HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2024
25. Jahrgang
PDF-Download



IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

8. BGH 1 StR 222/23 – Beschluss vom 18. Oktober 2023 (LG Konstanz)

BGHSt; Verwertbarkeit früherer Aussagen eines Zeugen, der sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft (Gestattung der Verwertung: keine Beschränkung auf einzelne Vernehmungen).

§ 52 Abs. 1 StPO; § 252 StPO

1. Gestattet ein Zeuge trotz Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO die Verwertung früherer Aussagen, so kann er dies nicht auf einzelne Vernehmungen beschränken. Ein Teilverzicht führt vielmehr dazu, dass sämtliche früheren Angaben – mit Ausnahme richterlicher Vernehmungen nach Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht – unverwertbar sind. (BGHSt)

2. Der Zeuge kann entscheiden, ob er sich als Beweismittel zur Verfügung stellen will oder nicht. Darüber hinaus hat er kein schützenswertes Interesse daran, den Umfang der Verwertbarkeit der von ihm bereits vorliegenden Angaben zu bestimmen, weshalb insoweit im Interesse des Angeklagten und der Allgemeinheit an der Wahrheitserforschung seinem Einfluss auf das Strafverfahren Grenzen zu ziehen sind. (Bearbeiter)


Entscheidung

74. BGH 6 StR 495/23 – Beschluss vom 14. November 2023 (LG Stade)

BGH; Adhäsionsverfahren (Antragsberechtigung: Geltendmachung eines fremden Anspruchs im eigenen Namen, sogenannte gewillkürte Prozessstandschaft).

§ 403 Satz 2 StPO

Antragsberechtigt im Adhäsionsverfahren ist auch, wer einen fremden Anspruch im eigenen Namen im Wege sogenannter gewillkürter Prozessstandschaft geltend macht. (BGH)


Entscheidung

42. BGH 5 StR 271/23 – Beschluss vom 6. Dezember 2023 (LG Hamburg)

Revision (Anforderungen an die Begründung der Inbegriffsrüge).

§ 344 StPO

Zur ordnungsgemäßen Begründung einer Inbegriffsrüge ist darzutun, dass das Beweismittel weder ausweislich des Sitzungsprotokolls noch in sonst zulässiger Weise in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist, etwa durch – nicht protokollierungsbedürftigen – Vorhalt. Etwas anderes gilt regelmäßig nur, wenn – etwa bei der wörtlichen Zitierung einer mehrseitigen Urkunde in den Urteilsgründen – ausgeschlossen werden kann, dass die Urkunden durch Vorhalt eingeführt worden waren.


Entscheidung

38. BGH 5 StR 120/23 – Urteil vom 27. September 2023 (LG Kiel)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Konkurrenzen und Beteiligung bei aufeinanderfolgenden „Kurierfahrten“); Wirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung; gerichtliche Kognitionspflicht; Umgrenzungsfunktion der Anklage.

§ 29 BtMG; § 52 StGB; § 200 StPO; § 264 StPO; § 344 StPO

1. Die gerichtliche Kognitionspflicht (§ 264 StPO) gebietet, den durch die zugelassene Anklage abgegrenzten Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs zu erschöpfen. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte konkurrenzrechtliche Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen.

2. Führt ein Drogenkurier noch Betäubungsmitteleinheiten aus einer vorangegangenen Fahrt mit sich und werden die nunmehr übrig bleibenden Einheiten wiederum erst im Rahmen der nachfolgenden Fahrt verkauft, ergeben sich zusätzliche, zu Tateinheit führende Überschneidungen zwischen den aufeinander folgenden Fahrten. Denn die Mitnahme solcherart zusammengesetzter Sortimente begründet jeweils einen Besitz an den aus der vorausgegangenen Fahrt verbliebenen und den neu übernommenen Einheiten, der über eine bloße Gleichzeitigkeit hinausgeht und die Wertung rechtfertigt, dass die tatsächliche Ausübung des Besitzes über die eine Menge zugleich die Ausübung der tatsächlichen Verfügungsgewalt über die andere darstellt.


Entscheidung

67. BGH 6 StR 431/23 – Beschluss vom 12. Dezember 2023 (LG Frankfurt [Oder])

Zurückweisung der Anhörungsrüge als unbegründet; Teileinstellung bei mehreren Taten (Berücksichtigung im Rahmen der Beweiswürdigung).

§ 356a StPO; § 154 Abs. 2 StPO; § 261 StPO

Werden weitere Tatvorwürfe nach § 154 Abs. 2 StPO ausgeschieden, ist deren Berücksichtigung im Rahmen der Beweiswürdigung erforderlich, sofern der Grund für die Nichtverfolgung dieser Taten einen Einfluss auf die Gesamtwürdigung der Beweise zum verbleibenden Vorwurf haben kann.


Entscheidung

20. BGH 3 StR 249/23 – Urteil vom 2. November 2023 (LG Duisburg)

Anforderungen an die Beweiswürdigung beim freisprechenden Urteil (Lückenhaftigkeit; Abweichen von Ausführungen eines Sachverständigen; Grad der Überzeugung;

isolierte Bewertung von Indizien; Gesamtbewertung aller Beweisanzeichen).

§ 261 StPO

1. Falls das Tatgericht eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe für erforderlich gehalten hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantwortet, muss es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung erlaubt, ob es die Darlegungen des Sachverständigen zutreffend gewürdigt und aus ihnen rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat. Hierzu bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit dessen Ausführungen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt.

2. Soweit eine regelmäßig erforderliche Gesamtbewertung aller Beweisanzeichen mit dem ihnen jeweils zukommenden Beweiswert vorzunehmen ist, kann die Annahme des Tatgerichts in den Urteilsgründen, dass ein einzelnes Indiz „für sich betrachtet“ keinen Tatbezug aufgewiesen habe, die Sorge begründen, dass es die an anderer Stelle genannte Gesamtschau lediglich formelhaft erwähnt und nicht die gebotene Gesamtbewertung vorgenommen hat.


Entscheidung

59. BGH 6 StR 316/23 – Beschluss vom 2. November 2023 (LG Verden)

Höchstdauer einer Unterbrechung; Hemmung der Unterbrechungsfristen wegen Infektionsschutzmaßnahmen; Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang: Schärfung des Kausalitätserfordernisses zwischen Hang und Anlasstat; Erfolgsaussicht: tatsächliche Anhaltspunkte, moderate Anhebung der Anforderungen, Wahrscheinlichkeit höheren Grades; Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgebenden Umstände).

§ 229 Abs. 1 StPO; § 10 EGStPO a.F.; § 209 BGB; § 2 Abs. 6 StGB; § 64 StGB

1. Die Zeit der Hemmung (hier: nach § 10 EGStPO a. F.) ist entsprechend § 209 BGB zu bestimmen. Sie beginnt daher mit dem Tag, an dem der Hemmungsgrund eingetreten ist, und endet mit dem Tag seines Wegfalls. Beide Tage gehören zur Hemmungszeit und werden nicht in den Unterbrechungszeitraum eingerechnet.

2. Nach § 64 Satz 1 StGB darf eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur noch angeordnet werden, wenn die ihr zugrundeliegenden Taten „überwiegend“ auf den Hang zurückgehen. Durch die Schärfung des Kausalitätserfordernisses zwischen „Hang“ und „Anlasstat“ soll erreicht werden, dass Personen, bei denen die Straffälligkeit nicht überwiegend auf den Hang, sondern (auch) auf andere Ursachen zurückzuführen ist, künftig nicht mehr die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 64 StGB erfüllen. Die Mitursächlichkeit des Hangs muss quantitativ andere Ursachen übertreffen, somit mehr als diese für die Begehung der Tat ausschlaggebend sein.

3. § 64 Satz 2 StGB setzt nunmehr voraus, dass der Behandlungserfolg „aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten“ ist. Durch die Neufassung der Vorschrift sind die Anforderungen an eine günstige Behandlungsprognose „moderat angehoben“ worden, indem jetzt „eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ vorausgesetzt wird; im Übrigen bleibt es dabei, dass die Beurteilung der Erfolgsaussicht im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgebenden Umstände vorzunehmen ist.