HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1065
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 389/21, Urteil v. 06.09.2022, HRRS 2022 Nr. 1065
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 5. Mai 2021 aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagten von dem Vorwurf der Steuerhinterziehung, des gewerbs- und bandenmäßigen Schmuggels, der Steuerhehlerei und der Beihilfe zu den genannten Taten ohne Beweisaufnahme aus rechtlichen Gründen freigesprochen und auf Entschädigungen für Strafverfolgungsmaßnahmen erkannt.
Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihren auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionen. Mit Verfahrensrügen beanstandet sie eine Verletzung von § 244 Abs. 1 und 2, § 258 Abs. 1 StPO sowie § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO, weil die Strafkammer nicht in die Beweisaufnahme eingetreten sei und keine Feststellungen zu den prozessualen Taten getroffen habe. Mit der Sachrüge beanstandet sie im Wesentlichen, die Strafkammer habe das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) fehlerhaft angewendet und daher unzutreffenderweise angenommen, dass die in der Anklageschrift geschilderten Taten unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt strafbar seien.
Die vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel haben bereits mit der Sachrüge Erfolg; hinsichtlich der Verfahrensrügen bedarf es daher keiner Entscheidung.
1. Den Angeklagten wurde mit der mit dem Eröffnungsbeschluss nahezu unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift im Wesentlichen das Folgende zur Last gelegt:
Die S. Limited mit Sitz in der Volksrepublik China (im Folgenden: S.) gehörte zu den Unternehmen, die zur Vermeidung von Antidumping- und Ausgleichszöllen auf die Einfuhr von ihr hergestellter Photovoltaikmodule ein Verpflichtungsangebot abgegeben hatten, das die Kommission mit Beschluss 2013/423/EU und mit Durchführungsbeschluss 2013/707/EU angenommen hatte.
In ihrem Verpflichtungsangebot hatte die S. versichert, dass der Nettoverkaufspreis bei Verkäufen an ein verbundenes Unternehmen in der Europäischen Union nach Abzug gezahlter Kommissionen und direkter oder indirekter Nachlässe, Rabatte oder anderweitig gewährter Vorteile innerhalb oder über dem vereinbarten Mindesteinfuhrpreis liege und dass der Weiterverkaufspreis des verbundenen Unternehmens in der Europäischen Union an den ersten unabhängigen Kunden nach Abzug sämtlicher gewährter direkter oder aufgeschobener Rabatte, Vergünstigungen oder zugesagter Rückgewährung über dem um einen Aufschlag für Vertriebsgemeinkosten und um einen Gewinnaufschlag erhöhten Mindesteinfuhrpreis liege.
S. war auch die alleinige Gesellschafterin der Su. GmbH (im Folgenden: Su.) mit Sitz in N. Su. importierte Solarmodule, die ausschließlich durch S. aus China geliefert wurden. Als 100-prozentige Tochter der S. war Su. ein verbundenes Unternehmen im Sinne der Verpflichtung und im Anhang XI der Verpflichtung als verbundenes Unternehmen der S. genannt. Die Angeklagte M. war Geschäftsführerin der Su., die Angeklagte H. Büromitarbeiterin; die Angeklagten P. und J. waren Angestellte. Der Angeklagte R. bezog Solarmodule von Su., der Angeklagte Ha. war dessen Mitarbeiter.
Die Angeklagten M., H., P. und J. und weitere Personen schlossen sich vor dem 6. August 2013 zusammen, um Solarmodule aus China unter Vorlage unzutreffender Verpflichtungsrechnungen und Ausfuhrverpflichtungsbescheinigungen vorgeblich zum vereinbarten Mindesteinfuhrpreis in das Gebiet der Europäischen Union einzuführen und diese vorgeblich zu einem über dem Mindesteinfuhrpreis liegenden Verkaufspreis an den ersten unabhängigen Kunden zu verkaufen und dadurch eine Befreiung von den Antidumping- und Ausgleichszöllen zu erreichen. Tatsächlich sollten die Module unterhalb des Mindesteinfuhrpreises an unabhängige Abnehmer in der Europäischen Union verkauft werden. Die Höhe des Mindesteinfuhrpreises war den Angeklagten M., H., P., J. und Ha. jeweils bekannt.
Deshalb wurde in den im Namen von Su. abgegebenen Zollanmeldungen nicht der unter dem Mindesteinfuhrpreis liegende tatsächliche Einfuhrpreis angegeben; vielmehr wurde der Zollwert überhöht angemeldet und durch Vorlage inhaltlich unzutreffender Verpflichtungsrechnungen und Ausfuhrverpflichtungsbescheinigungen ein Bezug der Solarmodule zum Mindesteinfuhrpreis und der beabsichtigte Weiterverkauf an einen ersten unabhängigen Kunden zu einem um die Vertriebsgemeinkosten und einen Gewinnaufschlag erhöhten Mindesteinfuhrpreis vorgespiegelt. Die überhöhten Verkaufspreise sollten entweder von vornherein nicht vollständig gezahlt oder später zurückgezahlt („Kickback“) werden.
Die Angeklagte M. hinterzog - so die Anklageschrift - vom 18. Dezember 2013 bis zum 15. Juli 2017 als Geschäftsführerin der Su. in 172 Fällen mit Unterstützung der Angeklagten H., P. und J. Antidumping- und Ausgleichszölle in Höhe von insgesamt 21.060.140,36 Euro. Darüber hinaus waren die Angeklagten M., P. und J. Dritten bei deren Hinterziehung solcher Einfuhrabgaben behilflich. Der Angeklagte R. kaufte von der Su. Solarmodule an, hinsichtlich derer derartige Einfuhrabgaben hinterzogen worden waren. Er wusste, dass Solarmodule aus China nur zu einem deutlich darüberliegenden Mindestpreis eingeführt werden durften und sich der von ihm zu zahlende Preis deutlich unter dem Mindesteinfuhrpreis bewegte. Der Angeklagte Ha., der von den Mindestpreisen wusste und in die Vorgehensweisen zu deren Umgehung eingeweiht war, unterstützte den Angeklagten R., indem er sich von vorneherein bereiterklärte, dessen Solarparkprojekte zu betreuen.
2. Die Strafkammer hat in rechtlicher Hinsicht angenommen, dass der angeklagte Sachverhalt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt strafbar sei. Die Kenntnis des Mindesteinfuhrpreises in dem Verpflichtungsangebot sei für die Beurteilung der Strafbarkeit von entscheidender Bedeutung; deshalb sei die Verpflichtung an dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen. Dessen Anforderungen genüge die Verpflichtung nicht, da sie ein vertrauliches Dokument sei, das nicht in einem Amtsblatt oder sonst veröffentlicht worden sei. „Interessierte Parteien“, wozu die Angeklagten nicht gehörten, hätten lediglich eine nicht vertrauliche Fassung des Verpflichtungsangebots einsehen können, die den Mindesteinfuhrpreis nicht ausgewiesen habe. Den Angeklagten sei es damit unmöglich gewesen, von einer wesentlichen Strafbarkeitsandrohung aus offiziellen Quellen Kenntnis zu nehmen. Darüber hinaus habe die Strafkammer Bedenken, ob Art. 3 Abs. 2a der DVO-Nr. 1238/2013 mit den Regelungen der VO-Nr. 1225/2009 vereinbar sei, mithin überhaupt eine Zollschuld habe entstehen können. Es sei zumindest zweifelhaft, ob die Annahme, es sei durch die unterbliebene Festsetzung von Antidumping- und Ausgleichszöllen zu einer Steuerverkürzung gekommen, mit der VO (EG) Nr. 1225/2009 vom 30. November 2009 (ABl. L 343/51), der VO (EU) 2016/1036 vom 8. Juni 2016 (ABl. L 176/21), der VO (EG) Nr. 597/2009 vom 11. Juni 2009 (ABl. L 188/93) und der VO (EU) 2016/1037 vom 8. Juni 2016 (ABl. L 176/55) vereinbar sei.
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft haben Erfolg. Das Urteil des Landgerichts hält sachlich-rechtlicher Überprüfung schon deswegen nicht stand, weil es keine Feststellungen enthält. Auch wenn ein Gericht den Angeklagten aus Rechtsgründen freispricht, muss es regelmäßig Feststellungen zur Sache treffen, um dem Revisionsgericht die Überprüfung zu ermöglichen, ob das Recht auf den festgestellten Sachverhalt richtig angewendet wurde (BGH, Beschluss vom 22. März 2018 - 5 StR 566/17, BGHSt 63, 107 Rn. 7 mwN). Ob dann davon abgesehen werden kann, wenn ein dem Angeklagten vorgeworfenes Verhalten mit Sicherheit straflos ist, kann dahinstehen, da dies hier nicht der Fall ist.
1. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a DVO (EU) Nr. 1238/2013 und von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DVO (EU) Nr. 2017/367 sowie von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 1239/2013 und von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DVO (EU) Nr. 2017/366 entstand ausgehend von dem den Angeklagten zur Last gelegten Sachverhalt bei der Annahme der Anmeldung zur Überführung der Solarmodule in den zollrechtlich freien Verkehr jeweils eine Zollschuld. Indem die Angeklagte M. durch unrichtige Angaben verhinderte, dass die Zollbehörden diese Zollschuld festsetzen, verkürzte sie Steuern (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO). Die Angeklagten H., P. und J. leisteten zu der Steuerhinterziehung der Angeklagten M. Beihilfe (§ 27 Abs. 1 StGB), die Angeklagten R. und Ha. kauften die Solarmodule in Kenntnis der Vorgehensweise der Angeklagten M. an (§ 374 AO).
a) Antidumping- und Ausgleichszölle sind eine besondere Form der Schutzzölle (Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 3 Rn. 457 (Stand: April 2021)), als solche Einfuhrabgaben i.S.v. Art. 5 Nr. 20 UZK (bis 30. April 2016: Art. 4 Nr. 10 ZK; vgl. § 3 Abs. 3 AO) und insofern vom Schutz des § 370 AO umfasst (BGH, Beschlüsse vom 27. August 2010 - 1 StR 217/10 und 1 StR 218/10, jeweils am Ende). Die Anknüpfung der auf Einfuhr- und Ausfuhrabgaben bezogenen Tatbestände der §§ 373, 374 AO an § 370 AO belegt dies zusätzlich.
b) Art. 3 Abs. 2 Buchst. a DVO (EU) Nr. 1238/2013 regelt, dass eine Zollschuld entsteht, wenn bei den in Art. 3 Abs. 1 DVO (EU) Nr. 1238/2013 genannten Einfuhren festgestellt wird, dass die dort genannten Bedingungen für eine Zollbefreiung nicht erfüllt sind. Zu diesen Bedingungen gehört nicht nur, dass ein im Anhang des Durchführungsbeschlusses 2013/707/EU (ABl. L 325/214) genanntes Unternehmen die Waren hergestellt, versandt und in Rechnung gestellt hat, sondern nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b DVO (EU) Nr. 1238/2013 insbesondere auch die Vorlage einer Verpflichtungsrechnung, die nach Anhang III der DVO (EU) Nr. 1238/2013 namentlich die Beschreibung der Verkaufsbedingungen einschließlich Preis, Preisnachlässen und Mengenrabatten (Nr. 7 des Anhangs) sowie eine Erklärung der zuständigen Person des Unternehmens, das die Handelsrechnung ausgestellt hat, dass die Angaben auf der Rechnung vollständig und zutreffend seien (Nr. 9 des Anhangs), zu enthalten hat. Entsprechend verweisen Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DVO (EU) Nr. 2017/367 sowie Art. 2 Abs. 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 1239/2013 und Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DVO (EU) Nr. 2017/366 auf inhaltsgleiche Regelungen der jeweiligen Durchführungsverordnung.
aa) Danach kam zwar eine Zollbefreiung in Betracht, weil S. in dem von der Anklage umfassten Zeitraum im Anhang des Durchführungsbeschlusses 2013/707/EU genannt war. Vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgrundsatzes entfaltet bei verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen die Verwaltungsentscheidung grundsätzlich Tatbestandswirkung. Es kommt allein auf die formelle Wirksamkeit der Entscheidung, nicht auf ihre materielle Rechtmäßigkeit an (BGH, Urteile vom 27. April 2005 - 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105, Rn. 23 und vom 26. Januar 2021 - 1 StR 289/20, BGHSt 65, 257, Rn. 49 ff.). Die Tatbestandswirkung des Durchführungsbeschlusses entfällt daher auch dann nicht, wenn S. zu Unrecht in dessen Anhang genannt war, weil die Kommission die Verpflichtung von S. von Anfang an nicht hätte annehmen dürfen oder zumindest die Annahme zwischenzeitlich hätte widerrufen müssen.
bb) Gleichwohl entstand bei den Einfuhren der Solarmodule jeweils eine Zollschuld, weil die von der Angeklagten M. vorgelegten Verpflichtungsrechnungen nicht - wie erforderlich - den tatsächlichen Kaufpreis auswiesen. Dass formal die ausgewiesenen Preise vereinbart waren, steht dem nicht entgegen, weil diese Preise entweder von vornherein nicht gezahlt oder später teilweise zurückgezahlt werden sollten. Insofern war der Verkauf zu den höheren Preisen ein Scheingeschäft, das den Verkauf zu niedrigeren Preisen verdecken sollte. Scheingeschäfte und Scheinhandlungen sind für die Besteuerung unerheblich. Wird durch ein Rechtsgeschäft ein anderes Rechtsgeschäft verdeckt, so ist das verdeckte Rechtsgeschäft für die Besteuerung maßgeblich (§ 41 Abs. 2 AO). Preisnachlässe waren nach dem Wortlaut der Durchführungsverordnungen ohnehin offenzulegen. Indem die Angeklagte auf diese inhaltlich fehlerhaften Rechnungen Bezug nahm, machte sie zugleich unrichtige Angaben.
c) Nach dem Anklagevorwurf handelten die Angeklagten M., H., P. und J. insofern vorsätzlich. Auch die Angeklagten R. und Ha. kannten den Mindesteinfuhrpreis oder wussten zumindest, dass die von dem Angeklagten R. gezahlten Preise unter dem Mindesteinfuhrpreis lagen. Sofern sie nicht aufgrund besonderer Umstände annehmen durften, dass Su. unter ihrem eigenen Einkaufspreis verkaufen wollte, mussten sie daher in Betracht ziehen, dass Su. unter dem Mindesteinfuhrpreis einkaufte und dies gegenüber den Zollbehörden verschleierte, so dass zumindest bedingter Vorsatz nicht von vornherein auszuschließen ist.
d) Der Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) steht dem nicht entgegen.
aa) Eine Tat kann nach Art. 103 Abs. 2 GG nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz ist auch unionsrechtlich anerkannt (EuGH, Urteil vom 5. Dezember 2017 - C-42/17). Dabei geht es einerseits um den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Andererseits soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet. Der Senat geht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon aus, dass der Straftatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) in diesem Sinne hinreichend bestimmt ist. Dies gilt auch, sofern zur Ausfüllung des Tatbestands veröffentlichte Rechtsakte der Europäischen Union heranzuziehen sind (siehe nur BVerfG, Beschluss vom 29. April 2010 - 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08, BVerfGK 17, 273 Rn. 64 ff.; BGH, Urteil vom 10. Oktober 2017 - 1 StR 447/14, BGHSt 63, 29 Rn. 57 ff., jeweils mwN).
bb) § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO i.V.m. Art. 3 Abs. 2 Buchst. a DVO (EU) Nr. 1238/2013, Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DVO (EU) Nr. 2017/367, Art. 2 Abs. 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 1239/2013 und von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DVO (EU) Nr. 2017/366 genügen diesen Anforderungen, da die genannten Durchführungsverordnungen jeweils amtlich veröffentlichte Rechtsakte der Europäischen Union sind. Der Durchführungsbeschluss 2013/707/EU (ABl. L 325/214) war gleichfalls amtlich veröffentlicht. Auch die Verlängerung der Durchführungsverordnungen (EU) Nr. 1238/2013 und Nr. 1239/2013 über ihr ursprünglich vorhergesehenes Außerkrafttreten hinaus bis zum Inkrafttreten der Durchführungsverordnungen 2017/367 und 2017/366 beruhte auf einem amtlich veröffentlichten Rechtsakt (ABl. C 405/8, 20 vom 5. Dezember 2015).
cc) Der Bestimmtheitsgrundsatz erforderte insbesondere keine vollständige Veröffentlichung des Inhalts der Verpflichtungsangebote, namentlich der darin genannten Mindesteinfuhrpreise.
(1) Verwaltungsakzessorische Straftatbestände verstoßen grundsätzlich nicht deswegen gegen den Bestimmtheitsgrundsatz oder andere verfassungsrechtliche Vorgaben, weil der in Bezug genommene Verwaltungsakt seinerseits nicht veröffentlicht wurde (BVerfG, Beschluss vom 6. Mai 1987 - 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329; BGH, Urteil vom 27. April 2005 - 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105, Rn. 8 ff.; BGH, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 StR 289/20, BGHSt 65, 257, Rn. 49 ff.).
(a) Dies folgt schon daraus, dass ein Verwaltungsakt (§ 118 Satz 1 AO) kein Gesetz ist. Auch in der Form der Allgemeinverfügung (§ 118 Satz 2 AO) trifft er eine konkret-generelle, keine abstrakt-generelle Regelung (Güroff in Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 118 AO Rn. 21 f. (Stand: Oktober 2017); Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 118 AO Rn. 200 (Stand: November 2013)). Die Bezugnahme auf einen Verwaltungsakt begründet daher keinen Blanketttatbestand, bei dem der Verwaltungsakt als blankettausfüllende Norm seinerseits am Bestimmtheitsgrundsatz zu messen wäre.
(b) Dadurch werden auch die mit dem Bestimmtheitsgrundsatz verfolgten Zwecke nicht in Frage gestellt. Die Strafbarkeit bleibt vorhersehbar, weil jedermann die Bedeutung der verwaltungsrechtlichen Vorfrage für die Strafbarkeit erkennen und, wenn er die Verwaltungsrechtslage nicht aufklären kann, von seinem Vorhaben Abstand nehmen kann. Der Gesetzgeber entscheidet auch selbst über die Strafbarkeit, wenn er sich die Regelung eines schon ergangenen, Verwaltungsakts zu eigen macht. Etwaige künftige Änderungen durch die Verwaltung unterliegen ihrerseits dem Vorbehalt des Gesetzes, so dass die Letztentscheidung auch insofern dem Gesetzgeber vorbehalten bleibt.
(c) Der Bestimmtheitsgrundsatz bedeutet insofern nur, dass Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen allgemein hinreichend genau beschrieben sein müssen, nicht aber, dass eine Subsumtion im Einzelfall anhand öffentlich zugänglicher Informationen möglich sein muss.
(2) Verpflichtungsangebot und Annahme sind nach den Maßstäben des deutschen Rechts ein öffentlich-rechtlicher Vertrag und ersetzen einen Verwaltungsakt (vgl. § 54 Satz 2 VwVfG) in der Sonderform der Allgemeinverfügung (§ 118 Satz 2 AO), weil sie mit der zollrechtlichen Privilegierung eine öffentlich-rechtliche Eigenschaft der von den im Anhang des Durchführungsbeschlusses 2013/707/EU genannten Unternehmen hergestellten Solarmodule regeln. Unter Bestimmtheitsgesichtspunkten gilt daher für sie nichts Anderes. Ob bestimmte Beteiligte den Inhalt eines für die strafrechtliche Beurteilung wesentlichen Verwaltungsakts oder öffentlich-rechtlichen Vertrags kannten, ist keine Frage der Gesetzesbestimmtheit, sondern des subjektiven Tatbestands im jeweiligen Einzelfall (dazu hier unter c.).
e) Der Umstand, dass hinterzogene Zölle nicht mehr erhoben werden, steht einer Bestrafung wegen deren Hinterziehung nicht entgegen (BGH, Beschlüsse vom 27. August 2010 - 1 StR 217/10 und 1 StR 218/10). Daran hält der Senat fest. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union gilt dies auch vor dem Hintergrund von Art. 49 Abs. 1 Satz 3 EuGrdRCh (vgl. EuGH, Urteil vom 7. August 2018 - C-115/17 Clergeau Rn. 41). Einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu dieser Frage bedarf es daher nicht.
2. Der Freispruch könnte im Übrigen auch dann keinen Bestand haben, wenn - wie das Landgericht erwogen hat - die vorstehende Auslegung von Art. 3 DVO (EU) Nr. 1238/2013 und von Art. 2 DVO (EU) Nr. 2017/367 sowie von Art. 2 DVO (EU) Nr. 1239/2013 und von Art. 2 DVO (EU) Nr. 2017/366 nach deren Wortlaut nicht möglich wäre, weil nach den als Ermächtigung den Durchführungsverordnungen zugrunde liegenden Antidumping- und Antisubventionsgrundverordnungen (Art. 8 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1225/2009; Art. 8 Abs. 1 VO (EU) 2016/1036; Art. 13 Abs. 1 VO (EG) Nr. 597/2009; Art. 13 Abs. 1 VO (EU) 2016/1037) schon die Annahme des Verpflichtungsangebots bis zum Widerruf das Entstehen einer Zollschuld ausschlösse. Die Angeklagte M. könnte dann, worauf der Generalbundesanwalt im Ergebnis zutreffend hinweist, zwar keine Steuern verkürzt, aber für Su. einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil (§ 370 Abs. 1 AO) erlangt haben. Der Senat muss daher weder den Ausgang der bei dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängigen Berufungsverfahren (verbundene Rechtssachen C-439/20 P und C-441/20 P) gegen ein Urteil des Gerichts der Europäischen Union (Urteil vom 8. Juli 2020 - T-110/17) abwarten, auf das die Strafkammer ihre Überlegungen stützt, noch selbst eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einholen.
a) Die Annahme der Verpflichtung und die Listung in der Anlage des Durchführungsbeschlusses waren in dem von der Anklage erfassten Zeitraum ein Steuervorteil im Sinne von § 370 AO.
aa) Das Gesetz definiert nicht, was ein nicht gerechtfertigter Steuervorteil in diesem Sinne ist, sondern erläutert es nur beispielhaft (§ 370 Abs. 4 Sätze 2 und 3 AO). Unter der Geltung der RAbgO lag ein Steuervorteil nach § 392 RAbgO vor, wenn dem Täter etwas gewährt oder belassen worden ist, was gegenüber der normalen, dem Gesetz entsprechenden Festsetzung oder Einziehung von Steuern eine Ausnahme bedeutete (ebenso BGH, Urteil vom 6. Juni 1973 - 1 StR 82/72, BGHSt 25, 190, Rn. 85). Der Bundesgerichtshof nahm dies unter Geltung des § 392 RAbgO bei der durch Vorspiegelung falscher Tatsachen erlangten Genehmigung der abschöpfungsfreien Einfuhr abschöpfungspflichtiger Waren an (BGH, Urteil vom 6. Juni 1973 - 1 StR 82/72, BGHSt 25, 190, Rn. 80 ff.; dem folgend BFH, Urteil vom 12. April 1983 - VII R 4/80 Rn. 29). Nach Inkrafttreten der AO 1977 sah der Bundesgerichtshof in der Belassung eines Mineralölsteuerlagers angesichts des Entstehens einer zunächst nur bedingten Steuer und des weiteren Aufschubs ihrer Fälligkeit einen Steuervorteil (BGH, Urteil vom 13. Oktober 1992 - 5 StR 253/92 Rn. 24). In neuerer Zeit entschied der Senat insbesondere, dass ein inhaltlich unrichtiger Bescheid zur einheitlichen und gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen (§ 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO) ein nicht gerechtfertigter Steuervorteil im Sinne von § 370 AO sei, da die Bindungswirkung als Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO) für die Einkommensteuerfestsetzung ein Vorteil spezifisch steuerlicher Art sei, der auf dem Tätigwerden der Finanzbehörde beruhe (grundlegend BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 - 1 StR 322/08, BGHSt 53, 99, Rn. 21 ff.).
bb) Die Annahme des Verpflichtungsangebots von S. durch die Kommission und deren Listung in der Anlage zu dem Durchführungsbeschluss erfüllten diese Voraussetzungen.
(1) Die Annahme des Verpflichtungsangebots und die Listung des Unternehmens in der Anlage waren für Su. ein Vorteil. Nach der Rechtslage bis zur Änderung der DVO (EU) 2017/367 und der DVO (EU) 2017/366 durch die DVO 2017/1570 im September 2017 (ABl. L 238/22) waren sie Tatbestandsvoraussetzungen für die Befreiung von Antidumping- und Ausgleichszöllen (Art. 3 Abs. 1 DVO (EU) Nr. 1238/2013, Art. 2 Abs. 1 DVO (EU) 2017/367, Art. 2 Abs. 1 DVO (EU) Nr. 1239/2013, Art. 2 Abs. 1 DVO (EU) 2017/366, jeweils Buchst. a).
Sie ermöglichten Su., von Antidumping- und Ausgleichszöllen befreite Solarmodule von - der in der Anlage gelisteten - S. einzuführen, was - bei im Übrigen gleichen Verkaufs- und Lieferbedingungen - ohne Annahme des Verpflichtungsangebots und Listung in der Anlage nicht möglich gewesen wäre. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Annahme des Verpflichtungsangebots die Entstehung von Zöllen auf bis zu einem etwaigen Widerruf eingeführte Solarmodule schlechthin ausschloss oder ob ein Widerruf die Befreiung auch für davor eingeführte Solarmodule entfallen ließe. Im zuletzt genannten Fall hätte die Annahme zumindest einen Zahlungsaufschub bewirkt, ähnlich wie bei einer bedingten Steuer (§ 50 AO) oder der Steueraussetzung für Waren in einem Steuerlager, der schon für sich genommen einen Vorteil bedeutet.
(2) Der Vorteil der Su. war auch spezifisch steuerlicher Art und beruhte auf dem Tätigwerden der insoweit als Finanzbehörde handelnden Kommission. Die Antidumping- und Ausgleichszölle, auf die sich der Vorteil bezog, sind Steuern im Sinne von § 370 AO (siehe schon unter II.1.a.). Zwar war Adressatin der Annahme nicht Su., sondern S., vertreten durch die chinesische Handelskammer. Die Drittwirkung des Tätigwerdens gegenüber S. für und gegen die im Zollgebiet der Union ansässigen Einführer der von S. hergestellten Photovoltaikmodule war aber ihrerseits im Zollrecht angelegt (vgl. nur Art. 77, 170 Abs. 2 des Unionszollkodex). Nachdem Su. als 100-prozentige Tochter von S. gegründet wurde, um deren Solarmodule einzuführen, hing die Drittwirkung gerade für Su. auch nicht von weiteren Zwischenschritten Dritter oder tatsächlichen Unwägbarkeiten ab.
(3) Die Annahme des Verpflichtungsangebots, soweit sie eine Steuerverkürzung ausschließt, als steuerlichen Vorteil zu behandeln, steht in Einklang mit höherrangigem Recht. Es verstößt nicht gegen das „Verschleifungsverbot“, das für Strafnormen aus Art. 103 Abs. 2 GG folgt. Danach darf die Auslegung derjenigen Begriffe, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten beschreibt, nicht zu einer Aufgabe der durch die Tatbestandsmerkmale bewirkten Eingrenzung der Strafbarkeit führen. Merkmale des Straftatbestandes dürfen daher selbst innerhalb der durch den Wortsinn gebildeten äußersten Auslegungsgrenze nicht so ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen (st. Rspr.; zuletzt etwa BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 2022 - 2 BvL 1/20, zur Veröffentlichung in BVerfGE 160 vorgesehen Rn. 99; siehe auch BGH, Beschluss vom 22. November 2012 - 1 StR 537/12, BGHSt 58, 50 Rn. 7; jeweils mwN). Im Verhältnis zwischen Steuerverkürzung und nicht gerechtfertigtem Steuervorteil greift das „Verschleifungsverbot“ schon deswegen nicht ein, weil es sich nicht um kumulative, sondern um alternative Tatbestandsmerkmale handelt. Die Behandlung als steuerlicher Vorteil ist zudem unerlässlich, um die unionsrechtlich gebotene effektive Durchsetzung der Antidumping- und Ausgleichsmaßnahmen mittels wirkungsvoller abschreckender Maßnahmen (vgl. EuGH, Urteile vom 8. September 2015 - C-105/14 Taricco Rn. 4 und 40 ff.; vom 2. Mai 2018 - C-574/15 Scialdone Rn. 26 ff.; BGH, Urteil vom 24. April 2019 - 1 StR 81/18 Rn. 32) zu gewährleisten.
b) Der Steuervorteil war nach dem den Angeklagten zur Last gelegten Sachverhalt nicht gerechtfertigt, weil entweder schon die Voraussetzungen für eine Annahme der Verpflichtung nicht vorgelegen hatten oder zumindest die Voraussetzungen für einen Widerruf der Annahme der Verpflichtung gemäß Art. 8 Abs. 9 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 eingetreten waren. Aufgrund der Pflichtverletzungen von S. war die Kommission zum Widerruf berechtigt und gehalten, den Einführern von Solarmodulen von S. Antidumpingzölle aufzuerlegen (vgl. EuGH, Urteil vom 22. November 2012 - C-552/10 P Usha Martin Rn. 32 ff.).
c) Der Steuervorteil war schon dadurch erlangt, dass er belassen wurde (vgl. § 370 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 AO). Die Kommission erklärte mit Durchführungsverordnung (EU) 2019/1329 vom 6. August 2019 die von S. ausgestellten Verpflichtungsrechnungen aufgrund der Verletzung der Verpflichtung für ungültig (UA S. 37). Es ist zumindest nicht auszuschließen, dass die Zollbehörden bei Vorlage inhaltlich richtiger Verpflichtungsrechnungen erkannt hätten, dass S. die Verpflichtung verletzte, und Deutschland der Kommission Informationen vorgelegt hätte, aufgrund derer die Kommission schon vor 2019 die Annahme widerrufen und S. aus der Anlage des Durchführungsbeschlusses gestrichen hätte. Selbst wenn mit Blick auf das der Kommission eingeräumte Ermessen nicht sicher festgestellt werden kann, dass die Kommission bei Vorlage inhaltlich richtiger Verpflichtungsrechnungen die Annahme widerrufen hätte, bliebe ein strafbarer (§ 370 Abs. 2 AO) Versuch, zu dem Beihilfe möglich ist.
d) Eine solche Steuerhinterziehung durch Erlangen eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils kann der Grundtatbestand eines gewerbs- oder bandenmäßigen Schmuggels (§ 373 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 3 AO) und Vortat einer Steuerhehlerei (§ 374 AO) sein. Beide Tatbestände setzen nach dem Gesetzeswortlaut lediglich eine Steuerhinterziehung voraus und unterscheiden nicht zwischen Steuerverkürzung und Erlangen eines nicht gerechtfertigten steuerlichen Vorteils. Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben hinterzieht im Sinne dieser Vorschriften auch, wer einen darauf bezogenen ungerechtfertigten Steuervorteil erlangt.
3. Der Aufhebung von Feststellungen bedurfte es nicht, weil die Strafkammer solche nicht getroffen hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1065
Bearbeiter: Christoph Henckel