HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1345
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 164/22, Beschluss v. 26.09.2023, HRRS 2023 Nr. 1345
Das Verfahren wird betreffend die Tat 1 der Urteilsgründe eingestellt. Insoweit trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. September 2021 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 78 Fällen schuldig ist.
Auf die Revision der Einziehungsbeteiligten wird das vorbenannte Urteil dahin geändert, dass gegen sie die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 1.023.479,11 Euro angeordnet ist; der weitergehende Einziehungsausspruch (29.726,32 Euro) entfällt.
Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.
Der Angeklagte hat die verbleibenden Kosten seines Rechtsmittels; die Einziehungsbeteiligte hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 79 Fällen im Zeitraum von 2011 bis 2015 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten verurteilt, von der es drei Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt hat. Gegen die Einziehungsbeteiligte hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 1.053.205,43 Euro angeordnet. Hiergegen wenden sich der Angeklagte und die Einziehungsbeteiligte mit ihren Revisionen. Die Einziehungsbeteiligte erhebt lediglich die Sachrüge; der Angeklagte beanstandet darüber hinaus das Verfahren. Die Rechtsmittel erzielen den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg und sind im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Senat stellt das Verfahren, soweit es sich gegen den Angeklagten richtet, auf Antrag des Generalbundesanwalts betreffend Tat 1 der Urteilsgründe gemäß § 154 Abs. 2 StPO ein.
2. Der Ahndung der verbleibenden Taten steht kein Verfahrenshindernis entgegen. Verfolgungsverjährung ist nicht eingetreten.
a) Die Verjährungsfrist für Taten nach § 266a StGB beträgt fünf Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 4, Abs. 4 StGB). Sie beginnt mit dem Verstreichen des Fälligkeitszeitpunktes für jeden Beitragsmonat (BGH, Beschluss vom 3. März 2020- 5 StR 595/19, NZWiSt 2020, 288, 289). Einkommensabhängige Sozialversicherungsbeiträge sind spätestens am drittletzten Bankarbeitstag des Monats fällig, in dem die Beschäftigung ausgeübt worden ist (§ 23 Abs. 1 Satz 2 SGB IV).
b) Die ältesten Beiträge, hier für den Monat Februar 2011 (Tat 2 der Urteilsgründe), waren am 24. Februar 2011 fällig. Die Verfolgungsverjährungsfrist hat am Folgetag zu laufen begonnen und wäre mithin am 24. Februar 2016 abgelaufen (zur Fristberechnung vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2011 - 2 StR 275/10, wistra 2011, 228).
c) Die Verjährung ist jedoch spätestens am 2. Februar 2016 gemäß § 78c Abs. 1 Nr. 1, letzter Halbsatz StGB durch die Anordnung der Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens an den Angeklagten unterbrochen worden.
aa) Die Anordnung der Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens ist in dem vom Zeugen B. unterzeichneten Einleitungsvermerk des Hauptzollamts B., der das Datum 26. Januar 2016 trägt, dokumentiert. Diese Anordnung genügt den Anforderungen des § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB (zum gleichlautenden § 33 Abs. 1 Nr. 1 OWiG aF vgl. BGH, Beschluss vom 22. Mai 2006 - 5 StR 578/05, BGHSt 51, 72, 76). Aus ihr geht der Wille der Ermittlungsbehörde hervor, dem Angeklagten die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen bestimmt bezeichneter Tatvorwürfe bekannt zu geben. Im Vermerk heißt es: „Die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens an den Beschuldigten ist angeordnet, aus ermittlungstaktischen Gründen jedoch nicht erfolgt.“ Weiter wird ausgeführt, dass hinreichende Anhaltspunkte bestünden, dass der Angeklagte als Arbeitgeber ab Beginn des Jahres 2011 bis mindestens Mai 2015 Arbeitnehmer in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis beschäftigt habe, die er nicht oder nicht richtig bei den zuständigen Einzugsstellen zur Sozialversicherung angemeldet und für die er keine oder zu niedrige Sozialversicherungsbeiträge abgeführt habe.
bb) Die verjährungsunterbrechende Wirkung der Anordnung trat spätestens am 2. Februar 2016 ein. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Der auf den 26. Januar 2016 datierte Einleitungsvermerk verweist auf einen „beigefügten Sachstandsbericht“, dessen „Punkt 4. [...] die Gründe der Einleitung (bisherige Erkenntnisse) wiedergibt“. Dieser Sachstandsbericht datiert vom 2. Februar 2016 und nimmt seinerseits unter diesem Punkt Bezug auf die Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen den Angeklagten am „26.01.2016“ als „nunmehr Beschuldigten“. Durch diese wechselseitigen Bezugnahmen wird eindeutig belegt, dass jedenfalls am 2. Februar 2016 die Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens bereits angeordnet war. Dies findet Bestätigung im Inhalt des Schreibens des Hauptzollamts B. an die Staatsanwaltschaft Berlin vom 10. Februar 2016, welches auf den „Einleitungsvermerk v. 26.01.16 sowie den Sachstandsbericht v. 02.02.16“ verweist.
Dem steht nicht entgegen, dass der Sachstandsbericht dem Einleitungsvermerk nicht unmittelbar als Anlage beigefügt, sondern erst im Anschluss an zwischengeheftete Dokumente zur Akte gebracht wurde. Denn diese Schriftstücke weisen einen unmittelbaren Zusammenhang zu den Strafverfolgungsmaßnahmen auf. Sie betreffen sämtlich das Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten und belegen eine Tätigkeit der Ermittlungsbehörde gerade im relevanten Zeitraum vom 26. Januar 2016 und 2. Februar 2016 (elektronische Auskunft aus dem Ausländerzentralregister vom 26. Januar 2016, Meldeauskunft vom 2. Februar 2016). Schließlich fügt sich die verjährungsunterbrechende Ermittlungsmaßnahme inhaltlich und zeitlich in den aus den Akten ersichtlichen sonstigen Verfahrensstand ein (zur Bedeutung aktenkundiger Anhaltspunkte insoweit vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. August 2017 - 1 StR 218/17, BGHR StGB § 78c Abs. 1 Nr. 1 Anordnung 2; vom 22. Mai 2006 - 5 StR 578/05, BGHSt 51, 72, 79; Urteil vom 6. Oktober 1981 - 1 StR 356/81, BGHSt 30, 215, 218 f.). So verweist der Einleitungsvermerk auf Erkenntnisse aus dem zunächst nur gegen die Lebensgefährtin des Angeklagten als eingetragene Geschäftsführerin der Einziehungsbeteiligten geführten Verfahren. Weiter ist den Akten zu entnehmen, dass sich zu Beginn des Jahres 2016 die Verdachtslage gegen den Angeklagten als den (alleinigen) „Ansprechpartner“ der Gesellschaft verdichtete, der die Geschäfte „maßgeblich lenkt“ (Einleitungsvermerk vom 26. Januar 2016, Sachstandsbericht vom 2. Februar 2016, Vermerk des Hauptzollamts vom 25. Januar 2016).
Anhaltspunkte für eine Manipulation der Aktenlage sind danach nicht im Ansatz ersichtlich. Dass die Anordnung zum Zeitpunkt ihrer Abfassung aus ermittlungstaktischen Gründen noch nicht umgesetzt worden war, ist unschädlich, da die Bekanntgabe keine Wirksamkeitsvoraussetzung ist (BGH, Beschluss vom 24. August 1972 - 4 StR 292/72, BGHSt 25, 6, 8; Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 78c Rn. 6).
cc) Aufgrund weiterer Unterbrechungstatbestände - Eingang der Anklage bei Gericht am 5. Mai 2020 (§ 78c Abs. 1 Nr. 6 StGB) und Eröffnung des Hauptverfahrens am 17. November 2020 (§ 78c Abs. 1 Nr. 7 StGB) - wurde die Verjährungsfrist auch in der Folgezeit immer wieder unterbrochen.
d) Die absolute Verjährungsfrist, die gemäß § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB zehn Jahre beträgt, ist bei Eröffnung des Hauptverfahrens am 17. November 2020 noch nicht abgelaufen gewesen. Ab diesem Zeitpunkt hat die Verjährung für die Dauer von fünf Jahren gemäß § 78b Abs. 4 StGB geruht. Hierfür kommt es lediglich darauf an, ob das Gesetz - wie hier (§ 266a Abs. 4 StGB) - einen besonders schweren Fall mit einer Strafandrohung von über fünf Jahren Freiheitsstrafe vorsieht (BGH, Beschlüsse vom 1. August 1995 - 1 StR 275/95, BGHR StGB § 78b Abs. 4 Strafdrohung 1; vom 8. Februar 2011 - 1 StR 490/10, BGHSt 56, 146, 149 f.; vom 7. Dezember 2016 - 1 StR 185/16 Rn. 4). Seit Erlass des erstinstanzlichen Urteils am 13. September 2021 ruht die Verjährung gemäß § 78b Abs. 3 StGB.
e) Vorstehende Erwägungen gelten auch für die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung der B. B. für das Kalenderjahr 2011 (Tat 76). Anknüpfungspunkt ist insoweit der sich aus § 23 Abs. 3 SGB IV (in der Fassung vom 9. Dezember 2010) ergebende Fälligkeitszeitpunkt, da ein Teil der gezahlten Arbeitsentgelte der Einzugsstelle gemeldet worden war (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2020 - 5 StR 595/19 Rn. 3). Nach den Urteilsfeststellungen wurden die Beiträge für das jeweilige Vorjahr nach dem Prinzip der nachträglichen Bedarfsdeckung im Umlageverfahren erhoben, so dass die im Jahr 2011 geschuldeten Beiträge frühestens 2012 fällig wurden und die Verjährungsfrist vor der Unterbrechung durch Anordnung der Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens an den Angeklagten nicht abgelaufen war.
Den vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen, die sämtlich die Mitwirkung eines Schöffen, dessen von der Strafkammer als Selbstanzeige im Sinne des § 30 StPO behandelte Erklärung und sein anschließendes Ausscheiden aus dem Verfahren betreffen, bleibt der Erfolg versagt.
1. Den Rügen mit unterschiedlicher Angriffsrichtung liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:
Einer der bis dahin am Verfahren mitwirkenden Schöffen erklärte unmittelbar vor Beginn des achten Hauptverhandlungstages am 10. März 2021 gegenüber den Strafkammermitgliedern, er leide an einer manischen Depression und nehme als Einschlafhilfe ein Antidepressivum. Da die Wirkung des Medikaments erst am Vormittag nachlasse, sei er an den bisher durchgeführten Hauptverhandlungsterminen „nur zu 80 Prozent“ anwesend gewesen. Bei früheren Gesprächen, welche die Strafkammermitglieder unter anderem wegen seiner geschlossenen Augen mit ihm geführt hatten, habe er die Müdigkeitserscheinungen der Wahrheit zuwider bestritten. Er habe das Medikament jedoch inzwischen abgesetzt, so dass er sich nunmehr in der Lage fühle, der Hauptverhandlung zu folgen. Trotz dieser Erklärung des Schöffen führte die Strafkammer den Hauptverhandlungstermin an diesem Tag durch und setzte die Vernehmung eines Zeugen fort.
Am 12. März 2021 telefonierte der Vorsitzende mit der Ärztin des Schöffen, die ihm versicherte, dessen Verhandlungsfähigkeit sei nicht beeinträchtigt; er könne das Medikament problemlos absetzen. Im Anschluss daran fragte der Vorsitzende den Schöffen in einem Telefonat, ob seine mündliche Erklärung vom 10. März 2021 als Selbstanzeige eines möglichen Befangenheitsgrundes anzusehen sei, was dieser bejahte. Am selben Tag informierte der Vorsitzende die Verteidiger und den Vertreter der Staatsanwaltschaft per E-Mail über den Sachverhalt und stellte den Verfahrensbeteiligten anheim, den Schöffen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, was nicht geschah.
Mit Beschluss vom 23. März 2021 stellte die Strafkammer fest, dass die in der Selbstanzeige des Schöffen mitgeteilten Umstände die Besorgnis seiner Befangenheit rechtfertigten. Grund sei nicht seine Erkrankung, sondern dass der Schöffe gegenüber der Strafkammer zunächst das Bestehen eines Müdigkeitsproblems ausdrücklich bestritten hatte. Erst am achten Hauptverhandlungstag habe er dann aber im Anschluss an einen entsprechenden Antrag der Verteidigung eingeräumt, aufgrund der täglichen Einnahme eines Medikaments vormittags während der vorangegangenen Hauptverhandlungstage nur „zu ca. 80 Prozent anwesend gewesen“ zu sein. Er habe mithin an mehreren Tagen unter Einfluss eines medizinisch nicht notwendigen, aber die Auffassungsfähigkeit einschränkenden Medikaments und unter fortlaufendem Ignorieren der Bitten des beisitzenden Richters und der Verteidiger um Aufklärung etwaiger Einschränkungen, an der Hauptverhandlung teilgenommen. Mit Ausscheiden des Schöffen trat für diesen am nächsten Hauptverhandlungstag die Ergänzungsschöffin in das Quorum ein.
2. Die Rüge mit der Angriffsrichtung, die Strafkammer habe die Wartepflicht gemäß § 29 Abs. 1 StPO verletzt, indem sie am 10. März 2021 nach der Erklärung des Schöffen weiterverhandelt habe, ist jedenfalls unbegründet.
Eine Pflicht, mit der Hauptverhandlung bis zur Entscheidung über die Selbstanzeige zuzuwarten, hat nicht bestanden; die Strafkammer durfte unter Mitwirkung des Schöffen weiterverhandeln. Im Einzelnen:
a) Nach § 29 Abs. 1 StPO gilt der Grundsatz, dass „ein abgelehnter Richter“ sich aller Amtshandlungen zu enthalten hat, die nicht unaufschiebbar sind (BGH, Urteile vom 19. Mai 1953 - 2 StR 445/52, BGHSt 4, 208 f.; vom 14. Februar 2002 - 4 StR 272/01). Die Vorschrift begründet eine Wartepflicht des Abgelehnten, die das Interesse des Ablehnenden daran schützt, dass der von ihm für befangen erachtete Richter in dem Verfahren nicht weiter mitwirkt. Ein abgelehnter Richter, dessen Ablehnung möglicherweise für begründet erklärt werden wird, soll nicht länger als unbedingt nötig auf das Prozessgeschehen einwirken können (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. April 2003 - 4 StR 506/02, BGHSt 48, 264, 266; vom 28. Juli 2015 - 1 StR 602/14, NStZ 2016, 164, 167 Rn. 44).
b) Ob diese Wartepflicht über den Wortlaut des § 29 Abs. 1 StPO hinaus auch auf den Richter entsprechend anzuwenden ist, der eine Selbstanzeige gemäß § 30 StPO erstattet hat, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Hieran bestehen allerdings Zweifel.
aa) Eine solche entsprechende Anwendbarkeit ist zwar von der älteren Rechtsprechung - ohne nähere Begründung - angenommen worden (BGH, Beschluss vom 13. Februar 1973 - 1 StR 541/72, BGHSt 25, 122, 125; Urteil vom 3. März 1982 - 2 StR 32/82, BGHSt 31, 3, 5; so auch LR/Siolek, StPO, 27. Aufl., § 30 Rn. 25). Diese Entscheidungen basierten aber noch auf der Annahme, dass es sich bei der Selbstanzeige um interne Vorgänge handele und eine Anhörung der Verfahrensbeteiligten hierzu sachwidrig und entbehrlich sei. Dies erwies sich als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar (BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 1993 - 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, 36 mwN zur älteren Rspr. des Bundesgerichtshofs).
bb) Nunmehr ist den Verfahrensbeteiligten zu der Selbstanzeige des Richters rechtliches Gehör zu gewähren, zu dessen effektiver Verwirklichung auch zählt, mit Aufschub gestattenden Amtshandlungen zuzuwarten, bis mit einer Reaktion der Verfahrensbeteiligten auf die Selbstanzeige zu rechnen ist. Auf diese Weise haben es die Ablehnungsberechtigten in der Hand, aufgrund der mitgeteilten Verhältnisse ihre Besorgnis der Befangenheit zu erklären, den Richter deswegen abzulehnen und so die Rechtswirkungen des Verfahrens nach §§ 24 ff. StPO und mithin auch die direkte Anwendbarkeit des § 29 StPO herbeizuführen. Erachten sie aufgrund der mitgeteilten Selbstanzeige den Richter nicht für befangen, so haben sie zum Ausdruck gebracht, keine Bedenken gegen die weitere Mitwirkung dieses Richters zu haben und ihre prozessuale Rechtsstellung hierdurch nicht berührt zu sehen. Damit besteht von ihrer Seite auch kein schützenswertes Interesse an einer Wartepflicht des selbstanzeigenden Richters, welchem durch eine entsprechende Anwendung des § 29 StPO Rechnung getragen werden müsste.
cc) Der Senat verkennt nicht, dass das zivilprozessuale Schrifttum aus der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zur Gewährung rechtlichen Gehörs zur Selbstanzeige und der dadurch ausgelösten Streichung des § 48 Abs. 2 ZPO aF eine Gleichbehandlung des Verfahrens nach einem Ablehnungsgesuch durch eine Partei und der „Selbstablehnung“ nach § 48 ZPO - die Norm ist bis auf die Überschrift fast wortgleich mit § 30 StPO - ableitet (vgl. nur Stein/Jonas/Bork, ZPO, 23. Aufl. 2014 § 48 Rn. 4 f.; vgl. auch OLG Hamburg, Urteil vom 28. März 2008 - 11 U 25/06 Rn. 61, 70). Dies lässt die durch die Gewährung rechtlichen Gehörs geschaffene Möglichkeit der Parteien, auf die mit der Selbstanzeige mitgeteilten Umstände ein Ablehnungsgesuch zu stützen (vgl. zum Verfahren bei „Selbstablehnung“ und hinzutretendem Ablehnungsgesuch BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2019 - AnwZ (Brfg) 50/19 Rn. 71) und so die Folgen des § 47 ZPO, der seinem Wortlaut nach ebenfalls nur für den „abgelehnten Richter“ gilt, herbeizuführen, allerdings unberücksichtigt.
dd) In objektivrechtlicher Hinsicht gebietet das Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auf den gesetzlichen und mithin unbefangenen Richter (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Jachmann-Michel, GG, 100. EL Art. 101 Rn. 87 mwN) nicht die entsprechende Anwendung des § 29 StPO auf das Verfahren nach alleiniger Selbstanzeige. Das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hat einen materiellen Gewährleistungsgehalt, durch den garantiert wird, dass der Rechtssuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 8. Februar 1967 - 2 BvR 235/64, BVerfGE 21, 139, 145 f.; vom 27. Dezember 2006 - 2 BvR 958/06, NJW 2007, 1670; vom 5. Mai 2021 - 1 BvR 526/19, NJW-RR 2021, 1436). Dies verpflichtet den Gesetzgeber dazu, Regelungen vorzusehen, die es ermöglichen, einen Richter, der im Einzelfall nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, abzulehnen oder von der Ausübung seines Amts auszuschließen (BVerfG aaO). Die Ausgestaltung im Einzelnen ist aber Sache des Gesetzgebers (BVerfG, Beschlüsse vom 8. Juni 1993 - 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, 35; vom 2. Mai 2007 - 2 BvR 2655/06 Rn. 11, NStZ 2007, 709), der sich für ein gestuftes Nebeneinander von Ausschlussgründen und Befangenheit entschieden hat.
Während die Ausschlussgründe nach §§ 22, 23, 148a Abs. 2 Satz 1 StPO absolut und unabhängig von einem Antrag der Prozessbeteiligten wirken und auf sie nicht verzichtet werden kann (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. März 1956 - 1 BvR 479/55, BVerfGE 4, 412, 417; RG, Urteil vom 10. Mai 1880 - g.U. Rep 1211/80, RGSt 2, 209, 211; LR/Siolek, StPO, 27. Aufl., § 22 Rn. 49), ist der im Sinne des § 24 Abs. 2 StPO befangene Richter nicht bereits mit dem Entstehen des Ablehnungsgrundes von der weiteren Mitwirkung ausgeschlossen. Diese Wirkung tritt erst durch einen Gerichtsbeschluss ein, der seine Befangenheit feststellt (LR/Siolek, StPO, 27. Aufl., § 24 Rn. 3; KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 27 Rn. 13). Zudem findet eine Überprüfung der Befangenheit von Amts wegen nicht statt (BGH, Beschluss vom 2. Februar 2022 - 5 StR 153/21, NJW 2022, 28 1470 mwN); auch kann die Geltendmachung von Befangenheitsgründen - verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 2. Mai 2007 - 2 BvR 2655/06 Rn. 12, 14 f., NStZ 2007, 709; vom 23. September 1987 - 2 BvR 814/87, NJW 1988, 477) - nach § 25 StPO präkludiert sein. Würde der abgelehnte Richter schon vor der Entscheidung des Gerichts über seine Befangenheit nicht mehr gesetzlicher Richter sein, wäre dieses Stufenverhältnis unhaltbar. Hiermit ließe sich auch die Annahme einer Heilung eines Verstoßes gegen die Wartepflicht bei Rechtskraft der Verwerfung des Ablehnungsgesuchs unter Verstoß gegen Verfassungsrecht (BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2005 - 2 BvR 497/03 Rn. 88, NVwZ 2005, 1304) nicht vereinbaren.
Der Gesetzgeber hat zudem durch § 30 StPO sichergestellt, dass das Recht der Verfahrensbeteiligten auf einen unbefangenen Richter auch dann effektiv durchgesetzt werden kann, wenn die eine Befangenheit begründenden Umstände nicht offen zu Tage treten. Denn nach dieser Vorschrift ist der Richter verpflichtet, Mitteilung über solche Umstände zu machen, die seine Ablehnung oder die eines anderen Richters (BGH, Beschluss vom 11. Januar 2022 - 3 StR 452/20 Rn. 20) rechtfertigen könnten. Es handelt sich um eine Dienstpflicht und eine im Verhältnis zu den Verfahrensbeteiligten bestehende und unmittelbar verfahrensrelevante Verpflichtung (BVerfG, Beschlüsse vom 8. Juni 1993 - 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, 36). Eine pflichtwidrig unterlassene Selbstanzeige kann ihrerseits ein Ablehnungsgesuch rechtfertigen (BGH, Beschluss vom 11. Januar 2022 - 3 StR 452/22 Rn. 19). Nach Mitteilung dieser Selbstanzeige haben es die Verfahrensbeteiligten sodann in der Hand, durch entsprechende Antragstellung eine nicht unbedingt notwendige Mitwirkung des für befangen erachteten Richters im Rahmen der Regelung des § 29 StPO zu verhindern. Dieses Zusammenspiel stellt sicher, dass das verfassungsgemäße Recht auf den neutralen Richter effektiv durchgesetzt werden kann und die betroffene Rechtsposition der Verfahrensbeteiligten ausreichend geschützt ist.
ee) Auch im Übrigen erscheint eine entsprechende Anwendung nicht geboten. Vielmehr entspricht es der gesetzgeberischen Grundkonzeption, das Verfahren nach Ablehnung (§§ 24 ff. StPO) und nach einer Selbstanzeige (§ 30 StPO) unterschiedlich auszugestalten. Dies zeigt sich vor allem im Anwendungsbereich des § 338 Nr. 3 StPO. Dieser absolute Revisionsgrund ist nur nach Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit eröffnet, wohingegen in den Fällen des § 30 StPO die Entscheidung, durch welche die Selbstanzeige für begründet oder nicht begründet erklärt wird, für das Revisionsgericht für sich gesehen grundsätzlich nicht überprüfbar ist (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 11. Januar 2022 - 3 StR 452/20; vom 11. Juli 2017 - 3 StR 90/17, NStZ 2017, 720, auch zu den Ausnahmen vom Grundsatz der Nichtüberprüfbarkeit, vgl. unten zu 3.b). Erst dann, wenn ein Ablehnungsberechtigter aufgrund des Vorbringens des Selbstanzeigenden diesen abgelehnt hat, ist das Ablehnungsverfahren und mithin der Anwendungsbereich des § 338 Nr. 3 StPO im Revisionsverfahren eröffnet (vgl. zu einer solchen Konstellation BGH, Beschluss vom 11. Januar 2022 - 3 StR 452/20). Insoweit ist das hohe Rechtsschutzniveau des § 338 Nr. 3 StPO an den Ablehnungsantrag gebunden. Der Senat neigt dazu, auch die Sicherungen des § 29 StPO, der nach der gesetzlichen Überschrift und nach dem Normtext allein das Verfahren nach Ablehnung betrifft, auch nur diesem Verfahren vorzubehalten.
c) Diese Fragen bedürfen hier indes keiner Entscheidung, denn selbst wenn eine Wartepflicht auch für das durch Selbstanzeige gemäß § 30 StPO ausgelöste Befangenheitsverfahren gelten sollte, erstreckte sie sich jedenfalls gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht auf die Hauptverhandlung.
Durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2121) ist die grundsätzliche Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO für die Mitwirkung eines abgelehnten Richters an der Hauptverhandlung weiter eingeschränkt worden (vgl. BTDrucks.19/14747, S. 23). In § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO ist seitdem geregelt, dass die Hauptverhandlung keinen Aufschub gestattet und bis zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch stattfindet. Diese die Wartepflicht begrenzende Vorschrift gilt gemäß § 31 StPO auch für Schöffen (BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 - 3 StR 181/21, NStZ 2023, 168; KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 31 Rn. 2; MüKoStPO/Conen/Tsambikakis, 2. Aufl., 2023, § 31 Rn. 7).
Eine Übertragung der grundsätzlichen Wartepflicht für Aufschub gestattende Handlungen nach § 29 Abs. 1 StPO auf das Verfahren nach Selbstanzeige führt dazu, dass die gesetzgeberische Wertung des § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO zur Unaufschiebbarkeit der Hauptverhandlung für diese Konstellation ebenfalls Geltung beanspruchen muss. Denn der Gesetzgeber hat durch die Schaffung des § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO die Wartepflicht nach Absatz 1 der Vorschrift beschränkt; eine die Hauptverhandlung miterfassende Wartepflicht kennt die Strafprozessordnung seit der Änderung des § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht mehr.
Ein anderes Ergebnis würde zu Wertungswidersprüchen und zu dem gesetzgeberischen Willen widerstreitenden Ergebnissen führen. So hat derjenige, der einen Richter für befangen erachtet, bis zur Entscheidung über seinen Antrag dessen weitere Mitwirkung in der Hauptverhandlung hinzunehmen. Sein Interesse daran, dass der abgelehnte Richter bis zur Entscheidung über sein Gesuch nicht mehr an der Hauptverhandlung mitwirkt, muss nach der Wertung des § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO zugunsten des öffentlichen Interesses an der beschleunigten Durchführung der Hauptverhandlung zurücktreten (vgl. hierzu BT-Drucks. 19/14747, S. 23). Erst Recht ist kein Grund dafür ersichtlich, dass demgegenüber im Fall einer Selbstanzeige nach § 30 StPO die Hauptverhandlung nicht mehr durchgeführt werden können sollte, ohne dass ein Antragsberechtigter einen Anschein der Befangenheit geltend gemacht hat. Vielmehr würde das gesetzgeberische Anliegen der Vereinfachung des Ablehnungsverfahrens durch die Gestattung der unbeschränkten Mitwirkung des abgelehnten Richters in der Hauptverhandlung ohne sachlichen Grund unterlaufen.
Soweit in der Literatur nach wie vor vertreten wird, § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO sei bei einer Anzeige nach § 30 StPO nicht anwendbar (vgl. LR/Siolek, StPO, 27. Aufl., § 30 Rn. 20 zu § 29 Abs. 2 aF; KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 30 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 30 Rn. 4; noch in der Vorauflage: BeckOK-StPO/Cirener, § 30 Ed. 46 Rn. 4), orientiert sich diese Ansicht ersichtlich noch an der alten Fassung des § 29 Abs. 2 StPO und lässt den abweichenden Regelungsgehalt der Neufassung außer Betracht.
3. Die Rüge, die Kammer habe durch den Ausschluss des Schöffen nach dessen Selbstanzeige willkürlich gehandelt und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 16 Satz 2 GVG verletzt, bleibt ebenfalls erfolglos.
a) Es bestehen insoweit bereits erhebliche Bedenken gegen ihre Zulässigkeit, da das Revisionsvorbringen aufgrund des alternativen Vortrags zweier sich ausschließender Sachverhaltsvarianten widersprüchlich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. August 1999 - 3 StR 342/99; vom 13. April 2021 - 5 StR 29/21; KKStPO/Gericke, 9. Aufl., § 344 Rn. 39). So stützt der Beschwerdeführer seine Behauptung, der Schöffe sei willkürlich aus dem Spruchkörper herausgedrängt worden, darauf, dass der Vorsitzende diesen (erst) in einem Telefonat am 12. März 2021 dazu gedrängt habe, eine (noch nicht existente) Selbstanzeige „zu bestätigen“. Die Rüge, mit der ein Verstoß gegen § 29 Abs. 1 StPO geltend gemacht wird (vgl. zu 2.) begründet der Beschwerdeführer dem widerstreitend damit, dass die Strafkammer trotz des Vorliegens einer Selbstanzeige des Schöffen die Hauptverhandlung am 10. März 2021 durchgeführt habe, ohne unmittelbar in die Prüfung seiner Befangenheit einzutreten.
b) Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Das Revisionsgericht kann den Beschluss, durch den die Selbstanzeige eines Richters für begründet oder für nicht begründet erklärt wird, grundsätzlich nicht überprüfen. Ausnahmen gelten nur, wenn das Vorgehen des Gerichts objektiv willkürlich ist, das heißt das Verfahren nach § 30 StPO missbraucht wird, um den Angeklagten seinem verfassungsrechtlich garantierten gesetzlichen Richter zu entziehen (BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 2017 - 3 StR 90/17, BGHR StPO § 30 Selbstanzeige 3; vom 2. Februar 2022 - 5 StR 153/21 [§ 28 Abs. 2 StPO]). Das ist hier nicht der Fall. Eine kollusive, auf Entziehung des gesetzlichen Richters angelegte Verfahrensweise der Strafkammer ist nicht erkennbar. Die für und gegen eine Befangenheit des Schöffen sprechenden Aspekte wurden in dem zugrundeliegenden Beschluss vielmehr ausführlich - und keinesfalls nur auf die „eingestandene Müdigkeit als solche“ bezogen - dargestellt und abgewogen. Das Ergebnis, ein Richter müsse den Anschein der Befangenheit gegen sich gelten lassen, wenn er im Bewusstsein, die Hauptverhandlung zu beachtlichen Teilen nicht wahrgenommen zu haben, die Aufdeckung dieses Umstands durch unzutreffende Angaben zunächst zu verschleiern sucht, ist jedenfalls vertretbar. Dass hierdurch der Revision aussichtsreich erscheinende Rügen „neutralisiert“ worden sein könnten, führt für sich genommen nicht zur Willkürlichkeit der nachvollziehbar begründeten Entscheidung. Auch bei Gesamtbetrachtung des Vorgehens der Strafkammer, insbesondere des Umstands, dass die Selbstanzeige erst zwei Tage nach der ersten Erklärung des Schöffen hierzu den Verfahrensbeteiligten und allein durch 38 ein Schreiben des Vorsitzenden bekannt gegeben worden ist, ergibt sich angesichts der Begründung der Befangenheit kein Verstoß gegen das Willkürverbot.
4. Ungeachtet der aufgezeigten Bedenken gegen die Zulässigkeit wegen der Widersprüchlichkeit der Revisionsangriffe (vgl. zu 3.a), ist dem Vorbringen nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit eine auf einen Verstoß gegen das Wiederholungsgebot gemäß § 29 Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Inbegriffsrüge zu entnehmen. Der Senat muss daher nicht entscheiden, ob § 29 Abs. 4 StPO über seinen Wortlaut hinaus auch für das Verfahren nach Selbstanzeige gilt, wozu er nicht neigt (vgl. zu 2.b). Zwar käme bei verspäteter Mitteilung der Selbstanzeige - wie hier (vgl. unter 5.) - eine entsprechende Anwendung für den Zeitraum bis zur Gewährung rechtlichen Gehörs in Betracht, dies setzte allerdings aus den oben dargestellten Gründen einen daraufhin gestellten Befangenheitsantrag voraus, woran es hier fehlt.
5. Die Rügen der fehlerhaften Ablehnung von Befangenheitsanträgen, die an den Umgang der berufsrichterlichen Mitglieder der Strafkammer mit den Erklärungen des Schöffen angeknüpft haben, bleiben aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift aufgezeigten Gründen ebenfalls ohne Erfolg. Ergänzend ist zu bemerken und der Revision zuzugeben, dass über die vom Schöffen mitgeteilten Umstände, die der Selbstanzeige zugrunde lagen, nicht bereits vor dem Hauptverhandlungstermin und mithin verspätet informiert wurde. Allerdings stellen Verfahrensverstöße, die auf Irrtum oder auf unrichtiger oder sogar unhaltbarer Rechtsansicht beruhen, grundsätzlich noch keinen Ablehnungsgrund dar (BGH, Beschluss vom 11. Januar 2022 - 3 StR 452/20 mwN). Etwas anderes gilt lediglich dann, wenn Entscheidungen oder Prozesshandlungen rechtlich völlig abwegig sind oder den Anschein von Willkür erwecken (BGH, 39 40 Beschluss vom 8. Mai 2014 - 1 StR 726/13, BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 23 mwN). Solches kann in dem Verhalten der abgelehnten Richter nicht gesehen werden. So hat der Vorsitzende in seiner dienstlichen Erklärung der Sache nach ausgeführt, angesichts der Mitteilung des Schöffen vor dem Hauptverhandlungstermin am 10. März 2021 auf die Verhandlungsfähigkeit des Schöffen an diesem Tag bedacht gewesen zu sein und die Bedeutung der Mitteilung im Übrigen ohne die Möglichkeit näherer rechtlicher Prüfung noch nicht durchdrungen zu haben. Dies habe er nachgeholt und nach dem seine Würdigung bestätigenden Telefonat mit dem Schöffen den Verfahrensbeteiligten die Selbstanzeige bekannt gegeben. Danach ist nichts dafür ersichtlich, dass die Mitteilung des Schöffen den Verfahrensbeteiligten gänzlich vorenthalten oder die Wahrnehmung ihrer hieran anknüpfenden Rechte vereitelt werden sollte.
1. Die Teileinstellung des Verfahrens in Bezug auf den Angeklagten hat die Änderung des Schuldspruchs und den Wegfall der für die erste Tat verhängten Einzelstrafe zur Folge. Die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe bleibt davon unberührt, da der Senat angesichts der Einsatzstrafe von zwei Jahren und weiteren 77 Einzelfreiheitsstrafen im Strafmaß von sechs Monaten bis zwei Jahren sowie der Vielzahl der Fälle ausschließen kann, dass das Landgericht ohne die entfallene Einzelstrafe von einem Jahr und vier Monaten auf eine geringere Gesamtstrafe erkannt hätte.
2. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat keine den Angeklagten beschwerende Rechtsfehler ergeben. Gegen die Beweiswürdigung ist rechtlich nichts zu erinnern.
a) Zwar erfordert die Bestimmung des Schuldumfangs bei Straftaten nach § 266a StGB die hinreichend genaue Feststellung der gegenüber der Einzugsstelle geschuldeten Beträge, wozu grundsätzlich eine Aufstellung nach Anzahl der Arbeitnehmer, den jeweiligen Beschäftigungszeiträumen, dem Beitragssatz sowie der gezahlten Bruttolöhne jeweils zu den einzelnen Fälligkeitsterminen gehört (zur konkreten Schadensberechnung vgl. BGH, Urteil vom 13. Juni 2001 - 3 StR 126/01, NStZ 2001, 599 f.; Beschluss vom 8. März 2023 - 1 StR 188/22). Wenn jedoch keine hinreichend verlässlichen Anknüpfungstatsachen für die nähere Bestimmung der Bemessungsgrundlagen vorliegen, können an Wahrscheinlichkeitskriterien ausgerichtete Durchschnittswerte geschätzt werden (BGH, Beschlüsse vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09, NStZ 2010, 635 f.; vom 25. November 2021 - 5 StR 211/20).
b) Daran gemessen ist die Bestimmung der Schadenshöhe revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die Wahl der Schätzmethode erweist sich angesichts des hierbei bestehenden tatgerichtlichen Beurteilungsspielraums als rechtsfehlerfrei. Das Tatgericht muss insoweit lediglich darlegen, warum es sich der gewählten Methode bedient hat und die Grundlagen der Schätzung nachvollziehbar darstellen (BGH, Beschluss vom 25. November 2021 - 5 StR 211/20). Dem wird das vorliegende Urteil gerecht.
Die Strafkammer hat, soweit aufgrund von sichergestellten Stundenaufzeichnungen eine ausreichende Tatsachengrundlage vorhanden war, eine konkrete personenbezogene Schadensberechnung vorgenommen (Taten zum Nachteil der S. K., A. N., Betriebskrankenkasse V. U.). In den ganz überwiegenden Fällen der unbekannten Arbeitnehmer ist sie davon ausgegangen, dass die insoweit nur fragmentarischen Aufzeichnungen sowie sonstigen Erkenntnisse eine personenbezogene Schadensberechnung nicht zuließen. Sie hat ferner ausführlich begründet, dass auch eine bauvorhabenbezogene Schätzung anhand repräsentativer Stichproben - ungeachtet des damit verbundenen unverhältnismäßigen Aufwands - nicht möglich und methodisch verfehlt sei. Die sich hieraus möglicherweise ergebenden (Teil-)Erkenntnisse stellten keine Grundlage für eine plausible Schadensschätzung bei dem auf Schwarzarbeit beruhenden Gesamtgeschäftskonzept der Einziehungsbeteiligten dar. Soweit die Strafkammer zur Begründung der Wahl ihrer Schätzmethode auch einen „beachtlichen Anteil von administrativen bzw. Fix-Personalkosten“ erwähnt hat, trifft dies zwar nicht zu. Denn nach den Feststellungen war der Angeklagte der zentrale Organisator der Schwarzlohnzahlungen und führte auch sonst die Geschäfte der Gesellschaft (mit Unterstützung von höchstens zwei Bürokräften) allein, so dass sich der Anfall von beachtlichen „administrativen“ oder fixen Personalkosten auf der Grundlage der Feststellungen nicht erschließt. Angesichts der mannigfachen anderen tragfähigen Gründe für die Wahl der Schätzmethode wird diese durch die vorgenannte Erwägung der Strafkammer nicht in Frage gestellt; in die Berechnung der Schadenssumme hat sie ohnehin keinen Eingang gefunden.
Das weitere Vorgehen der Strafkammer, die für die Schätzung der Nettolöhne das Gesamtrechnungsvolumen der Abdeckrechnungen abzüglich eines Abschlags für Provisionen und verdeckte Gewinne herangezogen hat, hält sich innerhalb des ihr eingeräumten Spielraums. Sie hat die Grundlagen der Berechnung und diese selbst ausführlich und nachvollziehbar erörtert; das Ergebnis hat sie einer vergleichenden Kontrollrechnung nach der anerkannten Zwei-Drittel-Methode (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09, 47 BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 4) unterzogen, die für den Angeklagten zu einem wesentlich ungünstigeren Ergebnis geführt hätte.
Ein Rechtsfehler ergibt sich nicht daraus, dass die Strafkammer das Jahr 2011 als Referenzjahr herangezogen hat. Zwar hat sie bei der Erläuterung des Rechenweges unzutreffend angegeben, dass in diesem Jahr gegenüber dem Finanzamt der „höchste (offizielle) Gewinn erklärt“ worden sei, obwohl dies nach den im Urteil mitgeteilten Daten im Jahr 2012 der Fall war. Jedoch lässt dies die Schätzung des Beitragsschadens unberührt. Denn der Sache nach hat das Landgericht nicht auf die erklärten, sondern auf die tatsächlichen Gewinne abgestellt. Nach der Berechnung der Strafkammer auf der Basis statistischer Werte war aber 2011 das Jahr mit dem höchsten Gesamtgewinn, in dem auch offiziell ein Gewinn ausgewiesen wurde.
Die Schadensberechnung der Strafkammer wird schließlich nicht durch das Vorbringen der Revision in Frage gestellt, wonach sich die geschädigten Sozialversicherungsträger Jahre nach Erlass des verfahrensgegenständlichen Urteils in einem sozialgerichtlichen Verfahren auf andere Zahlbeträge geeinigt haben sollen. Denn der in einem solchen Verfahren zwischen den Parteien ausgehandelte Vergleichsbetrag wäre nicht mit der Höhe des tatsächlich entstandenen Schadens gleichzusetzen, der im Strafverfahren von Amts wegen zu ermitteln ist, zumal da der Vergleich das Ergebnis von am Opportunitätsprinzip ausgerichteten und prozessökonomischen Überlegungen der Parteien jenes Verfahrens gewesen sein mag, deren Zielrichtung nicht mit derjenigen des Strafverfahrens gleichläuft. Fehler in der Schadensberechnung lassen sich daraus nicht ableiten.
Die Anordnung des Wertes von Taterträgen gegen die Einziehungsbeteiligte war um 29.726,32 Euro zu reduzieren. Insoweit bezieht sich der Einziehungsausspruch auf die Tat 1 der Urteilsgründe. Hinsichtlich dieser Tat hat der Senat das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Mit ihrem Ausscheiden ist die Möglichkeit für eine darauf bezogene Einziehungsanordnung im subjektiven Verfahren entfallen (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - 2 StR 79/20).
Angesichts des geringen Erfolgs der Revision der Einziehungsbeteiligten ist es nicht unbillig, sie mit den gesamten Kosten ihres Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1345
Bearbeiter: Christian Becker