HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 687
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 302/23, Urteil v. 07.12.2023, HRRS 2024 Nr. 687
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mainz vom 20. März 2023 werden verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch erwachsenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt und den Anrechnungsmaßstab für die im Ausland erlittene Auslieferungshaft bestimmt. Ferner hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seine Führerscheine eingezogen und eine Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis bestimmt. Hiergegen richten sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte, zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, die sich gegen die unterbliebene Verurteilung wegen Mordes und versuchten Mordes wendet, sowie die ebenfalls auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Beide Rechtsmittel sind unbegründet.
Nach den Feststellungen mietete der Angeklagte, der ? wie er wusste ? keine Fahrerlaubnis besaß, im Sommer 2022 ein hochmotorisiertes Kraftfahrzeug an, das über eine Nennleistung von 286 PS verfügte und von 0 auf 100 km/h in 5,8 Sekunden beschleunigt werden konnte. Das Fahrzeug war neben einem elektronischen Stabilisierungsprogramm (ESP) und einem Antiblockiersystem (ABS) mit Matrix LED-Scheinwerfern ausgerüstet, deren Lichtkegel im Stadtverkehr eine Reichweite von 40 Metern und ab einer Geschwindigkeit von 80 km/h von mindestens 50 Metern erreichte.
Am Abend des 7. Juli 2022 fuhr der Angeklagte mit dem Pkw ohne bestimmtes Ziel durch die Innenstadt von W. Er traf zwei Freunde und fuhr gemeinsam mit ihnen mit dem Auto umher, wobei er mehrfach das Beschleunigungs- und Fahrverhalten des Fahrzeugs testete und dieses streckenweise auf bis zu 161 km/h beschleunigte. Gegen 23:18 Uhr befuhr der Angeklagte, der den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, die über eine Strecke von mindestens 500 Metern geradlinig verlaufende L. straße, die einen Fahrstreifen in jede Fahrtrichtung aufweist und sich erst in dem rund 210 Meter entfernten, mit Lichtzeichenanlage geregelten Kreuzungsbereich mit der H. straße aufgrund einer Abbiegespur auf drei Fahrspuren erweitert. An dem von ihm befahrenen Streckenabschnitt der L. straße befinden sich neben Wohnhäusern und kleineren Geschäften auch Gaststätten, die ? wie der ortskundige Angeklagte wusste ? auch zu später Stunde noch geöffnet waren. Bei seiner Annäherung an die Kreuzung L. straße/He. straße, an der in seiner Fahrtrichtung zwei Fahrzeuge bei rotem Ampellicht warteten, erkannte der Angeklagte, dass die Lichtzeichenanlage in wenigen Sekunden auf „grün“ schalten würde und die Ampel im nächsten Kreuzungsbereich L. straße/H. straße in seiner Fahrtrichtung bereits Grünlicht zeigte. Er entschloss sich daher aus eigensüchtigen Gründen, Vollgas zu geben und die nach den situativen Gegebenheiten höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen; dabei setzte er sich bewusst über die ihm bekannte, innerorts geltende Geschwindigkeitsbeschränkung und die Pflicht zur Vermeidung unnötiger Gefährdungen anderer hinweg. In Umsetzung seines Tatentschlusses überholte er die vor ihm wartenden beiden Fahrzeuge unter Nutzung der Gegenfahrspur und beschleunigte sein Fahrzeug maximal. Ihm war dabei insbesondere bewusst, dass die rund 210 Meter entfernte Kreuzung der L. straße mit der H. straße eine beampelte Fußgängerfurt aufwies; er rechnete damit, dass Fußgänger die Fahrbahn der L. straße trotz für sie geltenden Rotlichts queren könnten. Ihm war weiterhin bewusst, dass die Fußgänger wegen seines Beschleunigungsverhaltens keine sichere Risikoeinschätzung würden vornehmen können. Zwar nahm er die von ihm erkannte Gefahr einer tödlichen Kollision billigend in Kauf; er vertraute jedoch darauf, dass sich die Fußgänger entweder im letzten Moment aus dem Gefahrenbereich würden retten oder er selbst würde ausweichen können, so dass es letztendlich bei einem „Beinaheunfall“ bleiben würde.
Tatsächlich gingen die späteren Geschädigten E. und D. auf dem aus Sicht des Angeklagten linken Gehweg in Fahrtrichtung des Angeklagten. Beide waren nach einem Gaststättenbesuch alkoholisiert. An der Kreuzung der L. - mit der H. straße forderten sie an der Fußgängerampel Grünlicht an, warteten dieses aber nicht ab, sondern betraten, nachdem sie ein Fahrzeug hatten passieren lassen, die über die Fahrbahn führende Fußgängerfurt bei für sie weiterhin „rot“ zeigendem Ampelsignal. Das zu diesem Zeitpunkt noch 146 Meter von der Fußgängerfurt entfernte Fahrzeug des Angeklagten bemerkten sie nicht. Der Angeklagte gab weiterhin Vollgas und erreichte schließlich eine Geschwindigkeit von 123 km/h. Als er die Geschädigten aus einer Entfernung von 41 Metern erstmals sah, hatten sie bereits rund fünf Meter der Fahrbahnbreite zurückgelegt und befanden sich noch rund 1,4 Meter von der Fahrspur des Angeklagten entfernt. Er leitete sofort eine Vollbremsung ein und unternahm ein Ausweichmanöver. Es gelang ihm jedoch nicht, sein Fahrzeug vor den beiden Geschädigten zum Stillstand zu bringen oder ihnen auszuweichen. In der Folge kollidierte er mit einer Geschwindigkeit von noch 94 km/h mit dem Geschädigten E., der infolgedessen durch die Luft geschleudert und getötet wurde. Der Geschädigte D. war kurz vor der Kollision „zurückgezuckt“ und wurde vom Fahrzeug des Angeklagten nicht erfasst. Die Geschädigten hätten das Fahrzeug spätestens in einer Entfernung von 57 Metern wahrnehmen und bei zutreffender Geschwindigkeitseinschätzung die Kollision „durch bloßes Stehenbleiben“ vermeiden können. Der Unfall wäre bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h auch für den Angeklagten vermeidbar gewesen (Fall 1 der Urteilsgründe).
Nach dem Zusammenstoß bremste der Angeklagte weiter ab und fuhr - weiterhin in dem Bewusstsein, nicht im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis zu sein - davon, um die Feststellung seiner Unfallbeteiligung zu vereiteln (Fall 2 der Urteilsgründe).
Das Landgericht hat das Geschehen bis zu dem Unfall (Fall 1 der Urteilsgründe) als verbotenes Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit (vorsätzlichem) Fahren ohne Fahrerlaubnis gewertet. Von einem tateinheitlich verwirklichten Mord zum Nachteil des Getöteten E. und einem versuchten Mord zum Nachteil des Geschädigten D. hat es sich nicht zu überzeugen vermocht. Zwar habe der Angeklagte den Eintritt eines tödlichen Erfolgs bei einer Kollision mit seine Fahrbahn querenden Fußgängern für möglich gehalten; er habe jedoch möglicherweise auf das Ausbleiben eines tödlichen Erfolgs vertraut.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.
1. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist zulässig erhoben. Insbesondere ist es entgegen der Auffassung der Verteidigung formgerecht eingelegt und begründet worden. Dem Formerfordernis des § 32b Abs. 3 Satz 2 StPO mussten die Übermittlung des Rechtsmittels und seiner Begründung nicht genügen. Denn dieses besteht nur unter der hier nicht gegebenen Voraussetzung, dass die Verfahrensakte elektronisch geführt wird (vgl. BGH, Urteil vom 12. September 2023 - 3 StR 306/22 Rn. 87; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 32b Rn. 6; Claus in SSW-StPO, 5. Aufl., § 32b Rn. 8; Radke in jurisPK-ERV, 2. Aufl., § 32b StPO Rn. 6; aA Pollähne in Gercke/Temming/Zöller, StPO, 7. Aufl., § 32b Rn. 4; Pragal/Rhein, StV-Spezial 2023, 132).
Dieses Verständnis der Norm folgt zwar nicht ohne weiteres aus ihrem Wortlaut, der ? anders als § 32b Abs. 3 Satz 1 StPO ? die elektronische Aktenführung nicht ausdrücklich erwähnt. Es ergibt sich jedoch aus der Auslegung der Vorschrift unter systematischen, historischen und teleologischen Gesichtspunkten: Hierfür spricht zunächst, dass die Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung der Revision und ihrer Begründung (sowie der weiteren aufgezählten Dokumente) im selben Absatz wie die ausdrücklich unter dem Vorbehalt der elektronischen Aktenführung stehende Sollverpflichtung zur elektronischen Übermittlung aller anderen Dokumente (§ 32b Abs. 3 Satz 1 StPO) geregelt ist. Dieser enge Zusammenhang deutet darauf hin, dass das Gesetz den ersten Halbsatz des Satzes 1 als eine für den gesamten Absatz geltende Voraussetzung versteht; anderenfalls wäre eine Klarstellung dahingehend zu erwarten, dass sich die Vorschriften der Sätze 1 und 2 nicht nur in der Strenge ihres Anwendungsbefehls (als Soll- bzw. Mussvorschrift), sondern zusätzlich auch in ihrem zeitlichen Geltungsbereich unterscheiden, an der es indes fehlt. Dem entspricht auch die Gesetzesbegründung zu § 32b StPO-E, die den Regelungsgehalt des Absatzes 3 der Vorschrift pauschal dahin zusammenfasst, dass „bei elektronischer Aktenführung“ grundsätzlich elektronische Dokumente übermittelt werden sollen (BT-Drucks. 18/9416, S. 48). Eine Differenzierung zwischen den ersten beiden Sätzen des Absatzes nimmt die Gesetzesbegründung auch im Weiteren - wobei sie allerdings unzutreffend „im zweiten Halbsatz des Satzes 1 genannte Dokumente“ in Bezug nimmt - allein danach vor, ob die elektronische Form zwingend (Satz 2) oder nur im Regelfall (Satz 1) zu verwenden ist (aaO, S. 49). In dieselbe Richtung deutet auch die amtliche Überschrift des § 32b StPO, die im Gegensatz zu der für Rechtsanwälte und Verteidiger geltenden, ein von der Einführung der elektronischen Akten unabhängiges Formerfordernis begründenden Vorschrift des § 32d StPO nicht von einer Übermittlungspflicht spricht. Hätte der Gesetzgeber für die in § 32b Abs. 3 Satz 2 StPO geregelten Dokumentarten eine § 32d Satz 2 StPO entsprechende vorbehaltlos bestehende Pflicht zur elektronischen Übermittlung regeln wollen, hätte es zudem nahegelegen, dies für alle Adressaten (Rechtsanwälte und Verteidiger sowie die Staatsanwaltschaft), in einer einheitlichen Vorschrift zu tun, wie es der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte vom 23. September 2014 noch vorsah (vgl. § 32d RefE) und wie es auch in Parallelvorschriften in anderen Prozessordnungen der Fall ist (vgl. z.B. - jew. bzgl. Rechtsanwälten und Behörden - § 130d ZPO, § 55d Satz 1 VwGO).
Soweit der Gesetzesbegründung teleologische Erwägungen zu entnehmen sind, sprechen schließlich auch diese für das hier zugrunde gelegte Verständnis der Norm. So wird dort die Regelung in § 32b Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 StPO, wonach eine vorübergehend unmögliche elektronische Übermittlung auf Anforderung nachzuholen ist, dahingehend erläutert, es solle sichergestellt werden, dass das betreffende Dokument nicht erst vom Empfänger in die elektronische Form zu überführen ist (BT-Drucks. 18/9416, S. 49). Ein Bedürfnis für eine solche Überführung besteht indes erst, wenn tatsächlich eine elektronische Akte geführt wird. Überdies steht die Annahme, dass eine Pflicht zur elektronischen Übermittlung bestimmter Dokumente für die Staatsanwaltschaft erst unter dieser Voraussetzung bestehen soll, wohingegen Rechtsanwälte und Verteidiger hierzu bereits seit Inkrafttreten des § 32d StPO unabhängig von der Art der gerichtlichen Aktenführung verpflichtet sind, mit den Ausführungen der Gesetzesbegründung zu den durch die Neuregelung zu erwartenden Erfüllungsaufwänden in Einklang. Denn diese belegen die den Vorschriften zur elektronischen Kommunikation im Strafverfahren zugrundeliegende gesetzgeberische Annahme, dass auf Seiten der öffentlichen Hand teils noch erhebliche Maßnahmen zur Einführung der benötigten Infrastruktur ausstehen, wohingegen diese auf Seiten der Verteidiger jedenfalls bei der Rechtsanwaltschaft (gemäß § 31a BRAO) bereits als vorhanden vorausgesetzt werden kann (BT-Drucks. 18/9416, S. 36 ff.). Angesichts dessen liegt es auch fern anzunehmen, § 32b Abs. 3 StPO könnte den (womöglich technisch noch nicht hinreichend ausgestatteten) Staatsanwaltschaften die elektronische Übermittlung der in Satz 2 der Vorschrift genannten, besonders wichtigen Dokumente bereits seit dem 1. Januar 2022 auferlegt haben, ihnen für die alle sonstigen Dokumente betreffende Sollverpflichtung aber eine Übergangsperiode bis längstens zur obligatorischen Einführung der elektronischen Akte im Jahr 2026 gewährt haben.
2. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf die Verurteilung im Fall 1 der Urteilsgründe sowie die Aussprüche über die Gesamtstrafe und die Maßregel beschränkt.
Zwar hat die Beschwerdeführerin einen umfassenden Aufhebungsantrag gestellt und die Sachrüge erhoben. Nach dem Inhalt der Revisionsbegründungsschrift erstrebt sie mit ihrem zuungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittel aber allein die Aufhebung des Urteils wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge mit dem Ziel einer Verurteilung des Angeklagten wegen eines vollendeten und eines versuchten Tötungsdelikts. Sie macht geltend, dass die tatgerichtlichen Beweiserwägungen, die der Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes im Fall 1 der Urteilsgründe zugrunde liegen, rechtsfehlerhaft seien. Dass auch Rechtsfehler in Bezug auf das Verhalten des Angeklagten nach der Kollision (Fall 2 der Urteilsgründe) geltend gemacht werden sollen, ist der Revisionsbegründung auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht zu entnehmen. Der Senat geht daher, auch mit Blick auf Nr. 156 Abs. 2 RiStBV, davon aus, dass ausschließlich die strafrechtliche Bewertung des Verhaltens des Angeklagten bis zu dem Unfall angegriffen sein soll (vgl. auch BGH, Urteil vom 16. Februar 2023 - 4 StR 211/22 Rn. 11 mwN). Das Rechtsmittel richtet sich damit gegen den Schuldspruch und die Einzelstrafe im Fall 1 sowie gegen die hiermit untrennbar verbundenen Aussprüche über die Gesamtstrafe und über die vom Landgericht ausdrücklich auch auf die Tathandlung im Fall 1 gestützte Maßregelanordnung.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet. Die Nachprüfung des Urteils hat im Umfang der Anfechtung Rechtsfehler weder zum Vorteil noch zum Nachteil (§ 301 StPO) des Angeklagten ergeben. Der Erörterung bedarf nur das Folgende:
1. Die tatgerichtliche Annahme, der Angeklagte habe mit bedingtem Gefährdungsvorsatz im Sinne des § 315d Abs. 2 und Abs. 5 StGB, aber nicht mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt, begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
a) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten (vgl. BGH, Urteile vom 16. Februar 2023 - 4 StR 211/22 Rn. 19; vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19, BGHSt 65, 42, 49 f.; vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93). Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Die Prüfung, ob Vorsatz oder (bewusste) Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, dass sich das Tatgericht mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung, seine Motivlage und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände ? insbesondere die konkrete Angriffsweise ? mit in Betracht zieht. Die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist zwar ein wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes. Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts sind aber keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an. Bei der gebotenen Gesamtschau hat das Tatgericht die im Einzelfall in Betracht kommenden, für und gegen das Vorliegen eines Vorsatzes sprechenden Umstände in seine Erwägungen einzubeziehen (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19 Rn. 23 mwN).
b) Die Würdigung der Beweise ist vom Gesetz dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO). Die revisionsrechtliche Prüfung ist demgegenüber darauf beschränkt, ob dem Tatgericht bei der Würdigung der Beweise Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder das Gericht überspannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 13. April 2023 - 4 StR 429/22 Rn. 19 mwN). Sind derartige Rechtsfehler nicht feststellbar, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 7. September 2022 ? 6 StR 52/22 Rn. 14; Urteil vom 16. August 2012 ? 3 StR 237/12, NStZ-RR 2012, 369, 370).
c) Gemessen hieran ist gegen die Beweiswürdigung des Schwurgerichts zur subjektiven Tatseite von Rechts wegen nichts zu erinnern. Das Landgericht hat alle maßgeblichen vorsatzrelevanten objektiven und subjektiven Tatumstände in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt und ist auf dieser Grundlage nachvollziehbar und widerspruchsfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass das voluntative Vorsatzelement nicht zweifelsfrei festgestellt werden könne.
aa) Das Landgericht hat als ein (auch) auf das voluntative Vorsatzelement hindeutendes Indiz die außergewöhnliche Gefährlichkeit des Fahrverhaltens des Angeklagten gewertet, der die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als das Doppelte überschritt. Es hat bedacht, dass dieses Fahrverhalten angesichts der Dunkelheit eine besondere Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer, insbesondere für Fußgänger begründete. Demgegenüber hat das Landgericht weder in der Persönlichkeit noch in seiner Motivation Gesichtspunkte festzustellen vermocht, die für das voluntative Vorsatzelement sprechen könnten. Die äußeren Tatumstände ließen darauf schließen, dass der Angeklagte das Beschleunigungs- und Fahrverhalten des ihm nur kurzzeitig verfügbaren Fahrzeugs habe austesten wollen. Angesichts seiner Ausbildung als Kraftfahrzeug-Mechatroniker und seiner Fahrerfahrung liege die Annahme nicht fern, dass er sich - in Selbstüberschätzung - für fähig gehalten habe, etwaige kritische Situationen im letzten Moment noch zu beherrschen, was ausweislich des unfallanalytischen Gutachtens auch nicht ohne tatsächliche Grundlage gewesen sei.
Als gegen das Vorliegen des voluntativen Vorsatzelements sprechende Beweisanzeichen hat es insbesondere berücksichtigt, dass ? wovon es sich auf der Grundlage der Ausführungen des verkehrstechnischen Sachverständigen überzeugt hat ? eine Kollision bei zutreffender Geschwindigkeitsabschätzung durch die beiden Fußgänger ohne Weiteres hätte vermieden werden können; die Einlassung des Angeklagten, darauf vertraut zu haben, dass sein Fahrzeug angesichts der gerade verlaufenden Fahrtstrecke rechtzeitig optisch und aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeit auch akustisch für Fußgänger „gut wahrnehmbar“ gewesen sei, und sein Vertrauen darauf, dass die Fußgänger sich im letzten Moment aus dem Gefahrenbereich würden retten können, sei daher nicht lebensfremd, wie auch die Reaktion des Geschädigten D. zeige. Weiterhin hat das Landgericht in dem Umstand, dass der ortskundige Angeklagte sich auf einer gerade und eben verlaufenden, gut ausgeleuchteten Fahrtstrecke ohne Querverkehr bei für ihn Grünlicht zeigendem Ampelsignal zu dem Allein-Rennen entschloss, ein Indiz dafür gesehen, dass er zwar den Eintritt einer Gefahr, nicht aber eine Kollision mit tödlichem Erfolg billigte.
Zudem hat das Schwurgericht die vom Angeklagten erkannte Eigengefahr als gegen einen Tötungsvorsatz sprechenden Umstand gewertet. Dies entspricht gefestigter Rechtsprechung des Senats; danach kommt der vorgestellten Eigengefahr deshalb vorsatzkritische Bedeutung zu, weil diese ein mögliches Indiz für das Vertrauen des Täters sein kann, dass gerade der die Eigengefahr begründende Geschehensablauf nicht eintreten werde (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19 Rn. 33). Das Schwurgericht hat ? entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft ? bedacht, dass die Risiken bei einer frontalen Kollision eines Kraftfahrzeugs mit einem Fußgänger ungleich verteilt sein können; auf der Grundlage der Ausführungen des verkehrstechnischen Sachverständigen ist es jedoch nachvollziehbar zu der Überzeugung gelangt, dass bei einer „Kollision im Hochgeschwindigkeitsbereich“ dem Gesichtspunkt der Eigengefährdung nicht jegliches Gewicht abzusprechen sei; dies ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Mit ihrem Vorbringen, das Schwurgericht habe dem Gesichtspunkt der Eigengefährdung ein „zu hohes Gewicht“ beigemessen, zeigt die Revision keinen Rechtsfehler auf, sondern unternimmt den revisionsrechtlich untauglichen Versuch, die Würdigung des Schwurgerichts durch ihre abweichende eigene Wertung zu ersetzen.
Das Landgericht hat ferner zu Recht das der Vermeidung einer Kollision dienende Verhalten des Angeklagten nach Erkennen der Gefahr des Zusammenstoßes (Bremsung und Ausweichbewegung) als ein vorsatzkritisches Indiz angesehen. Hiermit hat es seiner Vorsatzprüfung nicht ? wie die Staatsanwaltschaft meint ? entgegen § 16 Abs. 1 StGB einen zu späten Zeitpunkt zugrunde gelegt; vielmehr hat es, wie der Gesamtzusammenhang der beweiswürdigenden Urteilsausführungen ergibt, lediglich einen - möglichen - Rückschluss auf den Willen des Angeklagten im maßgeblichen Tatzeitpunkt (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2018 - 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 91) gezogen. Dass es schließlich keinen Anhaltspunkt dafür gesehen hat, dass der Angeklagte, der ein Rennen gegen sich selbst und ohne „direkte Konkurrenz“ fuhr, einen Siegeswillen um jeden Preis ? und sei es um das Leben Dritter ? gehabt haben könnte, und auch diesen Umstand auf der motivationalen Ebene als gegen einen bedingten Tötungsvorsatz sprechend angesehen hat, ist von Rechts wegen ebenfalls nicht zu beanstanden.
bb) Entgegen der Auffassung der Revision sind die tatgerichtlichen Beweiserwägungen nicht lückenhaft. Das Landgericht hat den besonderen Kenntnissen des Angeklagten, der eine Ausbildung zum Kraftfahrzeugmechatroniker absolviert hat, im Wesentlichen Beweisbedeutung für das Vorliegen des kognitiven Vorsatzelements beigemessen. Zwar erschiene es rechtlich nicht gänzlich unbedenklich, wenn das Landgericht der Ausbildung und Fahrerfahrung des Angeklagten Beweisbedeutung gegen das Vorliegen des voluntativen Vorsatzelements allein mit dem Hinweis beigemessen hätte, dass es vor diesem Hintergrund „zumindest nicht fernliegend“ erscheine, dass er in Selbstüberschätzung davon ausgegangen ist, sein Fahrzeug im letzten Moment einer kritischen Verkehrssituation doch noch beherrschen und rechtzeitig auf solche reagieren zu können. Der Senat entnimmt dem Zusammenhang der Urteilsgründe jedoch, dass das Landgericht insoweit nicht auf einen Geschehensablauf abgestellt hat, für den es an tatsächlichen Anhaltspunkten fehlt, sondern dass es auf der Grundlage der Angaben des Mitfahrers C., der von der hohen Konzentration des Angeklagten berichtet hat, tragfähig darauf geschlossen hat, dass es dem Angeklagten tatsächlich darauf ankam, die von ihm hervorgerufenen Gefahrenlagen im letzten Moment entschärfen und die Realisierung der hervorgerufenen Gefahr verhindern zu können.
cc) Die Beweiserwägungen, mit denen das Landgericht das voluntative Element eines bedingten Tötungsvorsatzes verneint hat, stehen entgegen der Auffassung der Revision auch nicht in einem Spannungsverhältnis zu den - auch ihrerseits rechtsfehlerfreien - Erwägungen, mit denen das Schwurgericht einen auf die Herbeiführung eines Beinaheunfalls im Sinne von § 315c Abs. 1, § 315d Abs. 2 und 5 StGB gerichteten Gefährdungsvorsatz des Angeklagten bejaht hat (vgl. zum Verhältnis von Tötungs- und Gefährdungsvorsatz BGH, Urteile vom 18. August 2022 - 4 StR 377/21 Rn. 13; vom 31. Januar 2019 - 4 StR 432/18 Rn. 13 mwN).
Der vom Landgericht insoweit aus dem festgestellten äußeren Tatgeschehen ? insbesondere der hochgefährlichen Fahrweise des mit den örtlichen Verhältnissen vertrauten Angeklagten ? gezogene Schluss, dass er „den Reiz des Gefährlichen“ gesucht und im Zeitpunkt des Tatentschlusses den Eintritt einer kritischen Situation billigend in Kauf genommen habe, in der ein Schaden (insbesondere durch sein vorgestelltes eigenes fahrerisches Können) erst im letzten Moment würde abgewendet werden können, ist möglich und deshalb vom Senat hinzunehmen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 30. März 2023 - 4 StR 234/22 Rn. 12 mwN).
2. Die Feststellungen tragen den Schuldspruch im Fall 1 der Urteilsgründe auch im Übrigen. Dies gilt auch für die tateinheitliche Verurteilung wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs. Denn nach den Feststellungen war die Fußgängerfurt, in deren Bereich die Geschädigten die Fahrbahn betreten hatten und der Geschädigte E. erfasst wurde, Teil der Straßenkreuzung. Die Kollision des Angeklagten mit diesem und der Beinaheunfall mit dem Geschädigten D. standen daher in dem von § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB vorausgesetzten Risikozusammenhang mit der überhöhten Geschwindigkeit des Angeklagten (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2018 - 4 StR 311/17, DAR 2018, 380 Rn. 27 ff.).
3. Straf- und Maßregelausspruch weisen Rechtsfehler weder zum Vorteil noch zum Nachteil des Angeklagten auf. Der näheren Erörterung bedarf nur das Folgende:
Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht davon abgesehen, dem Angeklagten im Hinblick auf die gegen ihn am 12. Juli 2022 in Bulgarien rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, einen Härteausgleich zu gewähren. Grundsätzlich sind bei der Strafzumessung zwar etwaige Härten in den Blick zu nehmen, die durch die zusätzliche Vollstreckung von Strafen drohen, welche von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, wenn diesbezüglich in zeitlicher Hinsicht die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB erfüllt wären (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2023 - 4 StR 495/22 Rn. 6 mwN). Allerdings erweist sich der Umstand, dass eine Einbeziehung der bulgarischen Vorstrafe in die hiesige Gesamtstrafe rechtlich ausgeschlossen ist, von vornherein nicht als ausgleichsbedürftiger Nachteil für den Angeklagten. Denn eine Einbeziehung hätte zur Folge gehabt, dass sich die nicht bewährungsfähige Gesamtfreiheitsstrafe, die das Landgericht gegen den Angeklagten verhängt hat, erhöht hätte (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juni 2023 - 4 StR 481/22 Rn. 50).
Die Revision des Angeklagten ist zulässig, aber unbegründet.
Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat auch hinsichtlich der von der Revision der Staatsanwaltschaft nicht erfassten Urteilsteile (Schuldspruch und Einzelstrafe im Fall 2 der Urteilsgründe sowie die Bestimmung des Anrechnungsmaßstabs für die in Bulgarien erlittene Auslieferungshaft) keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 687
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede