HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2023
24. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

357. BVerfG 2 BvR 2009/22 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 15. Februar 2023 (OLG Düsseldorf)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen eine Auslieferung nach Belgien zum Zwecke der Strafverfolgung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (Unionsgrundrechte als vorrangiger Prüfungsmaßstab bei unionsrechtlich vollständig determinierten Rechtsfragen; europarechtlicher Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht; unionsgrundrechtliches Recht auf effektiven Rechtsschutz; unzureichende Überprüfung der Einhaltung zwingender Mindestangaben im Europäischen Haftbefehl; Mitteilung der einschlägigen Straftatbestände, der tatsächlichen Umstände und der Beteiligung des Verfolgten; Gebot der Einholung notwendiger Zusatzinformationen für die Zulässigkeitsentscheidung; Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens; Grundsatz der Spezialität).

Art. 25 GG; Art. 47 Abs. 1 GRCh; Art. 2 Abs. 2 RbEuHb; Art. 4 RbEuHb; Art. 8 Abs. 1 RbEuHb; Art. 11 Abs. 2 RbEuHb; Art. 15 Abs. 2 RbEuHb; § 81 Nr. 4 IRG; § 83a Abs. 1 IRG

1. Eine Entscheidung, mit der eine Auslieferung nach Belgien zum Zwecke der Strafverfolgung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls für zulässig erklärt wird, verletzt das unionsgrundrechtliche Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Oberlandesgericht die Einhaltung der zwingenden Mindestangaben im Europäischen Haftbefehl hinsichtlich der vorgeworfenen Straftaten, der Beschreibung der zugrundeliegenden tatsächlichen Umstände und

der Beteiligung des Verfolgten nur unzureichend überprüft (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 17. November 2022 [= HRRS 2022 Nr. 1188]).

2. Ein in Belgien ausgestellter Europäischer Haftbefehl genügt nicht den für seine Gültigkeit maßgeblichen Mindesterfordernissen, wenn er als einschlägige Straftatbestände einerseits „Menschenhandel“ und „Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“ benennt, während an anderer Stelle lediglich die belgischen Strafnormen für „Schleusung“ und „Mittäterschaft“ benannt sind, die – anders als die zuerst genannten Tatbestände – zudem nicht den Listenstraftaten nach Art. 2 Abs. 2 RbEuHb unterfallen, bei denen eine Prüfung der gegenseitigen Strafbarkeit entbehrlich ist.

3. Die einem Europäischen Haftbefehl zugrundeliegende Straftat ist nicht hinreichend beschrieben, wenn ohne nähere Konkretisierung lediglich mitgeteilt wird, dem – teils als „Täter“, teils als „Beteiligter“ bezeichneten – Verfolgten werde vorgeworfen, „zum Zwecke der Einschleusung“ ein Schlauchboot transportiert und „Kontakt zu weiteren Verdächtigen“ gehabt zu haben, mit denen er über die „weitere Ausführung“ von „Aufträgen“ gesprochen habe.

4. Im vollständig unionsrechtlich determinierten Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern die Unionsgrundrechte maßgeblich. Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet den Grundrechtsschutz in enger Kooperation mit dem EuGH, dem EGMR und den Verfassungs- und Höchstgerichten der anderen Mitgliedstaaten. Es prüft die Entscheidungen der Fachgerichte daraufhin nach, ob diese bei der Anwendung des Unionsrechts den Anforderungen der Grundrechtecharta Genüge getan haben.

5. Das unionsgrundrechtliche Recht auf effektiven Rechtsschutz umfasst das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Dieses wird bezogen auf das europäische Überstellungsverfahren im Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl bekräftigt, welcher dem Verfolgten einen Rechtsbeistand zur Seite stellt und die den Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde verpflichtet, über die Überstellung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses zu entscheiden und die notwendigen zusätzlichen Informationen anzufordern, wenn die übermittelten Informationen für die Zulässigkeitsentscheidung nicht ausreichen.

6. Die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, die auch dem System des Europäischen Haftbefehls zugrunde liegen, beruhen auf der Prämisse, dass der Europäische Haftbefehl im Einklang mit den Mindesterfordernissen ausgestellt wurde, von denen seine Gültigkeit abhängt.

7. Dem entsprechend ist eine Auslieferung nach der einfach-gesetzlichen Regelung in § 83a Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 5 IRG nur zulässig, wenn der Europäische Haftbefehl mindestens Angaben zur Art und rechtlichen Würdigung der Straftat einschließlich der gesetzlichen Bestimmungen sowie zur Beschreibung der Umstände enthält, unter denen die Straftat begangen wurde; dies umfasst die Angabe der Tatzeit, des Tatorts und der Tatbeteiligung der gesuchten Person.

8. Die Angaben zu den tatsächlichen Umständen und zur rechtlichen Würdigung der in Rede stehenden Straftat dienen auch der effektiven Überprüfung einer Wahrung des Grundsatzes der Spezialität, der zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG gehört und der untrennbar mit der Vollstreckung eines – in seiner Tragweite klar festzulegenden – Europäischen Haftbefehls verbunden ist.


Entscheidung

355. BVerfG 2 BvR 117/20, 2 BvR 962/21 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 24. Februar 2023 (OLG Koblenz / LG Koblenz)

Aussetzung der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung (Menschenwürde; realisierbare Chance auf Wiedererlangung der Freiheit; Freiheitsgrundrecht; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; prognostische Gesamtwürdigung; Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit; Eingehen eines vertretbaren Restrisikos; Gewicht der bedrohten Rechtsgüter; Wahrscheinlichkeit erneuter Straffälligkeit; richterliche Pflicht zur Sachaufklärung; Auswirkung verbleibender Zweifel zulasten des Verurteilten; Bedeutung von Vollzugslockerungen; Berücksichtigung möglicher Bewährungsweisungen; Begründungsanforderungen an die Versagung einer Aussetzung).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG; § 57a Abs. 1 StGB; § 45 Abs. 3 LJVollzG NRW

1. Die Ablehnung der Aussetzung der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn die Vollstreckungsgerichte nicht hinreichend berücksichtigen, dass das den Anlasstaten – zwei sexuell motivierten Morden – zugrundeliegende und während der Haft unbearbeitet gebliebene Persönlichkeitsdefizit in Form einer übersteigerten sexuellen Dranghaftigkeit bei dem seit über 50 Jahren inhaftierten und zwischenzeitlich über 75 Jahre alten Verurteilten naheliegenderweise nicht in einem Maße fortbesteht, das die Gefahr der Begehung vergleichbarer, gegen das Leben gerichteter Sexualstraftaten begründet. Dies gilt umso mehr, wenn außer Betracht geblieben ist, dass der Verurteilte mehrjährig im offenen Vollzug untergebracht und zu Langzeitausgängen zugelassen ist, ohne dass es zu neuen Straftaten gekommen ist.

2. Zu den Voraussetzungen einer menschenwürdigen Strafvollstreckung gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance verbleibt, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiedergewinnen zu können. Die Regelung des § 57a StGB konkretisiert insoweit den Schutz der Menschenwürde, deren Kern betroffen wäre, wenn ein Verurteilter ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung auf Freiheit aufgeben müsste und von vornherein zum Versterben in der Haft verurteilt wäre.

3. Bei der Entscheidung über die Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung bedarf es von Verfassungs wegen einer Gesamtwürdigung, die die von dem

Betroffenen ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht ins Verhältnis setzt und auch die in § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB aufgeführten Umstände berücksichtigt.

4. Bei der Abwägung kommt dem Freiheitsanspruch des Verurteilten wegen der regelmäßig bereits langen Haftzeit großes Gewicht zu. Die erforderliche Prüfung, ob die Vollstreckungsaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, schließt es daher mit ein, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird. Ob das Restrisiko vertretbar ist, hängt von den bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgütern und vom Grad der Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straffälligkeit ab. Dabei steht auch bei schweren Gewalt- oder Sexualdelikten die – nie sicher auszuschließende – bloße theoretische Möglichkeit eines Rückfalls der Aussetzung nicht von vornherein entgegen. Vielmehr muss sich die Ablehnungsentscheidung auf konkrete Tatsachen stützen, die das Risiko unvertretbar erscheinen lassen.

5. Allerdings muss das Rückfallrisiko umso geringer sein, je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind. Bei Straftaten, die wie der Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, kommt dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit naturgemäß eine besonders hohe Bedeutung zu. Daher ist für eine Aussetzung kein Raum, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Verurteilte ein neues schweres Verbrechen begehen wird. Kann nach zureichender richterlicher Sachaufklärung eine günstige Gefährlichkeitsprognose nicht gestellt werden, so ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn sich die verbleibenden Zweifel zulasten des Verurteilten auswirken.

6. Bei der Prognoseentscheidung kommt dem Verhalten des Verurteilten im Rahmen von Vollzugslockerungen besondere Bedeutung zu. Außerdem ist die mögliche Wirkung von Weisungen sowie der Betreuung durch einen Bewährungshelfer zu berücksichtigen.

7. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgen verfahrensrechtliche Anforderungen, die mit zunehmender Dauer der Freiheitsentziehung steigen. Vor allem wenn die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mehr gebietet, hat das Gericht sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis zu bemühen und die für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte näher darzulegen. Allerdings darf es in die richterliche Bewertung Eingang finden, wenn trotz Ausschöpfens der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel die Zuverlässigkeit der Prognose mit großen Unsicherheiten behaftet ist.


Entscheidung

353. BVerfG 2 BvL 11/22, 2 BvL 15/22 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 3. März 2023 (AG München, AG Wuppertal)

Unzulässige Richtervorlagen betreffend die Strafnorm zur Verbreitung eines kinderpornographischen Inhalts (Qualifizierung als Verbrechen; unterbliebene Regelung eines minder schweren Falls; Übermaßverbot; Darlegungsanforderungen an eine Vorlage zur konkreten Normenkontrolle; Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage).

Art. 100 Abs. 1 GG; § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 184b Abs. 1 Satz 1 StGB

1. Erachtet ein Strafgericht die Vorschrift des § 184b Abs. 1 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder mit Blick auf die durch den Gesetzgeber vorgenommene Qualifizierung als Verbrechen und die unterbliebene Regelung eines minder schweren Falls wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot als verfassungswidrig, so genügt die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nicht den Begründungsanforderungen, wenn das Gericht lediglich zu fiktiven Beispielsfällen ausführt und nicht darlegt, inwiefern das Verfahren überhaupt einen pornographischen Inhalt zum Gegenstand hat, der dem Tatbestand der Norm unterfällt.

2. In einem Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG muss das vorlegende Gericht angeben, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist. Dazu muss es den zugrunde liegenden Sachverhalt sowie die maßgeblichen rechtlichen Erwägungen im Vorlagebeschluss vollständig darlegen. Die Ausführungen müssen aus sich heraus verständlich sein und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen zur Auslegung der vorgelegten Vorschrift berücksichtigen.


Entscheidung

352. BVerfG 1 BvR 141/16 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 15. Februar 2023

Erfolglose Rechtssatzverfassungsbeschwerde gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung (mögliches Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses nach Entscheidung des EuGH; Begründungslast für das Fortbestehen der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde).

Art. 10 Abs. 1 GG; Art. 52 Abs. 1 GRCh; Art. 267 AEUV; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 100g Abs. 2 StPO; § 100g Abs. 3 StPO; § 113b TKG a.F.; § 113c TKG a.F.; § 176 TKG; § 177 TKG

1. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die gesetzliche Verpflichtung zur anlasslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten und gegen die Vorschriften zur strafprozessualen Verwertung solcher Daten ist unzulässig, wenn der Beschwerdeführer nichts dazu vorträgt, inwieweit ein Rechtsschutzbedürfnis fortbesteht, nachdem der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden hat, dass die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation im Lichte der Grundrechtecharta entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften nur unter besonderen formellen und materiellen Voraussetzungen und bei strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht entgegensteht.

2. Für die Überprüfung einer nationalen Rechtsnorm im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde besteht grundsätzlich kein Bedürfnis, wenn bereits feststeht, dass die Norm dem Unionsrecht widerspricht und deshalb innerstaatlich nicht angewendet werden darf.

3. Den Beschwerdeführer trifft bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- oder Rechtslage eine

Begründungslast für das Fortbestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde.


Entscheidung

354. BVerfG 2 BvR 39/22 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 17. Februar 2023 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Strafvollzugsbegleitende Überprüfung des Betreuungsangebots bei angeordneter Sicherungsverwahrung (möglicher Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses bei Erreichen des Strafendes und zwischenzeitlicher Entscheidung über die Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung; Begründungslast für das Fortbestehen der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde bei Änderung der Sach- und Rechtslage; Gebot bestmöglicher Sachaufklärung; Sachverständigengutachten zur Notwendigkeit psychiatrischer Behandlungsmaßnahmen).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 119a Abs. 1 Nr. 1 StVollzG; § 66c Abs. 2 StGB; § 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB

1. Die Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen, dessen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet ist, gegen eine gerichtliche Entscheidung zur strafvollzugsbegleitenden Kontrolle des Behandlungsangebots (§ 119a Abs. 1 Nr. 1 StVollzG) genügt nicht den Darlegungsanforderungen, wenn bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Strafende erreicht ist und der Betroffene nicht ergänzend dazu vorträgt, inwieweit angesichts der zwischenzeitlich zu treffenden Entscheidung über die Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) bezüglich der vorangegangenen Überprüfungsentscheidung noch ein Rechtsschutzbedürfnis besteht.

2. Den Beschwerdeführer trifft bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage eine Begründungslast für das Fortbestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde.

3. Für Entscheidungen im Rahmen des Überprüfungsverfahrens nach § 119a StVollzG gilt das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung. Dieses ist möglicherweise verletzt, wenn der Gefangene zur Vorbereitung einer angezeigten sozialtherapeutischen Behandlung lediglich eine externe Einzeltherapie erhält und die Strafvollstreckungskammer auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichtet, obwohl die Notwendigkeit zusätzlicher psychiatrischer Behandlungsmaßnahmen im Raum steht.


Entscheidung

356. BVerfG 2 BvR 1810/22 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 3. März 2023 (AG Montabaur)

Stillschweigendes Übergehen eines Adhäsionsantrags (Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör; Rechtswegerschöpfung vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde; Anhörungsrüge; ausnahmsweise Statthaftigkeit auch gegen ein Urteil; kein Vorrang des Zivilrechtswegs).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 33a Satz 1 StPO; § 406 StPO

1. Übergeht ein Strafgericht in seinem Urteil stillschweigend einen Adhäsionsantrag, so ist der Adhäsionskläger vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gehalten, zur Erschöpfung des Rechtswegs eine Anhörungsrüge anzubringen und so auf die Beseitigung der Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör hinzuwirken.

2. Die Anhörungsrüge ist in derartigen Fällen – ebenso wie bei einer entgegen § 406 Abs. 5 Satz 2 StPO durch Urteil ergangenen expliziten Absehensentscheidung – ausnahmsweise auch gegen ein Strafurteil statthaft, nachdem eine sofortige Beschwerde wegen des Abschlusses der Instanz ausgeschlossen ist (§ 406a Abs. 1 Satz 1 StPO) und der Adhäsionskläger eine Berufungsentscheidung nicht erzwingen kann. Hingegen gebietet es der Grundsatz der Subsidiarität nicht, vorrangig den prozessual weniger vorteilhaften Zivilrechtsweg zu beschreiten.