HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 471
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 360/21, Urteil v. 08.03.2022, HRRS 2022 Nr. 471
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 19. Mai 2021,
a) soweit die Angeklagte wegen Fälschung technischer Aufzeichnungen verurteilt worden ist, im Schuldspruch dahin geändert, dass die Angeklagte der Fälschung technischer Aufzeichnungen in 210 Fällen schuldig ist,
b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
aa) soweit die Angeklagte wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden ist,
bb) im gesamten Rechtsfolgenausspruch.
2. Die weitergehende Revision der Angeklagten und die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das vorgenannte Urteil werden verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels der Angeklagten, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
4. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die der Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Steuerhinterziehung in 15 Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Fälschung technischer Aufzeichnungen, und wegen versuchter Steuerhinterziehung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt; zudem hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 1.356.536,80 € angeordnet. Die gegen ihre Verurteilung gerichtete Revision der Angeklagten, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts beanstandet, hat überwiegend Erfolg. Die auf drei Fälle innerhalb des Einziehungsausspruchs beschränkte und die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts führte die Angeklagte als Einzelunternehmerin u.a. im Tatzeitraum von 2011 bis Juli 2017 das asiatische Restaurant ?B. ? in W. In ihren Umsatzsteuervoranmeldungen erklärte die - dem Grunde nach geständige - Angeklagte ihre Ausgangsumsätze nicht vollständig; zudem gab sie entgegen der ihr bekannten Verpflichtung für die Besteuerungszeiträume 2011 bis 2015 weder Umsatzsteuerjahres- noch Einkommen- oder Gewerbesteuererklärungen ab, obwohl sie mit dem Restaurant Ausgangsumsätze und Betriebsgewinne erzielte (Fälle 1 bis 15 der Urteilsgründe). Das Finanzamt erließ hinsichtlich der Ertragsteuern jeweils vor dem allgemeinen Abschluss der Veranlagungsarbeiten Schätzungsbescheide, in denen es aber von deutlich niedrigeren Gewinnen ausging.
Die Angeklagte bewahrte die Kassendaten nicht auf; der bis zum 9. November 2016 verwendete Kassenpersonalcomputer war nicht auffindbar. Die danach eingesetzte Kasse der Firma M. verfügte mittels eines USB-Sticks über verschiedene Manipulationsmöglichkeiten, von denen die Angeklagte an 210 Tagen Gebrauch machte; dadurch unterdrückte sie für den Zeitraum ab 10. November 2016 jeweils um 50 % der Ausgangsumsätze. Auch für den Besteuerungszeitraum 2016 gab die Angeklagte keine Umsatzsteuerjahreserklärung ab (Fall 16 der Urteilsgründe); in der am 11. September 2017 abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldung für den Monat Juli 2017 verschwieg die Angeklagte wiederum einen erheblichen Teil ihrer Ausgangsumsätze (Fall 17 der Urteilsgründe).
Im Mai 2017 wurde der Angeklagten die Einleitung des Steuerstrafverfahrens wegen der Nichtabgabe der Umsatzsteuerjahres-, Einkommen- und Gewerbesteuererklärungen für die Besteuerungszeiträume 2011 bis 2015 bekannt gegeben. Die Schätzungsbescheide für den Veranlagungszeitraum 2015 erließ das Finanzamt jeweils am 21. Juli 2017.
2. Nach den Berechnungen des Landgerichts, das zur Ermittlung des Umfangs der für die Jahre 2011 bis 2015 hinterzogenen Ertragsteuern den Rohgewinnaufschlagsatz auf 350 % geschätzt hat, beträgt die Verkürzung aus den vollendeten Steuerstraftaten insgesamt 1.695.671 €. Unter Abzug einer Sicherheitspauschale von 20 % hat es den - eingezogenen - Gesamtbetrag mit 1.356.536,80 € bestimmt. Bei der Feststellung des durch die Nichtabgabe der Umsatzsteuerjahreserklärungen bewirkten Verkürzungsumfangs hat das Landgericht die in den Voranmeldungen angegebenen Umsatzsteuerbeträge berücksichtigt, desgleichen bei den Ertragsteuern die ergangenen Schätzungsbescheide.
1. Die Revision der Angeklagten ist zu den Konkurrenzen, den Steuerhinterziehungsfällen und zum Rechtsfolgenausspruch begründet. Im Übrigen erweist sie sich aus den Erwägungen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts als erfolglos.
a) Die Beurteilung der Konkurrenzen hält zum Teil der sachlich-rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
aa) Die durch die manipulierten Tagesabschlussbuchungen begangenen Fälschungen technischer Aufzeichnungen (§ 268 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 StGB) stehen zu den Steuerhinterziehungen in Tatmehrheit (§ 53 Abs. 1 StGB). Denn die Angeklagte gab für den Besteuerungszeitraum 2016 keine Umsatzsteuerjahreserklärung ab und fügte der Umsatzsteuervoranmeldung für Juli 2017 keine Buchungsbelege bei. Mithin machte sie von den verfälschten technischen Aufzeichnungen bei Tatbegehung keinen Gebrauch (vgl. § 268 Abs. 1 Nr. 2 StGB); diese Manipulationen der Buchhaltung gehören vielmehr zum Vorbereitungsstadium. Insoweit gelten die Grundsätze, die zum Regelbeispiel des Verwendens nachgemachter oder verfälschter Belege (§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 AO) aufgestellt sind (BGH, Urteil vom 12. Januar 2005 - 5 StR 301/04 Rn. 17; Beschlüsse vom 16. August 1989 - 3 StR 91/89 Rn. 6, BGHR AO § 370 Abs. 3 Nr. 4 Belege 3; vom 5. April 1989 - 3 StR 87/89 Rn. 3, BGHR AO § 370 Abs. 3 Nr. 4 Belege 2 und vom 24. Januar 1989 - 3 StR 313/88 Rn. 4, BGHR AO § 370 Abs. 3 Nr. 4 Belege 1), entsprechend.
bb) Auch untereinander stehen die täglich begangenen Fälschungen in Tatmehrheit.
cc) Die Vorschrift des § 265 Abs. 1 StPO steht der hiernach gebotenen Schuldspruchänderung (§ 354 Abs. 1 StPO entsprechend) nicht entgegen, da auszuschließen ist, dass sich die teilgeständige Angeklagte hiergegen wirksamer als geschehen hätte verteidigen können.
b) Die Verurteilung wegen Steuerhinterziehung begegnet insgesamt durchgreifenden Bedenken.
aa) Die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen erweist sich als rechtsfehlerhaft; bereits die Feststellungen hierzu sind lückenhaft und widersprüchlich. Es bedarf aber ausreichender tatsächlicher Feststellungen und der Angabe aller zugehörigen Parameter, um dem Revisionsgericht die Überprüfung der Steuerberechnung und damit des Verkürzungsumfangs zu ermöglichen (st. Rspr.; vgl. nur Beschlüsse vom 9. Juli 2020 - 1 StR 567/19 Rn. 6; vom 21. Mai 2019 - 1 StR 159/19 Rn. 8 und vom 7. Februar 2019 - 1 StR 484/18, BGHR StPO § 267 Abs. 1 Steuerhinterziehung 3 Rn. 5).
