HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2024
25. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

94. BGH 2 StR 441/23 – Beschluss vom 14. November 2023 (LG Frankfurt am Main)

Verminderte Schuldfähigkeit (minder schwerer Fall: vertypter Milderungsgrund, Absehen von einer Strafrahmenmilderung, Gesamtwürdigung).

§ 21 StGB

Zwar gestattet § 21 StGB das Absehen von einer Strafrahmenmilderung, hierfür bedarf es jedoch einer Gesamtwürdigung aller schuldrelevanten Umstände des Einzelfalls. Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber die Tatschuld als typischerweise beträchtlich verringert ansieht, wenn der Täter vermindert schuldfähig war, was sich im Ausmaß der fakultativen Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 widerspiegelt. Hieraus folgt, dass es für die Verweigerung der Milderung eines besonderen Grundes bedarf, der umso gewichtiger sein muss, je gravierender sich die Beibehaltung des Regelstrafrahmens auswirkt.


Entscheidung

7. BGH 1 StR 214/23 – Urteil vom 18. Oktober 2023 (LG Tübingen)

Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Anwendbarkeit des neuen Rechts; überwiegendes Zurückgehen der Tat auf einen Hang zum Missbrauch berauschender Mittel: bloße Mitursächlichkeit nicht ausreichend; Erfolgsprognose: erforderliche Wahrscheinlichkeit höheren Grades: erforderliche Feststellungen im Urteil).

§ 64 StGB n. F.; § 261 StPO; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

1. Gemäß § 64 Satz 1 Halbs. 1 StGB n. F. ist erforderlich, dass der Hang zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln „überwiegend“ dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat und dies bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist. „Überwiegend“ ursächlich ist der Hang für die Anlasstat, wenn dieser mehr als andere Umstände für die Begehung der Tat ausschlaggebend war. Demgegenüber ist die bloße Mitursächlichkeit des Hangs für die Tat nur noch dann ausreichend, wenn sie quantitativ andere Ursachen überwiegt; eine Mitursächlichkeit unterhalb dieser Schwelle reicht nicht mehr aus.

2. Die Annahme des symptomatischen Zusammenhangs scheidet in Ansehung dessen zukünftig insbesondere in Fällen aus, in denen die Anlasstat dazu begangen wird, um – neben dem Drogenkonsum – den eigenen, womöglich aufwendigen Lebensbedarf zu finanzieren. Bei einem Rauschgifthändler, dem es allein darum geht, erworbene Betäubungsmittel mit Gewinn zu verkaufen, fehlt der symptomatische Zusammenhang regelmäßig auch dann, wenn er gelegentlich selbst Suchtmittel konsumiert (vgl. BT-Drucks. 20/5913, S. 47). Ebenso liegt es, wenn nicht die Konsumstörung, sondern ein suchtunabhängiges dissoziales Verhalten für die Tatbegehung wesentlich war (BT-Drucks. 20/5913, S. 47). Anders als unter Geltung des § 64 StGB aF fehlt es also an einem solchen Zusammenhang nicht erst dann, wenn die Taten allein zur Finanzierung des allgemeinen Lebensbedarfs oder zur Gewinnerzielung bestimmt waren, sondern bereits, wenn dies überwiegend der Fall gewesen ist.

3. Nach § 64 Satz 2 StGB darf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur angeordnet werden, wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten ist, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Abs. 1 Satz 1 oder 3 StGB zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen. Notwendig, aber auch ausreichend für die vom Tatgericht zu treffende Prognose ist eine auf Tatsachen gegründete „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ für das Eintreten des Behandlungserfolgs, wie sie etwa auch für die Maßregelanordnung nach § 63 StGB vorausgesetzt wird (vgl. BT-Drucks. 20/5913, S. 48, S. 70). Wie bereits nach § 64 Satz 2 StGB aF bedarf es einer sicheren und unbedingten Gewähr hierfür zwar nicht. Erforderlich ist aber, dass in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Verurteilten konkrete Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Verlauf der Therapie zu erkennen sind, die nicht nur die Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung, sondern die positive Feststellung der hohen Wahrscheinlichkeit einer konkreten Erfolgsaussicht tragen (vgl. BT-Drucks. 20/5913, S. 70).

4. Damit das Revisionsgericht prüfen kann, ob eine Erfolgsaussicht in diesem vom Gesetzgeber nun stärker als bisher geforderten Ausmaß besteht, bedarf es der hinreichenden Darlegung konkreter, durch den Tatrichter als prognostisch bedeutsam für einen die Behandlung im Maßregelvollzug überdauernden Therapieerfolg bewerteter Umstände in den Urteilsgründen. Bestehen (gewichtige) negative Faktoren, die gegen die Erfolgsaussicht der Behandlung sprechen können, sind diese abzuhandeln und in eine umfassende Gesamtwürdigung einzustellen. Eine Therapiebereitschaft allein – mag diese auch ein wesentlicher prognosegünstiger Umstand sein – genügt für die Annahme einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht nicht, wenn zugleich prognoseungünstige Umstände von Gewicht festzustellen sind. Angesichts des gegenüber § 64 Satz 2 StGB aF gesteigerten Wahrscheinlichkeitsgrads für den Eintritt des Behandlungserfolgs wird sich der Tatrichter mit etwaigen prognoseungünstigen Umständen eingehender als bisher zu beschäftigen und darzulegen haben, weshalb eine positive Prognose dennoch besteht.


Entscheidung

61. BGH 6 StR 327/23 – Urteil vom 15. November 2023 (LG Nürnberg-Fürth)

Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang: Substanzkonsumstörung; dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit; Gefährlichkeitsprognose; Urteilsgründe: Ausführungen eines Sachverständigen, Mitteilung wesentlicher Anknüpfungstatsachen und Darlegungen).

§ 2 Abs. 6 StGB, § 64 StGB; § 267 StPO

1. Das Tatbestandsmerkmal der „Substanzkonsumstörung“ soll Täter mit einer substanzbezogenen Abhängigkeitserkrankung im medizinischen Sinne und Fälle eines Substanzmissbrauchs erfassen, dessen Schweregrad unmittelbar unterhalb einer Abhängigkeit einzuordnen ist. Damit ist ein Missbrauch gemeint, der nach ICD-10 als eine schwere Form des schädlichen Gebrauchs einzustufen ist. Bei einem lediglich einfachen bzw. episodenhaften schädlichen Gebrauch soll dagegen eine Unterbringung nicht (mehr) möglich sein.

2. Um die Unterbringung insbesondere in Fällen schädlichen Gebrauchs von Substanzen rechtfertigen zu können, müssen grundsätzlich schwerwiegende und dauernde störungsbedingte Beeinträchtigungen der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeitsfähigkeit oder der Leistungsfähigkeit durch das Tatgericht in den Urteilsgründen festgestellt werden (§ 267 Abs. 6 Satz 1 StPO).


Entscheidung

18. BGH 3 StR 229/23 – Beschluss vom 19. September 2023 (LG Halle)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Auswirkung des Defekts auf die Tatbegehung; Gefährlichkeitsprognose); Einsichts- und Steuerungsfähigkeit (Differenzierung; Prüfungsreihenfolge).

§ 20 StGB; 21 StGB; 64 StGB

1. Nimmt das Tatgericht eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit des Täters an, so ist seine Schuld gleichwohl nicht gemindert und § 21 StGB nicht anwendbar, wenn er das Unrecht seines Tuns im Tatzeitpunkt dennoch einsah; das Tatgericht hat vielmehr darüber zu befinden, ob die Einschränkung der Einsichtsfähigkeit auch tatsächlich zum Fehlen der Unrechtseinsicht führte und dem Täter dies vorzuwerfen ist; nur wenn beides zu bejahen ist, greift § 21 StGB.

2. Eine aufgehobene oder erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit ist grundsätzlich erst zu prüfen, wenn der Täter das Unrecht der Tat einsah oder zumindest einsehen konnte. Die Anwendung des § 21 StGB kann grundsätzlich nicht auf beide Alternativen – erheblich verminderte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit – zugleich gestützt werden.

3. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht.

4. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln. Sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist.

5. Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehenden Defekts über einen längeren Zeitraum hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, ist ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten.


Entscheidung

91. BGH 2 StR 321/23 – Beschluss vom 24. Oktober 2023 (LG Frankfurt am Main)

Einziehung (Geldwäsche; Verhältnismäßigkeit: nicht obligatorisch vorgeschriebene Einziehung, wirtschaftliche und sonstige Folgen der Einziehung, Unrechtsgehalt der Tat, Schuldvorwurf, mehrere Taten mit unterschiedlichem Schuldgehalt, Teileinziehung); Verbot der Schlechterstellung.

§ 74 StGB; § 74c StGB; § 261 Abs. 7 StGB aF; § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO

Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 74f Abs. 1 Satz 1 StGB) darf die nicht obligatorisch vorgeschriebene Einziehung nicht angeordnet werden, wenn sie zur begangenen Tat und zum Vorwurf, der den von der Einziehung Betroffenen trifft, außer Verhältnis steht. Dabei sind insbesondere die wirtschaftlichen und sonstigen Folgen der Einziehung auf der einen und der Unrechtsgehalt der Tat sowie der den Tatbeteiligten treffende Schuldvorwurf in den Blick zu nehmen, ohne dass das Gericht bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit auf diese Umstände beschränkt ist. Betrifft die Einziehung die Gegenstände mehrerer Taten mit unterschiedlichem Schuldgehalt, kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anlass bieten, eine Teileinziehung zu erwägen.


Entscheidung

65. BGH 6 StR 408/23 – Beschluss vom 16. November 2023 (LG Potsdam)

Einziehung von Taterträgen bei anderen (Erbe; Erbschaft).

§ 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a, Abs. 2 StGB

Die Einziehung des Wertersatzes beim Erben setzt – anders als in den Verschiebungsfällen nach § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b StGB – nicht voraus, dass der Vermögensgegenstand mit dem Ziel übertragen wurde, ihn dem Gläubigerzugriff zu entziehen oder die Tat zu verschleiern. Einer entsprechenden Einschränkung der Wertersatzeinziehung gegenüber dem Erben bedarf es nicht.