HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 329
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 168/23, Urteil v. 07.12.2023, HRRS 2024 Nr. 329
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 6. Juli 2022 wird verworfen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorgenannte Urteil aufgehoben, soweit davon abgesehen worden ist, die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen acht Fällen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten verurteilt und die Einziehung von „Wertersatz“ in Höhe von 653.726 Euro angeordnet. Hiergegen richten sich mit Verfahrens- und Sachrügen die Revision des Angeklagten und die auf die Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird. Während das Rechtsmittel des Angeklagten erfolglos bleibt, führt dasjenige der Staatsanwaltschaft im Anfechtungsumfang zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts handelte der zuletzt am 19. Juni 2019 (rechtskräftig seit dem 28. April 2020) wegen Drogenhandels und eines Waffendelikts (Tatzeiten 2015 und 2016) zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilte Angeklagte zwischen dem 2. April 2020 und dem 12. Juni 2020 mittels eines Krypto-Mobiltelefons der Firma EncroChat in Gewinnerzielungsabsicht und auch zur dauerhaften Finanzierung seines Lebensunterhalts wie folgt mit Drogen: Am 2. April 2020 bestellte er 2 kg Crystal für mindestens 60.000 Euro, die er anschließend gewinnbringend verkaufte; eine Restzahlung des Einkaufs erfolgte am 11. Mai 2020 (Tat 1). Am 21. April 2020 verkaufte er 1 kg Crystal zum Preis von 17.000 Euro, das am selben Tag gegen Zahlung des Kaufpreises übergeben wurde (Tat 2). Am 8. Mai 2020 bestellte er 15 kg Crystal für 9 Euro pro Gramm zum gewinnbringenden Weiterverkauf und erhielt davon 13,91 kg (Tat 3). Am 13. Mai 2020 verkaufte der Angeklagte zwei Tage zuvor bestellte 10 kg Crystal für 100.000 Euro (Tat 4). Am 19. Mai 2020 verkaufte er wiederum zwei Tage zuvor bestellte 10 kg Crystal für insgesamt 100.000 Euro (Tat 5). Von einem anderen EncroChat-Nutzer bestellte der Angeklagte am 17. Mai 2020 20 kg Marihuana für 52.000 Euro, die ihm am 20. Mai 2020 geliefert wurden; er verkaufte diese gewinnbringend weiter (Tat 6). Am 4. Juni 2020 verkaufte der Angeklagte zwei Tage zuvor bestellte 15 kg Crystal für 150.000 Euro (Tat 7). Am 12. Juni 2020 erhielt der Angeklagte zuvor bestellte 10 kg Marihuana für 38.500 Euro, die er gewinnbringend verkaufte (Tat 8). Das Crystal hatte einen Wirkstoffgehalt zwischen 75 und 80 % Methamphetamin-Base, das Marihuana einen solchen von 13,1 % Tetrahydrocannabinol.
2. Ihre Überzeugung von der Schuld des zu den Tatvorwürfen schweigenden Angeklagten hat die Strafkammer insbesondere auf Chat-Nachrichten des dem Angeklagten aufgrund verschiedener Chatinhalte zugeordneten EncroChat-Anschlusses, die Angaben eines Kuriers und Durchsuchungsergebnisse gestützt. Die Wirkstoffmengen hat sie mit Ausnahme von Tat 2 (Teilsicherstellung bei einem Abnehmer) auf der Grundlage sachverständiger Angaben geschätzt.
3. In rechtlicher Hinsicht hat das Landgericht acht Taten des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angenommen und hierfür Einzelstrafen zwischen drei Jahren und sechs Monaten und acht Jahren verhängt. Seiner Einziehungsentscheidung hat es die Summe der beim Verkauf erzielten Erlöse mit der Begründung zugrunde gelegt, diese seien dem Angeklagten mindestens in Höhe der Ankaufspreise zugeflossen.
Die mit Verfahrensrügen und der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.
1. Die Verfahrensrügen versagen.
a) Die Rügen eines Verstoßes gegen § 261 StPO (auch iVm § 249 Abs. 2 StPO) in Bezug auf Chatinhalte erweisen sich nach den insoweit wirksam vorgenommenen Protokollberichtigungen (vgl. zu den Voraussetzungen BGH, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298) jedenfalls als unbegründet.
b) Gegen die Rüge, die EncroChat-Daten seien im Urteil zu Unrecht verwertet worden, bestehen schon durchgreifende Zulässigkeitsbedenken, weil der Vortrag nicht § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspricht. Zum einen nimmt die Rüge auf zahlreiche andere Verfahren Bezug, ohne deren Inhalt dem Senat zur Kenntnis zu geben. Zum anderen fehlen maßgebliche, für die Frage der Verwertbarkeit relevante Unterlagen, da im Wesentlichen lediglich die im Strafverfahren vorgetragenen Schriftsätze vorgelegt werden, nicht aber die Schriftstücke, auf deren Grundlage etwa die Daten erhoben oder übermittelt worden sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. April 2023 - 3 StR 489/22; vom 16. Februar 2023 - 4 StR 93/22, NStZ 2023, 443). Die Rüge gibt dem Senat zudem auch in der Sache keinen Anlass, von seiner Grundsatzentscheidung zur Verwertung von EncroChat-Daten (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21, BGHSt 67, 29) abzugehen. Durchgreifende europarechtliche Bedenken gegen diese Entscheidung bestehen nicht (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin vom 26. Oktober 2023 in dem Vorabentscheidungsersuchen des LG Berlin C-670/22 beim EuGH). Die von der Revision zitierte Entscheidung des französischen Kassationshofs vom 11. Oktober 2022 (M 21-85.148 FD) betrifft lediglich eine Frage des rechtlichen Gehörs, ist aber für das inhaltliche Problem der Verwertbarkeit der EncroChat-Daten unergiebig.
2. Die Sachrüge deckt keine durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
a) Insbesondere liegt bei den Taten 3 bis 5 keine Bewertungseinheit vor, da die verschiedenen Verkäufe auf jeweils unterschiedlichen Bestellungen beruhten. Soweit die Revision allen drei Verkaufstaten eine einheitliche Bestellung der Gesamtmenge unterlegt, wird dies von den Feststellungen nicht getragen. Die im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegten Chat-Verkäufe (etwa „Bruder ich sag denen du schaffts im Monat deine 50“) sowie die Ausführung des Landgerichts, die Abnahmemenge von insgesamt 50 kg pro Monat habe zu dem günstigen Preis von 9 Euro pro Gramm geführt, belegen eine einheitliche Bestellung von 50 kg Crystal nicht, sondern lediglich eine Rabattabrede bei Erreichen eines Mindestbestellvolumens pro Monat. Dies verbindet verschiedene Erwerbs- und Verkaufsvorgänge nicht zu einer Bewertungseinheit.
b) Allerdings ist die Strafkammer im Rahmen der Strafzumessung zu Unrecht pauschal davon ausgegangen, dass der Angeklagte „einschlägig vorbestraft“ war. Dies trifft auf die am 21. April 2020 beendete Tat 2 angesichts der Rechtskraft der Vorverurteilung am 28. April 2020 nicht zu. Der Senat schließt aber aus, dass die Bemessung der Einzelstrafe auf diesem Rechtsfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO), da die Strafkammer dem Angeklagten jedenfalls die Warnwirkung der einschlägigen Vorverurteilung vom 19. Juni 2019 anlasten durfte (vgl. BGH, Beschluss vom 18. August 2021 - 5 StR 199/21 Rn. 22).
c) Dass die festgestellten Erlöse dem Angeklagten auch tatsächlich zugeflossen sind, ist beweiswürdigend hinreichend unterlegt.
Die wirksam auf die Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Die Revision ist zulässig. Sie ist insbesondere formgerecht erhoben und begründet worden (§ 341 Abs. 1, § 345 StPO). Die Staatsanwaltschaft war entgegen der Auffassung der Verteidigung nicht gehalten, die Revision elektronisch zu übermitteln.
a) Die Pflicht zur elektronischen Übermittlung nach § 32b Abs. 3 Satz 2 StPO tritt erst dann ein, wenn die Akten elektronisch geführt werden (BGH, Urteil vom 12. September 2023 - 3 StR 306/22 Rn. 87; KKStPO/Graf, 9. Aufl., § 32b Rn. 10 f.; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 66. Aufl., § 32b Rn. 6; SSWStPO/Claus, 5. Aufl., § 32b Rn. 8; SKStPO/Singelnstein, 5. Aufl., § 32b Rn. 11 f.; aA wohl MüKoStPO/Beller/Gründler/Kindler/Rochner, 2. Aufl., § 32b Rn. 2). Dabei kommt es auf das Gericht an, an das Revisionseinlegung und -begründung zu übermitteln sind (vgl. BGH aaO mwN).
b) Am Landgericht Dresden wurden die Strafakten im jeweils relevanten Zeitpunkt nicht elektronisch geführt. Die Umstellung auf die elektronische Aktenführung bei Gerichten und Staatsanwaltschaften erfolgt gemäß § 5 Abs. 1 der Sächsischen E-Justizverordnung bei den in der Anlage 1 der Verordnung benannten Gerichten und Staatsanwaltschaften in denjenigen Verfahren, die durch zu veröffentlichende Verwaltungsvorschrift des Staatsministeriums der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung bestimmt werden. Die Anlage 1 der Sächsischen E-Justizverordnung benennt auch das Landgericht Dresden (Nr. 1). Die zugehörige Verwaltungsvorschrift (VwV Elektronische Verfahrensakte vom 22. März 2022, SächsJMBl. S. 23, zuletzt geändert durch die Verwaltungsvorschrift vom 17. November 2023, SächsJMBl. S. 239) bestimmt allerdings betreffend das Landgericht Dresden die elektronische Aktenführung bislang nur für zivilgerichtliche Verfahren.
2. Die Revision ist wirksam auf die Nichtverhängung von Sicherungsverwahrung beschränkt (vgl. nur BGH, Urteile vom 2. März 2023 - 4 StR 312/22; vom 30. September 2021 - 5 StR 161/21; vom 9. September 2021 - 3 StR 327/20 jeweils mwN). Eine Wechselwirkung zwischen Strafe und Maßregelanordnung besteht grundsätzlich nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 2022 - 4 StR 99/22, NJW 2022, 2945 mwN).
3. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat mit der Rüge Erfolg, das Landgericht habe entgegen § 246a Abs. 1 Satz 1 StPO keinen Sachverständigen herangezogen.
Die Rüge ist zulässig erhoben. Die von der Revisionsführerin mitgeteilten Tatsachen ermöglichen dem Senat die Prüfung, ob die Rechtsnorm des § 246a StPO fehlerhaft angewandt worden ist (vgl. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Rüge ist auch begründet, denn die Strafkammer hat bei ihrer Entscheidung, keinen Sachverständigen in der Hauptverhandlung zu hören, einen falschen Maßstab angelegt.
a) Folgender Verfahrensgang liegt zugrunde: Mit ihrer Anklage vom 19. Mai 2021 wies die Staatsanwaltschaft darauf hin, dass die Anordnung von Sicherungsverwahrung gegen den Angeklagten in Betracht komme. Schon zuvor hatte sie einen psychiatrischen Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Mit Eröffnungsbeschluss vom 22. Dezember 2021 entpflichtete die Strafkammer den Sachverständigen. Sie begründete dies damit, dass zum einen aus den Akten keine Anhaltspunkte für eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit ersichtlich seien und zum anderen die Voraussetzungen für die von der Staatsanwaltschaft begehrte Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht vorlägen. Eine solche käme lediglich nach § 66 Abs. 2 StGB iVm § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB in Betracht. „Selbst wenn man die materiellen Voraussetzungen bejahen würde, scheiden im Hinblick auf die festzustellende ungünstige Legalprognose, die aus dem Hang resultieren muss, Taten gegen das Betäubungsmittelgesetz aus (vergl. Thomas Fischer, StGB, 68. Aufl., § 66, Rn. 61).“ Die Staatsanwaltschaft war zu der beabsichtigten Entpflichtung zuvor angehört worden und hatte unter ausführlicher Darstellung von Rechtsprechung und Literatur dargelegt, weshalb aus ihrer Sicht im konkreten Fall zureichende Anhaltspunkte für die Annahme der Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB vorlägen. Zudem hatte sie auf eine weitere Anklage gegen den Angeklagten vom 16. November 2021 wegen gefährlicher Körperverletzung und darauf hingewiesen, dass der Angeklagte am 30. April 2018 vom Landgericht unter anderem wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung, Besitzes einer verbotenen Waffe (Stahlrute) und Betäubungsmittelhandels zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt worden sei; diese Entscheidung hatte der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 19. Februar 2019 (Az.: 5 StR 513/18) wegen eines fehlerhaften Verhinderungsvermerks (Verstoß gegen § 275 Abs. 1, Abs. 2 StPO) aufgehoben.
Die Strafkammer beschloss mit der Eröffnung eine Besetzung mit zwei Berufsrichtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen. Hiergegen ging die Staatsanwaltschaft vor und wies dabei auch auf das Urteil des Senats vom 30. September 2021 (Az.: 5 StR 161/21) zur Frage der Verhängung von Sicherungsverwahrung wegen zu befürchtender besonders gravierender Betäubungsmitteldelikte hin. Das Landgericht hielt auch im Lichte dieser Entscheidung und der in anderen Verfahren erhobenen Vorwürfe eine Änderung seiner Entscheidung nicht für veranlasst. Das Oberlandesgericht Dresden wies den Besetzungseinwand der Staatsanwaltschaft schließlich als unzulässig zurück, weil er nicht den formellen Anforderungen entsprochen habe.
Ein Sachverständiger zur Frage der Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung wurde in der Hauptverhandlung nicht gehört. Einen entsprechenden Beweisantrag der Staatsanwaltschaft, den zuvor bereits beauftragten Sachverständigen zur Frage der Voraussetzungen von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB zu vernehmen, wies die Kammer wegen rechtlicher Bedeutungslosigkeit mit der Begründung zurück, die formellen Voraussetzungen der Verhängung von Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB lägen nicht vor, weshalb es auf die materiellen Voraussetzungen nicht ankomme.
b) Die Revision beanstandet zu Recht, dass die Vorgehensweise des Landgerichts gegen § 246a Abs. 1 Satz 1 StPO verstößt.
aa) Danach ist in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten zu vernehmen, wenn in Betracht kommt, dass die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten wird. Dabei genügt nach allgemeiner Auffassung bereits die Möglichkeit einer solchen Maßregelanordnung (vgl. BGH, Urteile vom 26. November 2009 - 4 StR 341/09, wistra 2010, 68; vom 29. September 1993 - 2 StR 355/93, NStZ 1994, 95 jeweils mwN).
bb) Die Anordnung von Sicherungsverwahrung war im vorliegenden Fall nach § 66 Abs. 2 und 3 StGB möglich. Die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB lagen vor, denn der Angeklagte hat nach dem Urteil des Landgerichts wegen acht Verbrechen nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG (§ 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. StGB) jeweils Einzelfreiheitsstrafen von über drei Jahren und eine Gesamtfreiheitsstrafe von über zehn Jahren verwirkt. Die Strafkammer hätte deshalb mit Hilfe eines Sachverständigen prüfen müssen, ob auch die materiellen Voraussetzungen der Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB vorliegen, um anschließend gegebenenfalls von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch machen zu können.
Soweit das Landgericht eine solche Anordnung aus Rechtsgründen für ausgeschlossen gehalten hat, weil vom Angeklagten lediglich Betäubungsmittelstraftaten zu erwarten seien, erweist sich dies in zweierlei Hinsicht als rechtsfehlerhaft.
(1) Zum einen ist schon unklar, wie die Strafkammer unter Berücksichtigung der Vorverurteilungen und der gegen den Angeklagten parallel geführten Verfahren zu der Auffassung gekommen ist, von dem Angeklagten seien hangbedingt nur Betäubungsmittelstraftaten zu erwarten. Der Verurteilung vom 19. Juni 2019 lag unter anderem zugrunde, dass der Angeklagte illegal eine halbautomatische Kurzwaffe besaß und damit auf öffentlichem Straßenland in die Luft schoss. Die Vorwürfe in den zum damaligen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen parallel geführten Verfahren betrafen Gewaltdelikte wie gefährliche Körperverletzungen und sexuelle Nötigung. Damit entbehrt die Auffassung der Strafkammer schon der tatsächlichen Grundlage.
(2) Sie erweist sich auch in rechtlicher Hinsicht als nicht haltbar. Entgegen der Auffassung des Landgerichts scheiden Betäubungsmittelstraftaten als „erhebliche“ Prognosetaten nicht von vornherein aus (vgl. BGH, Urteile vom 30. September 2021 - 5 StR 161/21 Rn. 11 ff., 18 f.; vom 27. Juli 2000 - 1 StR 263/00, NJW 2000, 3015; vom 6. Juni 2002 - 3 StR 113/02, NStZ 2002, 537; vom 31. Juli 2008 - 4 StR 152/08, NStZ-RR 2008, 336).
Erhebliche Straftaten nach dieser Vorschrift sind solche, die den Rechtsfrieden empfindlich stören. Kriterien in diesem Sinne ergeben sich zunächst aus den gesetzgeberischen Wertungen, die maßgeblich für die Normierung der formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung geworden sind. Als erhebliche Straftaten kommen danach vornehmlich solche in Betracht, die in den Deliktskatalog von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a bis c StGB fallen und die - wie Vorverurteilungen im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB - im konkreten Fall mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu ahnden wären, ohne dass Letzteres allein zur Annahme der Erheblichkeit ausreicht. Die Hervorhebung von zu erwartenden schweren seelischen oder körperlichen Schäden künftiger Opfer in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB stellt einen weiteren entscheidenden Maßstab zur Bestimmung der Erheblichkeit dar, wobei das Gesetz durch die Verwendung des Wortes „namentlich“ zum Ausdruck bringt, dass mit der Nennung solcher Folgen keine abschließende Festlegung verbunden ist; vielmehr sollen damit lediglich Straftaten von geringerem Schweregrad ausgeschieden werden. Bei der Beurteilung, ob die von dem Angeklagten hangbedingt zu erwartenden Taten in diesem Sinne „erheblich“ sind, kommt es danach auf die Umstände des Einzelfalles an, die im Wege einer sorgfältigen Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten in den Blick zu nehmen sind (vgl. zu all dem BGH, Urteil vom 30. September 2021 - 5 StR 161/21 Rn. 11 ff. mwN).
Die gegenteiligen Entscheidungen des 2. Strafsenats (BGH, Urteil vom 7. Juli 2011 - 2 StR 184/11, NStZ 2012, 32; Beschluss vom 20. Oktober 2011 - 2 StR 288/11, BGHR StGB § 66 Weitergeltung 1), wonach das (einfache) Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge als Prognosetat für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht ausreichen soll (vgl. auch Fischer, StGB, 70. Aufl., § 66 Rn. 61; Körner/Patzak/Volkmer/Fabricius, 10. Aufl., BtMG § 35 Rn. 580), stehen nicht entgegen. Sie bezogen sich auf den Übergangszustand nach Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Regelungen zur Sicherungsverwahrung durch das Bundesverfassungsgericht, wonach § 66 StGB nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Gefahr schwerer Gewalt- und Sexualstraftaten weiter angewandt werden durfte (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08 u.a., BVerfGE 128, 326). Diese erhöhten Anforderungen finden auf den vorliegenden Fall keine Anwendung, weil die Taten nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012 (BGBl. I 2425) am 1. Juni 2013 begangen wurden (vgl. BGH, Urteil vom 30. September 2021 - 5 StR 161/21 Rn. 20 mwN).
c) Entgegen der Auffassung der Verteidigung ist die Staatsanwaltschaft mit ihrer Verfahrensrüge nicht durch den erfolglos gebliebenen Besetzungseinwand präkludiert. Zwar ist eine Besetzungsreduktion nach § 76 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 GVG ausgeschlossen, wenn die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist. Allerdings besteht die Verpflichtung des § 246a Abs. 1 Satz 1 StPO unabhängig von der Frage der Gerichtsbesetzung.
d) Auf dem Rechtsfehler beruht die Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung gegen den Angeklagten (§ 337 Abs. 1 StPO), so dass es auf die mit gleicher Zielrichtung erhobene Sachrüge nicht mehr ankommt. Der Senat kann nicht ausschließen, dass eine erneute Prüfung unter Hinzuziehung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 1 Satz 1 StPO ergibt, dass die materiellen Voraussetzungen der Verhängung von Sicherungsverwahrung vorliegen; das Ergebnis einer dann erforderlichen Ermessensentscheidung ist rechtlich nicht vorgegeben. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Prüfung und Entscheidung, wobei die hierzu berufene Strafkammer nach § 76 Abs. 5 GVG erneut nach Maßgabe von § 76 Abs. 2 und 3 GVG über ihre Besetzung zu entscheiden hat. Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht, weil sie vom Rechtsfehler nicht betroffen sind (vgl. § 353 Abs. 2 StPO).
4. Allerdings neigt der Senat dazu, nicht in allen Fällen mehrfacher Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz bei Erfüllung der formellen Voraussetzungen von § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 StGB die Heranziehung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 1 Satz 1 StPO beziehungsweise eine Erörterung der Maßregel in den Urteilsgründen für erforderlich zu halten. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Die Vorschrift des § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB ermöglicht neben der Verurteilung zur verwirkten Freiheitsstrafe schon bei Erstserientätern die Verhängung unbefristeter Freiheitsentziehung in Sicherungsverwahrung zur Sicherung der Allgemeinheit vor gefährlichen Hangtätern. Es handelt sich um eine Ausnahmevorschrift (BGH, Beschluss vom 5. Oktober 1988 - 3 StR 406/88, StV 1989, 247; LK/Peglau, StGB, 13. Aufl., § 66 Rn. 83). Erfasst werden sollen lediglich „besonders gelagerte Ausnahmefälle“ (BT-Drucks. V/4094, StGB, S. 21), wobei auch vorsätzliche Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz unter § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b StGB fallen und deshalb die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB erfüllen können (vgl. BT-Drucks. 17/4062, S. 14).
Im Bereich der Betäubungsmitteldelikte ist einerseits nicht zu verkennen, dass etwa die Tatbestände des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG), der Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige (§ 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG) oder des Verabreichens von Betäubungsmitteln mit Todesfolge (§ 30 Abs. 1 Nr. 3 Var. 2 BtMG) ein unmittelbarer Leib und Leben anderer gefährdendes Verhalten beschreiben als der Betäubungsmittelhandel, von dem zunächst nur eine abstrakte Gefahr für das Kollektivrechtsgut der Volksgesundheit ausgeht. Die Vorschrift des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG schützt etwa nicht nur die Volksgesundheit vor qualifizierten Angriffen, sondern auch die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit von Personen, die in Kontakt mit Tätern von Betäubungsmittelstraftaten geraten (BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 - 4 StR 303/19 Rn. 8, BGHSt 64, 266). Im Falle des drohenden Einsatzes von Waffen im Rahmen des Handeltreibens eines wegen Gewaltdelikten vorbestraften Angeklagten kommt deshalb auch die Annahme erheblicher Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB ohne weiteres in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 30. September 2021 - 5 StR 161/21 Rn. 18; vgl. auch BGH, Urteil vom 6. Juni 2002 - 3 StR 113/02, NStZ 2002, 537).
Gerade beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln kann es aber andererseits auch - anders als regelmäßig bei Gewaltkriminalität - von (für den Schuldgehalt nicht relevanten) zufälligen Überschneidungen abhängen, ob Tateinheit oder Tatmehrheit oder eine Bewertungseinheit anzunehmen ist, ob also die formellen Voraussetzungen des an Serientaten (im Sinne von Tatmehrheit) anknüpfenden § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB vorliegen (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 13. April 2023 - 3 StR 30/23; vom 24. Juli 2018 - 3 StR 88/17, NStZ-RR 2018, 351 jeweils mwN). Zudem bedarf es beim bloßen Betäubungsmittelhandel zur Herbeiführung der von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB namentlich hervorgehobenen schweren körperlichen oder seelischen Schäden noch des Konsums der Betäubungsmittel, der regelmäßig in Form der Selbstschädigung erfolgt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2011 - 5 StR 491/10, NStZ 2011, 341). Hinzu kommt, dass die vom Tatbestand des Handeltreibens in nicht geringer Menge erfassten Betäubungsmittel ganz unterschiedliche Gefährdungspotentiale aufweisen können. Zudem wollte der Gesetzgeber mit der Neufassung von § 66 StGB durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen (vom 22. Dezember 2010, BGBl. I S. 2300) der „verstärkten Konzentration der Sicherungsverwahrung auf die Verletzung grundlegender höchstpersönlicher Rechtsgüter“ Rechnung tragen (BT-Drucks. 17/4062, S. 14).
All dies rechtfertigt bei Betäubungsmittelserienstraftaten trotz der durch den Handel abstrakt geschaffenen Gefahren für das Rechtsgut der Volksgesundheit und der hohen Strafdrohungen eine weniger schematische Sichtweise als etwa bei Gewalttaten (vgl. aber auch für den Fall des unmittelbaren Verkaufs von Heroin an Konsumenten BGH, Urteil vom 27. Juli 2000 - 1 StR 263/00, NJW 2000, 3015; sowie für einen bereits 18 Jahre in Haft befindlichen Händler von Heroin BGH, Urteil vom 31. Juli 2008 - 4 StR 152/08, NStZ-RR 2008, 336; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 7. Mai 2008 - 5 StR 634/07; vom 14. März 2002 - 3 StR 9/02; vom 18. Mai 1988 - 3 StR 71/88; Urteil vom 7. April 1999 - 2 StR 440/98).
Bei mit einer Deliktsserie im Sinne von § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB erstmals straffällig gewordenen Tätern verdient auch die Frage, ob ein „Hang“ zur Begehung schwerer Straftaten besteht, besondere Beachtung (vgl. BGH, Urteil vom 22. Juli 2010 - 3 StR 156/10, BGHR StGB § 66 Abs. 2 Straftaten 1). Ein solcher Hang liegt bei einem eingeschliffenen inneren Zustand des Täters vor, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2005 - 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 196). Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer festen eingewurzelten Neigung straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2015 - 1 StR 594/14 Rn. 29 mwN). Für diese Beurteilung kann insbesondere - wie im vorliegenden Fall - ein schneller Rückfall nach einer erheblichen einschlägigen Vorverurteilung relevant sein.
Liegen die formellen Voraussetzungen von § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB vor, dürfte sich demnach die Heranziehung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 1 Satz 1 StPO zur Prüfung hangbedingter Gefährlichkeit im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB bei Betäubungsmittelserientaten insbesondere dann aufdrängen, wenn der Tatbegehung über die Tatsache des bloßen Handels mit nicht geringen Mengen hinaus besonderes Gefährdungspotential innewohnt (etwa aufgrund der besonderen Art der gehandelten Betäubungsmittel, der Art der Tatbegehung, des Beisichführens oder Besitzes von Waffen) oder der Angeklagte im Übrigen mit nicht unerheblichen Sexual-, Gewalt- oder Waffendelikten auffällig geworden ist; hierbei kann auch die Frage eines schnellen Rückfalls nach erheblicher Vorverurteilung eine Rolle spielen. Die knappen Ressourcen geeigneter Sachverständiger sollten jedenfalls nicht in solchen Fällen in Anspruch genommen werden müssen, in denen die Anordnung der Maßregel nach den konkreten Umständen des Einzelfalls fernliegt (vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. März 2022 - 6 StR 63/22, NStZ 2022, 432).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 329
Bearbeiter: Christian Becker