(a) Da die Buchhaltung infolge der Nichtverbuchung eines erheblichen Teils der Ausgangsumsätze mangelhaft war und nicht nachträglich aufbereitet werden kann, war das Landgericht zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen zwar berechtigt und durfte es für die Jahre 2011 bis 2015 im Ausgangspunkt die Richtsätze für Rohgewinnaufschläge aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen heranziehen (vgl. zuletzt eingehend BGH, Beschluss vom 11. März 2021 - 1 StR 521/20 Rn. 11, 13-15 mwN). Bezüglich der Ertragsteuern sind aber die Hinzuschätzungsbeträge (UA S. 5 f.) und damit die Betriebsgewinne nicht nachvollziehbar: Die Beträge aus der Spalte ?Umsatz lt. Prüfung? (UA S. 5) ergeben sich weder aus dem vorangestellten Zahlenwerk noch werden sie an anderer Stelle erläutert; insbesondere folgen die fünf Jahresbeträge aus dieser Spalte nicht durchgängig aus der Multiplikation des wirtschaftlichen Wareneinsatzes mit dem Faktor 4,5. In der nachfolgenden Tabelle (UA S. 6) sind gar abweichende und wiederum nicht nachvollziehbare Hinzuschätzungsbeträge angeführt.
Allein die sich durch Anwendung des Rohgewinnaufschlagsatzes von 350 % auf den wirtschaftlichen Wareneinsatz ergebenden Rohgewinne erschließen sich (UA S. 5); diese Rohgewinne hat das Landgericht seiner weiteren Berechnung indes nicht zugrunde gelegt. Auch wenn diese Rohgewinne höher als die nachfolgend festgestellten Betriebsgewinne sind, vermag der Senat angesichts der aufgezeigten erheblichen Feststellungslücken und Widersprüche eine Beschwer der Angeklagten letztlich nicht auszuschließen, zumal Bedenken bestehen, ob die Anwendung eines erheblich über dem Mittelwert der amtlichen Richtsatzsammlungen liegenden Rohgewinnaufschlagsatzes ausreichend begründet ist (UA S. 14 f.; vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 11. März 2021 - 1 StR 521/20 Rn. 15 und vom 24. Mai 2007 - 5 StR 58/07, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 3 Rn. 14 f.; je mwN). Aus dem gleichen Grund können Rechtsfehler zu Lasten der Angeklagten auch nicht durch den prozentualen Sicherheitsabschlag auf die errechneten Steuerverkürzungsbeträge ausgeschlossen werden.
(b) Die Bestimmung des Umfangs der verkürzten Umsatzsteuern für die Jahre 2011 bis 2015 ist aus dem gleichen Grund rechtsfehlerhaft; das Landgericht ist von den gleichen nicht nachvollziehbaren Hinzuschätzungsbeträgen ausgegangen (UA S. 11 f.).
(c) Bezüglich des Falles 16, der Nichtabgabe der Umsatzsteuerjahreserklärung für den Besteuerungszeitraum 2016, erschließen sich die Hinzuschätzungsbeträge ebenfalls nicht. Die in der Tabelle auf UA S. 11 angeführten Beträge entsprechen nicht 50 % der gebuchten Tagesumsätze und damit nicht der eigenen Vorgabe des Landgerichts, die Ausgangsumsätze aus den Jahren 2016 und 2017 um jeweils 50 % zu erhöhen (UA S. 5).
(d) Bezüglich des Besteuerungszeitraums 2017 kommt hinzu, dass allein die Abgabe der unvollständigen Umsatzsteuervoranmeldung für Juli 2017 angeklagt ist (§ 370 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 150 Abs. 1 Satz 3, § 168 Satz 1 AO). Gleichwohl hat das Landgericht verschwiegene Ausgangsumsätze aus den Monaten Januar bis Juni 2017 in den Schuldumfang eingestellt. Umsatzsteuerjahreserklärung und Umsatzsteuervoranmeldungen eines Jahres bilden zwar eine prozessuale Tat (§ 264 StPO; BGH, Beschlüsse vom 24. November 2004 - 5 StR 206/04, BGHSt 49, 359, 361 ff.; vom 25. Oktober 2018 - 1 StR 7/18 Rn. 10; vom 12. Juni 2013 - 1 StR 6/13 Rn. 22 f. und vom 17. März 2005 - 5 StR 328/04 Rn. 19; Urteil vom 12. Januar 2005 - 5 StR 271/04 Rn. 13; ungenau Urteil vom 17. März 2009 - 1 StR 627/08, BGHSt 53, 221 Rn. 31); dies gilt aber nicht ohne Weiteres für die Umsatzsteuervoranmeldungen untereinander, jedenfalls solange, wie der Täter keine Umsatzsteuerjahreserklärung abgegeben hat, wie hier die Strafbewehrung der Pflicht zur Abgabe der Jahreserklärung infolge der Bekanntgabe der Einleitung des Steuerstrafverfahrens vor Tatvollendung bekanntgegeben worden ist, oder wenn nur die Voranmeldungen angeklagt sind.
bb) Die Rechtsfehler bei Bestimmung des Schuldumfangs bedingen hier auch die Aufhebung des Schuldspruchs in den Ertragsteuerhinterziehungsfällen jedenfalls deswegen, weil Schätzungsbescheide jeweils vor allgemeinem Abschluss der Veranlagungsarbeiten ergangen sind und mithin nicht gänzlich sicher anzunehmen ist, dass die erzielten Betriebsgewinne und Einkünfte tatsächlich die dort geschätzten und zugrunde gelegten übersteigen. Um dem nunmehr zur Entscheidung berufenen Tatgericht eine umfassend neue und in sich stimmige Aufklärung der Besteuerungsgrundlagen zu ermöglichen, hebt der Senat vorsorglich auch den Schuldspruch in den Umsatzsteuerverkürzungsfällen auf.
cc) Die Strafzumessung hält zudem deswegen der sachlich-rechtlichen Nachprüfung nicht stand, weil das Landgericht das Teilgeständnis nicht erörtert hat. Grundsätzlich wäre es als strafbestimmender Zumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) zugunsten der Angeklagten in die Strafzumessung einzustellen gewesen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 1. September 2020 - 1 StR 205/20 Rn. 5 mwN). Ein Grund für die Nichtberücksichtigung - etwa die Abgabe des Geständnisses nach fortgeschrittener Beweisaufnahme und bei erdrückender Beweislage - wird nicht angegeben.
2. Die - wirksam auf die Einziehung in den Fällen 17 (Umsatzsteuervoranmeldung Juli 2017) sowie 14 und 15 der Urteilsgründe (versuchte Einkommen- und Gewerbesteuerhinterziehung für den Veranlagungszeitraum 2015) beschränkte - Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg.
a) Da das Landgericht, wie aufgezeigt (II. 1. b) aa) [d]), ohnehin rechtsfehlerhaft die verschwiegenen Ausgangsumsätze aus den Monaten Januar bis Juni 2017 berücksichtigt hat, ist ein Rechtsfehler zugunsten der Angeklagten infolge eines Widerspruchs des festgestellten Verkürzungsumfangs zu einem höheren Betrag aus der Berechnungstabelle (UA S. 11) auszuschließen.
b) Im Übrigen hat das Landgericht zu Recht von der Einziehung des Wertes von Taterträgen in den Versuchsfällen 14 und 15 der Urteilsgründe (§ 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AO) abgesehen, in denen die Strafbewehrung der Erklärungspflichten infolge der Bekanntgabe der Einleitung des Steuerstrafverfahrens suspendiert war (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 1. Juni 2021 - 1 StR 127/21 Rn. 8 mwN).
aa) Der abzuschöpfende Vermögensvorteil besteht in den Fällen der Steuerverkürzung in den ersparten Aufwendungen; da diese Ersparnis nicht gegenständlich ist, ist deren Wert einzuziehen (§ 73 Abs. 1, § 73c Satz 1 Variante 1 StGB). Nicht anders als bei der Einziehung von durch Straftaten erlangten Vermögensgegenständen und Rechten setzt das Abschöpfen ersparter Steueraufwendungen zudem voraus, dass der Tatbeteiligte über diese Ersparnisse tatsächlich verfügen kann; diese Vermögensvorteile müssen sich messbar in seinem Vermögen niederschlagen. Die (offene) Steuerschuldnerschaft ohne die Möglichkeit, die Steuerersparnis im eigenen Vermögen zu realisieren und in diesem Sinne über diese tatsächlich zu verfügen, genügt nicht zur Einziehung; denn die Einziehung knüpft an einen durch die Tat beim Täter eingetretenen Vermögensvorteil an (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 10. März 2021 - 1 StR 272/20 Rn. 26 f. und vom 11. Juli 2019 - 1 StR 620/18, BGHSt 64, 146 Rn. 19 f.; Beschlüsse vom 6. August 2020 - 1 StR 198/20, BGHR StGB § 73c Satz 1 Erlangtes 5 Rn. 18 und vom 23. Mai 2019 - 1 StR 479/18 Rn. 10).
bb) An diesen Grundsätzen gemessen setzt das Abschöpfen der ersparten Steueraufwendungen den Taterfolg, namentlich die zu niedrige oder verspätete Festsetzung (§ 370 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 AO), voraus; erst damit realisiert sich eine Ersparnis, die ursächlich (§ 73 Abs. 1 Alternative 1 StGB: ?durch die Tat?) auf die tatbestandsmäßige Handlung zurückzuführen ist:
(a) Da, wie aufgezeigt, das bloße Nichtbegleichen einer offenen Steuerschuld noch nicht die Tatbestandsvoraussetzung des ?etwas erlangt? erfüllt, kann es nicht darauf ankommen, dass die Ertragsteuerschuld mit Ablauf des entsprechenden Veranlagungszeitraums (§ 36 Abs. 1 EStG/§ 18 GewStG), namentlich des Kalenderjahres (§ 25 Abs. 1 EStG), entsteht (§ 38 AO; Schott in Hüls/ Reichling, Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 370 Steuerhinterziehung Rn. 369; a.A. OLG Celle, Urteil vom 14. Juni 2019 - 2 Ss 52/19 Rn. 16-19; Gehm, NZWiSt 2019, 434, 435 f.; Pelz, jurisPRCompl 4/2019 Anmerkung 3 unter C.; Pinkenburg/Schubert, wistra 2018, 458, 459). Entscheidend ist, dass der steuerpflichtige Täter die Steuern vor Fälligkeit noch nicht bezahlen muss. Die Möglichkeit zur Realisierung der Steuerersparnis setzt die Fälligkeit des vor Erhebung durch Steuerbescheid festzusetzenden (§ 155 Abs. 1 Satz 1, 2 AO) Steueranspruchs voraus. Nach § 218 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 AO werden die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 Variante 1 AO) durch Steuerbescheide ?verwirklicht?.
(b) Im Falle der Abgabe von unrichtigen oder unvollständigen Ertragsteuererklärungen (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) wird die Fälligkeit des Steueranspruchs erst durch die Bekanntgabe eines Festsetzungsbescheids herbeigeführt (§ 220 Abs. 2 Satz 2, § 122 Abs. 1 AO); letztendlich muss der Steuerpflichtige im Falle einer Abschlusszahlung im Steuererhebungsverfahren die Steuerschuld binnen einen Monats nach Bekanntgabe des Steuerbescheids begleichen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 Alternative 2, Abs. 2 EStG).
(c) Nichts anderes kann entsprechend für die - hier einschlägige - Unterlassenstrafbarkeit (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) gelten; auch insofern setzt die Einziehung die Tatvollendung, namentlich den Erlass eines Schätzungsbescheids oder den allgemeinen Abschluss der Veranlagungsarbeiten, voraus (Schott aaO). Vor Eintritt des Taterfolgs kann der gegen die steuerliche Erklärungspflicht Verstoßende noch nicht frei über die Ersparnis verfügen; er muss etwa mit dem Erlass eines Schätzungsbescheides mit der Folge rechnen, die Gelder in der festgesetzten Höhe nicht zurückhalten zu können (vgl. Ebner, jurisPRSteuerR 42/2019 Anmerkung 1 unter C. I.). Maßgeblich für die Abschöpfung der Ersparnis ist das ?Behaltendürfen? der eigentlich an den Fiskus abzuführenden Gelder; das ?dürfen? beinhaltet eine (erschlichene) ?Zustimmung? des Fiskus bzw. dessen dauerhafte Nichtkenntnis von den zu versteuernden Gewinnen und Einkünften. Mithin kommt es für die Vermögensabschöpfung weder auf die Einordnung des Veranlagungsbescheids - etwa nur als ?deklaratorisch? - an noch darauf, dass durch die Nichtabgabe der Steuererklärung die Bereicherung durch den steuerpflichtigen Vermögenszufluss in voller Höhe aufrechterhalten bleibt und der Teil der an den Fiskus abzuführenden Bereicherung bereits mit Eintritt in das Versuchsstadium, mithin mit Ablauf der Erklärungsfrist, rechtswidrig wird; das Abstellen auf die Tatvollendung ermöglicht eine rechtssichere und insoweit einfach zu handhabende Vermögensabschöpfung.
cc) Nach alledem ist in den Fällen des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO der Zeitpunkt für die Einziehung maßgeblich, zu welchem die Angeklagte infolge fristgemäßer Erklärung veranlagt worden und die Ertragsteueransprüche fällig geworden wären (vgl. Schott aaO). Hierzu sind die zur Tatvollendung bei unterlassener Abgabe von Ertragsteuererklärungen aufgestellten Grundsätze heranzuziehen. Danach tritt der Taterfolg der Steuerverkürzung durch Bekanntgabe eines Schätzungsbescheids, mit dem die Steuern zu niedrig festgesetzt werden, oder zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der Steuerpflichtige veranlagt worden wäre, wenn er die Steuererklärung pflichtgemäß eingereicht hätte; dies ist spätestens dann der Fall, wenn das zuständige Finanzamt die Veranlagungsarbeiten für die betreffende Steuerart und den betreffenden Zeitraum im Wesentlichen abgeschlossen hat, wozu es ausreichender tatsächlicher Feststellungen bedarf (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 4. November 2021 - 1 StR 236/21 Rn. 13; vom 6. April 2021 - 1 StR 60/21 Rn. 4; vom 19. Januar 2011 - 1 StR 640/10 Rn. 8; vom 2. November 2010 - 1 StR 544/09 Rn. 77 und vom 28. Oktober 1998 - 5 StR 500/98 Rn. 3; einschränkend BGH, Beschluss vom 19. Januar 2011 - 1 StR 640/10 Rn. 8 f.). Nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe hat sich das Landgericht rechtsfehlerfrei nicht die Überzeugung bilden können, dass die Angeklagte schon vor der Bekanntgabe der Einleitung des Steuerstrafverfahrens im Mai 2017 zur Einkommen- oder Gewerbesteuer für das Jahr 2015 veranlagt worden wäre.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich daraufhin, dass klarzustellen ist, ob der Gewinn des Einzelunternehmens aufgrund Betriebsvermögensvergleichs (§ 5 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG) oder aufgrund einer Einnahme-Überschussrechnung (§ 4 Abs. 3 EStG) zu ermitteln ist. Bei Bestimmung des Umfangs der betrieblichen Einkünfte sind jeweils die für denselben Besteuerungszeitraum nachzuzahlenden Umsatzsteuern abzuziehen (st. Rspr.; zuletzt BGH, Beschlüsse vom 29. Juli 2021 - 1 StR 30/21 Rn. 17 und vom 1. Juni 2021 - 1 StR 127/21 Rn. 10; je mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 471
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede