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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2022
23. Jahrgang
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1. Die umfassende erkennungsdienstliche Behandlung eines Beschuldigten, dem eine Sachbeschädigung durch Graffiti vorgeworfen wird und der von Polizeibeamten auf Fotoaufnahmen eines Tatzeugen wiedererkannt wurde, verletzt diesen in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, soweit die Maßnahme – wie bei der Abnahme eines Zehnfinger- und Handflächenabdrucks – im Einzelfall für die Strafverfolgung bereits nicht geeignet
ist, weil am Tatort keine daktyloskopischen Spuren sichergestellt wurden. Gleiches gilt, soweit eine konkrete Notwendigkeit der Datenerhebung – wie betreffend die Anfertigung eines Fünfseitenbildes und eines Ganzkörperbildes – nicht erkennbar ist, weil eine Identifizierung des Beschuldigten bereits anhand des vorhandenen Bildmaterials möglich erscheint.
2. Dass eine erkennungsdienstliche Maßnahme möglicherweise zur Erforschung und Aufklärung zukünftiger Straftaten (§ 81b Alt. 2 StPO) zulässig ist, rechtfertigt nicht zugleich ihre Durchführung für ein konkretes Strafverfahren (§ 81b Alt. 1 StPO). Anderenfalls würde die durch den Gesetzgeber vorgegebene Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Verwendungszwecken in unzulässiger Weise konterkariert.
3. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Es gewährt seinen Trägern Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Daten. Umfasst sind alle Informationen, die über die Bezugsperson etwas aussagen können, auch wenn sie offenkundig oder allgemein zugänglich sind.
4. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung darf nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Die Einschränkung darf nicht weitergehen, als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist. Der Gesetzgeber hat den Zweck einer Informationserhebung bereichsspezifisch und präzise zu bestimmen und die Informationserhebung und -verwendung auf das zu diesem Zweck Erforderliche zu begrenzen.
5. § 81b Alt. 1 StPO trägt dem Schrankenvorbehalt für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausreichend Rechnung. Die Vorschrift setzt voraus, dass gegen den Betroffenen der Anfangsverdacht einer Straftat besteht. Die einzelne Maßnahme muss zudem für den Zweck des Strafverfahrens konkret notwendig sein. Die Notwendigkeit orientiert sich an der Sachaufklärungspflicht der Gerichte und stellt zugleich eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips dar.
1. Eine unter Aufsicht durchgeführte Urinkontrolle unter Entblößung des Genitals bei einem Strafgefangenen greift in schwerwiegender Weise in dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht ein und berührt dessen Intimsphäre. Angesichts dessen darf eine Strafvollstreckungskammer bei der Überprüfung des Eingriffs nicht offenlassen, ob sich dieser auf die Rechtsgrundlage für Maßnahmen zum Gesundheitsschutz des Gefangenen oder auf eine gesonderte Rechtsgrundlage stützt, die Suchtmittelkontrollen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Justizvollzugsanstalt ermöglicht.
2. Die Strafvollstreckungskammer verletzt den Gefangenen auch dann in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, wenn sie nicht berücksichtigt, dass der Gesetzgeber auch die Möglichkeit eröffnet hat, die Suchtmittelkontrolle mit Einwilligung des Gefangenen in Form einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut durchzuführen. Wird dem Gefangenen Alternative vorenthalten, wird eine beaufsichtigte Urinkontrolle regelmäßig unverhältnismäßig sein.
3. Ein gerechter Ausgleich zwischen der Wahrung der Intimsphäre des Gefangenen und dem Sicherheitsinteresse der Vollzugsanstalt erfordert auch die Prüfung, in welcher Frequenz beobachtete Urinkontrollen zur Suchtmittelprävention angeordnet werden dürfen. Die Anordnung von vier beaufsichtigten Kontrollen innerhalb von fünf Wochen ohne konkrete Anhaltspunkte für einen Drogenkonsum unterliegt insbesondere dann erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Justizvollzugsanstalt keine überzeugende Begründung für die hohe Anzahl anlassloser Kontrollen innerhalb dieser kurzen Zeitspanne gegeben hat.
4. Staatliche Maßnahmen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl eines Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme. Der bloße Umstand, dass Verwaltungsabläufe sich anderenfalls einfacher gestalten, ist hier noch weniger als in weniger sensiblen Bereichen geeignet, den Verzicht auf solche Rücksichtnahmen zu rechtfertigen.
5. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn eine Urinkontrolle im Strafvollzug bei Bestehen konkreter Anhaltspunkte für einen Betäubungsmittelkonsum, wozu etwa auch eine einschlägige Vorbelastung des Gefangenen zählt, zum Nachweis eines eventuellen Drogenkonsums angeordnet wird. Keiner Entscheidung bedarf an dieser Stelle die in der fachgerichtlichen Rechtsprechung umstrittene Frage, ob zur Bekämpfung des Betäubungsmittelkonsums in Justizvollzugsanstalten Drogentests mittels Urinkontrollen auch ohne Vorbelastung oder einen sonst begründbaren Verdacht eines Drogenkonsums des Gefangenen anlasslos angeordnet werden können.
1. Eine Strafvollstreckungskammer überspannt bei einer Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe für einen Strafgefangenen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung in einer mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtsschutzgleichheit nicht vereinbaren Weise, wenn sie die Weitergabe von Gesundheitsdaten des Gefangenen durch den Anstaltsarzt an eine Vollzugsbedienstete als schlichte Wissenserklärung einstuft, die keine Maßnahme im Sinne des § 109 StVollzG darstelle und daher einer gerichtlichen Überprüfung entzogen sei.
2. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Allerdings kann die Gewährung von Prozesskostenhilfe grundsätzlich davon abhängig gemacht werden, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint.
3. Die Prüfung der Erfolgsaussichten darf jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Prozesskostenhilfeverfahren zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen. Daher dürfen im Prozesskostenhilfeverfahren die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht überspannt werden.
4. Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts, das Ziel der Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes zu verfolgen und den Zugang zu den eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Im Strafvollzugsrecht kommt es daher für die Beantwortung der Frage, ob ein Handeln oder Unterlassen der Justizvollzugsanstalt eine regelnde Maßnahme im Sinne des § 109 StVollzG darstellt, maßgeblich darauf an, ob die Möglichkeit besteht, dass dieses Handeln oder Unterlassen Rechte des Gefangenen verletzt.
5. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten grundsätzlich selbst zu bestimmen. Der Inhalt von Krankenunterlagen von Strafgefangenen ist wegen seines sehr privaten Charakters in besonderem Maße grundrechtsrelevant. Ein ungerechtfertigtes Offenbaren von Gesundheitsdaten kann das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzen und ist deshalb als Maßnahme anzusehen, die tauglicher Gegenstand eines Verfahrens nach § 109 StVollzG sein kann.
Zur Auslegung der Richtlinie 2014/41 (im Folgenden: RL EEA) im Zusammenhang mit „EncroChat“ werden dem Gerichtshof der Europäischen Union im Wege des Vorabentscheidungsverfahren folgende Fragen vorgelegt:
1. Muss eine Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden: EEA) zur Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Vollstreckungsstaat (hier: Frankreich) befinden, von einem Richter erlassen werden, wenn nach dem Recht des Anordnungsstaats (hier: Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall die zugrunde liegende Beweiserhebung durch den Richter hätte angeordnet werden müssen?
2. Gilt dies hilfsweise zumindest dann, wenn der Vollstreckungsstaat die zugrunde liegende Maßnahme auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführt hat mit dem Ziel, die abgeschöpften Daten anschließend den an den Daten interessierten Ermittlungsbehörden im Anordnungsstaat zum Zweck der Strafverfolgung zur Verfügung zu stellen?
3. Muss eine EEA zur Erlangung von Beweismitteln unabhängig von den nationalen Zuständigkeitsregelungen des Anordnungsstaats immer dann von einem Richter (bzw. einer unabhängigen, nicht mit strafrechtlichen Ermittlungen befassten Stelle) erlassen werden, wenn die Maßnahme
schwerwiegende Eingriffe in hochrangige Grundrechte betrifft?
4. Steht Art. 6 Abs. 1 lit. a) RL EEA einer EEA zur Übermittlung von im Vollstreckungsstaat (Frankreich) schon vorhandenen Daten aus einer Telekommunikationsüberwachung – insbesondere Verkehrs- und Standortdaten sowie Aufzeichnungen von Kommunikationsinhalten – entgegen, wenn die vom Vollstreckungsstaat durchgeführte Überwachung sich auf sämtliche Anschlussnutzer eines Kommunikationsdienstes erstreckte, mit der EEA die Übermittlung der Daten sämtlicher auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaates genutzten Anschlüsse begehrt wird und weder bei der Anordnung und Durchführung der Überwachungsmaßnahme noch bei Erlass der EEA konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von schweren Straftaten durch diese individuellen Nutzer bestanden?
5. Steht Art. 6 Abs. 1 lit. a) RL EEA einer solchen EEA entgegen, wenn die Integrität der durch die Überwachungsmaßnahme abgeschöpften Daten wegen umfassender Geheimhaltung durch die Behörden im Vollstreckungsstaat nicht überprüft werden kann?
6. Steht Art. 6 Abs. 1 lit. b) RL EEA einer EEA zur Übermittlung von im Vollstreckungsstaat (Frankreich) schon vorhandenen Telekommunikationsdaten entgegen, wenn die der Datenerhebung zugrunde liegende Überwachungsmaßnahme des Vollstreckungsstaats nach dem Recht des Anordnungsstaats (Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unzulässig gewesen wäre?
7. Hilfsweise: Gilt dies jedenfalls dann, wenn der Vollstreckungsstaat die Überwachung auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats und in dessen Interesse durchgeführt hat?
8. Handelt es sich bei einer mit der Infiltration von Endgeräten verbundenen Maßnahme zur Abschöpfung von Verkehrs-, Standort- und Kommunikationsdaten eines internetbasierten Kommunikationsdienstes um eine Überwachung des Telekommunikationsverkehrs im Sinne von Art. 31 RL EEA?
9. Muss die Unterrichtung nach Art. 31 Abs. 1 RL EEA stets an einen Richter gerichtet werden oder gilt dies zumindest dann, wenn die vom überwachenden Staat (Frankreich) geplante Maßnahme nach dem Recht des unterrichteten Staats (Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nur durch einen Richter angeordnet werden könnte?
10. Soweit Art. 31 RL EEA auch dem Individualschutz der betroffenen Telekommunikationsnutzer dient, erstreckt sich dieser auch auf die Verwendung der Daten zur Strafverfolgung im unterrichteten Staat (Deutschland) und ist gegebenenfalls dieser Zweck gleichwertig mit dem weiteren Zweck, die Souveränität des unterrichteten Mitgliedsstaats zu schützen?
11. Kann sich bei einer Beweismittelerlangung durch eine unionsrechtswidrige EEA unmittelbar aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz ein Beweisverwertungsverbot ergeben?
12. Führt bei einer Beweismittelerlangung durch eine unionsrechtswidrige EEA der unionsrechtliche Äquivalenzgrundsatz zu einem Beweisverwertungsverbot, wenn die der Beweisgewinnung im Vollstreckungsstaat zugrunde liegende Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall im Anordnungsstaat nicht hätte angeordnet werden dürfen und die durch eine solche rechtswidrige innerstaatliche Maßnahme gewonnenen Beweise nach dem Recht des Anordnungsstaats nicht verwertbar wären?
13. Verstößt es gegen Unionsrecht, insbesondere den Grundsatz der Effektivität, wenn die strafprozessuale Verwertung von Beweismitteln, deren Erlangung gerade wegen eines fehlenden Tatverdachts unionsrechtswidrig war, im Rahmen einer Interessenabwägung mit der Schwere der erstmals durch die Auswertung der Beweismittel bekannt gewordenen Taten gerechtfertigt wird?
14. Hilfsweise: Ergibt sich aus dem Unionsrecht, insbesondere dem Grundsatz der Effektivität, dass Unionsrechtsverstöße bei der Beweismittelerlangung in einem nationalen Strafverfahren auch bei schweren Straftaten nicht vollständig ohne Folge bleiben dürfen und daher zumindest auf der Ebene der Beweiswürdigung oder der Strafzumessung zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt werden müssen?