beschuldigten spricht zudem, dass er in einem Maß an der Tat interessiert war, welches über das in der Szene Typische hinausging. So suchte er nach der Aussage des Zeugen Sc. den Brandort auf, unmittelbar nachdem er davon im Radio erfahren haben möchte. Weitere Ermittlungen des Generalbundesanwalts haben überdies ergeben, dass sich der Beschuldigte auch noch lange nach dem Tattag intensiv mit dem Anschlag beschäftigte. So konnte etwa in seinem Bettkasten anlässlich der Durchsuchung ein Zeitungsbericht aus dem Jahr 1996/1997 aufgefunden werden, der sich mit rechtsextremer Gewalt und der Tötung des Y. befasst.

Die rechtsnationale Gesinnung des Beschuldigten ergibt sich schließlich ebenfalls aus einer Gesamtschau der Ermittlungen.

Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die ausführlichen Begründungen in dem Haftbefehl und den diesbezüglichen Antrag des Generalbundesanwalts vom 3. März 2022 Bezug genommen.

3. In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit des Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord in 20 tateinheitlichen Fällen und mit Brandstiftung mit Todesfolge gemäß §§ 211, 212 Abs. 1, § 307 Abs. 1, § 306 Nr. 2 (in der zur Tatzeit geltenden Fassung), §§ 22, 23, 52 StGB, §§ 1, 105 JGG (in der zur Tatzeit geltenden Fassung) strafbar gemacht hat. Der Tatvorwurf erfüllt nach gegenwärtigem Erkenntnisstand die Mordmerkmale der Heimtücke, der Begehung aus niedrigen Beweggründen (vgl. zum Ausländerhass als niedriger Beweggrund etwa BGH, Beschluss vom 12. Januar 2000 - StB 15/99, NJW 2000, 1583, 1584; Urteil vom 9. Dezember 1998 - 5 StR 569/98, NStZ 1999, 129) und mit gemeingefährlichen Mitteln.

4. Die Strafgerichtsbarkeit des Bundes und damit die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs für den Erlass des Haftbefehls ergibt sich aus § 169 Abs. 1 StPO, § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a und b, § 142a Abs. 1 Satz 1 GVG. Der Beschuldigte ist unter anderem des Mordes (§§ 211, 212 StGB), mithin eines in § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GVG genannten Katalogdelikts dringend verdächtig. Die Tat ist ferner nach den Umständen geeignet, den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen (§ 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a StPO). Der spezifische staatsgefährdende Charakter folgt aus der der Ablehnung des freiheitlich demokratischen Staats- und Gesellschaftssystems der Bundesrepublik mit seiner Gewährleistung des Ausschlusses jeglicher Gewalt und Willkürherrschaft gegenüber Minderheiten entspringenden Tatmotivation. Die besondere Bedeutung der Tat im Sinne von § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG, welche die Zuständigkeit des Bundes und damit die Evokationsbefugnis des Generalbundesanwalts begründet, hat dieser zu Recht bejaht. Die nach dem derzeitigen Ermittlungsstand aus einer rechtsextremistischen, ausländerfeindlichen Gesinnung heraus begangene Tat war und ist geeignet, gerade bei ausländischen Mitbürgern und weiteren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Minderheiten ein Klima der Angst vor willkürlichen und gewaltsamen Angriffen zu schaffen; außerdem besteht die Gefahr einer Signalwirkung solcher Taten für mögliche Nachahmungstäter (vgl. BGH, Beschluss vom 22. August 2019 - StB 21/19, juris Rn. 40).

5. Es besteht zumindest der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3). Ob darüber hinaus auch die Haftgründe der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und/oder der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) vorliegen, kann dahinstehen.

a) Bei verfassungskonformer Auslegung ist der Haftgrund der Schwerkriminalität dann gegeben, wenn der Beschuldigte - wie hier - einer in § 112 Abs. 3 genannten Straftat - entgegen der Ansicht der Verteidigung ungeachtet des im Einzelfall zu erwartenden Strafmaßes - dringend verdächtig ist und Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne seine Festnahme die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte; ausreichend ist dabei schon die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunklungsgefahr (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1965 - 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342, 20 21 350 f.; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 22. September 2016 - AK 47/16, juris Rn. 26; vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.).

b) Nach diesem Maßstab ist der Haftgrund der Schwerkriminalität auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Beschuldigten im Haftprüfungsverfahren gegeben. Denn unter Würdigung sämtlicher fluchthemmender und -begünstigender Faktoren ist eine Fluchtgefahr nicht auszuschließen. Ob dies auch für eine etwaige Verdunkelungsgefahr gilt, kann offenbleiben.

Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung - selbst bei etwaiger Anwendung von Jugendstrafrecht und damit dem zur Tatzeit geltenden Strafrahmen von bis zu zehn Jahren Jugendstrafe (§§ 18, 105 JGG in der Fassung vom 11. Dezember 1974) - mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen; dies auch unter Berücksichtigung dessen, dass seit Begehung der Tat zwischenzeitlich über 30 Jahre verstrichen sind. Dem hiervon ausgehenden hohen Fluchtanreiz stehen keine so gefestigten und gewichtigen Bindungen gegenüber, als dass ausgeschlossen werden könnte, er werde sich der Aufklärung und alsbaldigen Ahndung der Tat - zumindest zeitweise - entziehen.

Nicht verkannt wird dabei seine enge Bindung zu seiner minderjährigen Tochter, mit der er zahlreiche Interessen teilt und viel Zeit verbringt. Aus dem durch den Beschuldigten im Haftprüfungstermin vorgelegten Zwischenzeugnis ergibt sich auch, dass er vor seiner Inhaftierung fast zwölf Jahre als festangestellter Mitarbeiter verantwortungsvoll eine Tätigkeit an einer Waschstraße ausführte und das Arbeitsverhältnis trotz Kenntnis des Arbeitgebers von den Ermittlungen und der Inhaftierung derzeit ungekündigt ist. Die Ehefrau des Beschuldigten hat des Weiteren im Haftprüfungstermin als Zeugin glaubhaft bekundet, dass der Beschuldigte trotz der im Frühjahr 2021 vollzogenen Trennung und seines Auszugs aus der Ehewohnung weiterhin regelmäßig Kontakt zu ihr hatte. Es sei ihr Wunsch gewesen, dass er zu ihr zurückkommt und sie wieder als Familie zusammenleben. Während der Haftzeit habe sie sich unter anderem um die Auflösung seiner Wohnung gekümmert, um Kosten zu reduzieren.

Trotz der Bemühungen der Zeugin um ihren Ehemann und dessen Bekundung, einen Neuanfang machen zu wollen, stellt sich das Verhältnis der Eheleute indes nicht als derart hinreichend gefestigt dar, um einem Fluchtanreiz sicher entgegenzuwirken. Der Beschuldigte und seine Ehefrau hatten sich auseinandergelebt. Im März 2021 trennte sich der Beschuldigte von seiner Ehefrau und bezog eine eigene Wohnung. Die Zeugin Sch. hat selbst bekundet, sie sei die treibende Kraft für ein erneutes Zusammenleben. Die Zeugin W., eine Ex-Freundin des Beschuldigten, hat die Zeugin Sch. als klammernd in Bezug auf den Beschuldigten beschrieben. Dies habe diesen indes Anfang der 2000er Jahre nicht davon abgehalten, gleichzeitig eine Beziehung mit ihr einzugehen (Hauptakten III A1.3, S. 142). Es ist daher nicht gänzlich auszuschließen, dass der Wille des Beschuldigten, wieder mit seiner Frau zusammenzuleben, zumindest auch taktische Hintergründe hat. Schon angesichts der aktuellen günstigen Situation am Arbeitsmarkt dürfte es für ihn auch nicht schwierig sein, an einem beliebigen Ort eine vergleichbare Arbeitsstelle zu finden. Der Beschuldigte verfügt - abgesehen von der früheren, derzeit von seiner Ehefrau und Tochter allein genutzten Ehewohnung - weder über eine eigene Unterkunft noch über Vermögen. Wie die Ermittlungen des Generalbundesanwalts ergeben haben, pflegt er weiterhin Umgang mit Angehörigen der früheren Skinheadszene, die ihm im Falle eines Untertauchens hilfreich sein könnten. Unerheblich ist dabei, ob die Personen den Kontakt zu ihm oder er zu ihnen suchten. Insbesondere zur Zeugin A., mit der er Mitte der 1990er Jahre liiert war, hatte er vor seiner Inhaftierung intensiven Kontakt. Ihr gegenüber äußerte er u.a., er führe mit seiner Ehefrau nur eine „WG-Beziehung“. Diese fluchtbegünstigenden Umstände können durch die enge Bindung des Beschuldigten an seine Tochter und die sonstigen Kontakte zu seiner Kernfamilie nicht in einem eine Flucht ausschließenden Maß aufgewogen werden.

Dem steht nicht entgegen, dass der Beschuldigte spätestens seit Anfang Oktober 2020 Kenntnis davon hatte, dass sich die wieder aufgenommenen Ermittlungen gegen ihn richten, und ihn auch die Durchsuchungsmaßnahmen im Januar 2021 nicht zur Flucht veranlassten. Denn der Beschuldigte ging in diesem Verfahrensstadium - wie er in seiner verantwortlichen Vernehmung vom 29. Januar 2021 hat selbst anklingen lassen (Vernehmungsprotokoll S. 41, Hauptakten III C) - davon aus, die Ermittlungen gegen ihn würden alsbald eingestellt. Irrelevant ist dabei, ob dieser Eindruck - wie der Ermittlungsrichter meint - durch die Ermittlungsbehörden (bewusst) mitverursacht worden ist. Denn eine offen durch Strafverfolger zu Tage gelegte „Beweisnot“ hätte Fluchtgedanken eher zerstreut denn gefördert. Zwar legen die Ergebnisse der durch den Generalbundesanwalt nach den Durchsuchungen fortgeführten verdeckten Ermittlungsmaßnahmen nahe, dass der Beschuldigte die Wiederaufnahme der Ermittlungen durchaus mit Sorge betrachtete. Es ergibt sich hieraus jedoch auch, dass er regen Austausch mit den Zeugen pflegte, die der zur Tatzeit bestehenden Skinheadszene angehörten, und so - aus seiner Sicht - über den Stand der Ermittlungen informiert war, mithin hätte fliehen können, wenn es „eng“ wird. Erst mit Vollzug des Haftbefehls am 4. April 2022 ist dem Beschuldigten die Tragweite des gegen ihn bestehenden Tatverdachts und die diesbezügliche Einschätzung der Ermittlungsbehörden bekannt geworden.

6. Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).

a) Zwar kann als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips entgegen dem Wortlaut des § 116 StPO auch ein auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gestützter Haftbefehl außer Vollzug gesetzt werden (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1965 - 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342, 351 ff.; BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2015 - StB 16/15, juris Rn. 26). Hieran sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen (vgl. MüKoStPO/Böhm, § 116 Rn. 38; BeckOK StPO/Krauß, 43. Ed., § 116 Rn. 15).

b) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedingt vorliegend nicht die Außervollzugsetzung des Haftbefehls. Denn weder die Auflagen in dem Beschluss vom 17. Juni 2022 noch andere Maßnahmen sind hinreichend geeignet, dem durch die hohe Straferwartung ausgehenden Fluchtanreiz sicher entgegenzuwirken. Angesichts des nicht ausreichend gefestigten Verhältnisses des Beschuldigten zu seiner Ehefrau gilt dies insbesondere für die Auflage, bei ihr Wohnsitz zu nehmen. Eine andere Bleibe steht dem Beschuldigten derzeit nicht zur Verfügung. Die Gefahr, dass er mit Hilfe seiner Kontakte zu Angehörigen der früheren rechtsnationalen Szene - zumindest in Deutschland - untertaucht, kann nicht durch die Hinterlegung der Ausweispapiere und die Pflicht gebannt werden, sich dreimal wöchentlich beim Polizeipräsidium Sa. zu melden beziehungsweise jede Änderung seiner Berufstätigkeit mitzuteilen. Auch das Verbot, einen neuen Pkw zu beschaffen, erweist sich insoweit als nicht wirkungsvoll, da er jederzeit auf Kraftfahrzeuge Dritter oder andere Verkehrsmittel zurückgreifen könnte. Soweit dem Beschuldigten darüber hinaus ein Kontaktverbot zu sämtlichen Personen auferlegt worden ist, „die in dem Zeitraum von 1990 bis 2010 der rechten Szene in S. angehörten oder in regelmäßiger Verbindung mit dieser Szene standen“, und dabei eine Vielzahl von Personen genannt wird, ist diese - ohnehin schwer zu überwachende Auflage - nicht geeignet, derartige, für eine Flucht hilfreiche Kontakte zu unterbinden. Gleiches gilt für die Pflicht, anlässlich der Meldetermine sämtliche genutzten Mobilfunk- und internetfähigen Endgeräte vorzuzeigen. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass fluchtrelevante Kommunikation mittels technischer Hilfsmittel Dritter geführt wird. Schließlich vermag auch die Auflage, eine Kaution in Höhe von 7.500 € zu hinterlegen, ein Untertauchen des Beschuldigten nicht sicher auszuschließen, dies ungeachtet seiner engen finanziellen Verhältnisse. Der Beschuldigte selbst kann allenfalls 5.000 € aus dem Verkauf seines Kraftfahrzeuges beitragen. Zwar kann auch eine (partielle) Sicherheitsleistung durch einen Dritten einem Fluchtanreiz wirksam begegnen, dies jedoch nur dann, wenn aufgrund der Persönlichkeit des Beschuldigten und seiner Beziehungen zum Sicherungsgeber angenommen werden kann, er werde diesem nicht durch den Verfall der Sicherheit schaden wollen, und die Summe nach dem Vermögen des Leistenden in einer Höhe festgesetzt ist, die der Beschuldigte nicht als Freundschaftsgeschenk ansehen kann (KG, Beschluss vom 13. März 2018 - 4 Ws 30/18 - 161 AR 44/18, juris Rn. 17; BeckOK StPO/Krauß, 43. Ed., § 116 Rn. 11). Angesichts der Vielzahl der Personen, die - entsprechend dem Schriftsatz der Verteidigung vom 7. Juli 2022 - zur Kautionsleistung beitragen wollen, ist hiervon jedoch nicht auszugehen, ungeachtet dessen, dass der Beschuldigte zu dem Großteil der aus dem Familienkreis stammenden Sicherungsgeber enge persönliche Bindungen hat.

7. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht auch im Übrigen nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Das Ermittlungsverfahren wurde insbesondere seit der Inhaftierung des Beschuldigten mit der gebotenen Beschleunigung geführt.

Er befindet sich seit etwas mehr als drei Monaten in Untersuchungshaft; der Generalbundesanwalt beabsichtigt, noch im Juli 2022 Anklage zu erheben.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 811

Bearbeiter: Christian Becker