HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2022
23. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

551. BGH 3 StR 202/21 - Urteil vom 24. Februar 2022 (LG Düsseldorf)

BGHSt; Regelmäßig kein Wiedereintritt in die Hauptverhandlung nach letztem Wort durch Verkündung des ein Ablehnungsgesuch zurückweisenden Beschlusses (Bezug zur Sachentscheidung; rein formale Vorgänge; ausdrückliche Erklärung; stillschweigender Wiedereintritt; Anforderungen an die Zulässigkeit der Revision; rechtliches Gehör); Ablehnung eines Beweisantrags wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit (Verbot der Beweisantizipation; Konnexität).

§ 258 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 S. 2 StPO; Art. 103 Abs. 1 GG

1. Die Verkündung des ein Ablehnungsgesuch zurückweisenden Beschlusses stellt für sich gesehen keinen Wiedereintritt in die Hauptverhandlung im Sinne des § 258 StPO dar. Anderes gilt allenfalls dann, wenn der Beschluss über die bloße Zurückweisung hinaus einen Bezug zur Sachentscheidung aufweist, weil sich in ihm die Bewertung einer potentiell urteilsrelevanten Frage widerspiegelt. Nicht maßgeblich ist hingegen, ob der Befangenheitsantrag als unzulässig oder unbegründet behandelt wird. (BGHSt)

2. Nach einem Wiedereintritt in die Verhandlung muss das Gericht die Möglichkeit zu umfassenden Schlussvorträgen und das letzte Wort erneut gewähren, auch wenn er nur einen unwesentlichen Aspekt oder einen Teil der Anklagevorwürfe betrifft, weil jeder Wiedereintritt den vorangegangenen Ausführungen ihre rechtliche Bedeutung als Schlussvorträge und letztes Wort nimmt. (Bearbeiter)

3. § 258 StPO, der Gewährleistung des durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Vorschrift soll sicherstellen, dass der Angeklagte unmittelbar vor der endgültigen Beratung des Gerichts zu dem gesamten Ergebnis der Hauptverhandlung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Stellung und somit auf die Urteilsfindung Einfluss nehmen kann. Diese Funktion ist allerdings, wenn dem Angeklagten bereits einmal das letzte Wort gewährt worden war, nur bei danach eintretenden, in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht sachentscheidungsrelevanten Ereignissen berührt. Bei neuen, sich auf die eigentliche Urteilsfindung in der Sache nicht auswirkenden, insbesondere rein formalen Vorgängen besteht hingegen für den Angeklagten kein Bedürfnis, sich in Reaktion hierauf ergänzend zu verteidigen. (Bearbeiter)

4. Ein Wiedereintritt in die Verhandlung kann durch eine ausdrückliche Erklärung des Vorsitzenden beziehungsweise des Gerichts oder stillschweigend geschehen. Für letzteres genügt jede Betätigung, in welcher der Wille des Gerichts, mit der Untersuchung und der Aburteilung fortzufahren, erkennbar zutage tritt, auch wenn das Gericht darin keine Wiedereröffnung der Verhandlung erblickt oder diese nicht beabsichtigt. Dies ist der Fall bei jedem Vorgang, der die gerichtliche Sachentscheidung auch nur mittelbar beeinflussen könnte, indem er eine tatsächliche oder rechtliche Bewertung des bisherigen Verfahrensergebnisses zum Ausdruck bringt. Auf Umfang und Bedeutung der nochmaligen Verhandlungen kommt es dabei nicht an. Ob ein Wiedereintritt vorliegt, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. (Bearbeiter)

5. Insbesondere wird durch Prozesshandlungen wieder in die Verhandlung eingetreten, die wie etwa die Stellung, Erörterung und Entscheidung von Beweisanträgen ihrer Natur nach in den Bereich der Beweisaufnahme fallen. Aber

auch ein sonstiges Verhandeln über einzelne Vorgänge kann einen Wiedereintritt begründen, beispielsweise Erörterungen über die Voraussetzungen eines Haftbefehls, also seines Erlasses, seiner Aufrechterhaltung oder Aufhebung. Demgegenüber liegt keine Wiedereröffnung der Verhandlung in Vorgängen, die - wie beispielsweise die Negativmitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO oder die Bekanntgabe eines Verbindungsbeschlusses zur gemeinsamen Urteilsverkündung - auf die gerichtliche Sachentscheidung keinen Einfluss haben können. (Bearbeiter)

6. Wegen des Verbots der Beweisantizipation darf eine Beweistatsache nicht mit dem Argument als bedeutungslos erachtet werden, das Tatgericht sei von ihrem Gegenteil schon überzeugt. (Bearbeiter)

7. Tatsächlich bedeutungslos sind Indiz- beziehungsweise Hilfstatsachen, wenn zwischen ihnen und dem Gegenstand der Urteilsfindung kein Sachzusammenhang besteht oder sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen könnten, weil sie nur mögliche, nicht aber zwingende Schlüsse zulassen und das Gericht den möglichen Schluss nicht ziehen will. (Bearbeiter)

8. Ob der Schluss gerechtfertigt wäre, hat das Tatgericht nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung zu beurteilen. Hierzu hat es die unter Beweis gestellte Tatsache so, als wäre sie erwiesen, in ihrem vollen Umfang ohne Umdeutung, Einengung oder Verkürzung in das bisherige Beweisergebnis einzustellen und prognostisch zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung zu der potentiell berührten Haupttatsache beziehungsweise zum Beweiswert der anderen Beweismittel in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde. Die Ablehnung wegen Bedeutungslosigkeit erlaubt es dem Tatgericht dabei nicht, die Bedeutungslosigkeit lediglich aus dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme abzuleiten, die Richtigkeit der behaupteten Tatsache in Frage zu stellen oder den Beweiswert in Zweifel zu ziehen. (Bearbeiter)

9. Eine vom Revisionsführer behauptete Verletzung des § 258 StPO muss durch die Angabe aller Tatsachen dargetan werden, die den konkreten Fehler lückenlos belegen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies erfordert in der Regel die vollständige Darlegung des für die Beurteilung der Rüge relevanten Verfahrensverlaufs, also auch der Anwesenheit des Angeklagten am Schluss der Verhandlung. Dabei ist die bloße Bezugnahme auf das Sitzungsprotokoll (wie auch ansonsten) unzulässig; das Revisionsgericht muss vielmehr allein aufgrund der Revisionsbegründungsschrift in die Lage versetzt werden, das Vorliegen des geltend gemachten Verfahrensfehlers prüfen zu können. (Bearbeiter)

10. Ein Beweisantrag muss sich nicht zu Umständen verhalten, die ihn bei fortgeschrittener Beweisaufnahme mit gegenläufigen Beweisergebnissen dennoch plausibel erscheinen lassen. Die Rechtsprechung, die vereinzelt eine solche „qualifizierte“ Konnexität für erforderlich gehalten hat (vgl. insbesondere BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 - 5 StR 38/08, BGHSt 52, 284), findet jedenfalls seit der umfassenden Neuregelung des Beweisantragsrechts durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10. Dezember 2019 keine Anwendung mehr; denn sie ist mit der geänderten Gesetzeslage nicht zu vereinbaren. (Bearbeiter)


Entscheidung

557. BGH 5 StR 153/21 - Beschluss vom 2. Februar 2022 (LG Bremen)

BGHR; erfolgreiche Rüge der fehlerhaften Gerichtsbesetzung bei Ausschluss der Mitwirkung einer Schöffin wegen Besorgnis der Befangenheit ohne Ablehnungsgesuch eines Ablehnungsberechtigten (Besetzungseinwand; Statthaftigkeit; Präklusion; willkürlicher Eingriff in die Gerichtsbesetzung; gesetzliche Ausschlussgründe; Prüfung von Amts wegen; Selbstablehnung).

§ 24 StPO; § 28 Abs. 1 StPO; § 30 StPO; § 31 StPO; 222b StPO; 338 Nr. 1 StPO

1. Wird ein Besetzungseinwand vom Rechtsmittelgericht als unstatthaft und damit als unzulässig verworfen, weil der Anwendungsbereich des § 222b StPO nicht eröffnet war, wird durch diese Entscheidung die Besetzungsrüge nach § 338 Nr. 1 StPO nicht präkludiert. (BGHR)

2. Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 StPO steht einer Besetzungsrüge nicht entgegen, wenn die Anwendungsvoraussetzungen der §§ 24, 30, 31 StPO verkannt werden und so in objektiv willkürlicher Weise in die Gerichtsbesetzung eingegriffen wird. (BGHR)

3. Wegen Besorgnis der Befangenheit kann ein Richter – wenn im Zeitpunkt der Entscheidung ein Ablehnungsgesuch eines Ablehnungsberechtigen im Sinne von § 24 Abs. 3 StPO nicht vorliegt – nur in-folge einer Selbstanzeige nach § 30 StPO von der Mitwirkung ausgeschlossen werden; von Amts wegen findet eine Überprüfung nur hinsichtlich der gesetzlichen Ausschlussgründe nach §§ 22, 23 StPO statt. (BGHR)


Entscheidung

523. BGH 4 StR 392/20 - Beschluss vom 16. Februar 2022 (LG Dortmund)

Ablehnung von Beweisanträgen (Ablehnung eines Beweisantrages auf Vernehmung eines Auslandszeugen: Befreiung von dem Verbot der Beweisantizipation, Darlegung im Gerichtsbeschluss, Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles, breite Beweisgrundlage, ungesichertes Beweisergebnis, Größe der Unwägbarkeiten, Zweifel hinsichtlich Wertes der bisher erhobenen Beweise, zu Erwartendes nicht Folgen der Ladung durch den Zeugen, Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen).

§ 244 StPO

1. Bei der Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, ist das Gericht von dem Verbot der Beweisantizipation befreit und darf seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären.

2. Kommt es unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags, als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse zu dem Ergebnis, dass ein Einfluss auf seine Überzeugung auch dann sicher ausgeschlossen ist, wenn der benannte Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigen werde, ist eine Ablehnung des Beweisantrags

rechtlich nicht zu beanstanden. In dem hierfür erforderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) müssen die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt werden, dass es dem Antragsteller möglich wird, seine Verteidigung auf die neue Verfahrenslage einzustellen und das Revisionsgericht überprüfen kann, ob die Antragsablehnung auf einer rational nachvollziehbaren, die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles erkennbar berücksichtigenden Argumentation beruht.

3. Ob das Gebot des § 244 Abs. 2 StPO, die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit auf alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, es gebietet, dem Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen nachzukommen, kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden. Allgemein gilt lediglich der Grundsatz, dass bei einem durch die bisherige Beweisaufnahme gesicherten Beweisergebnis auf breiter Beweisgrundlage eher von der Vernehmung des Auslandszeugen abgesehen werden kann. Dagegen wird die Vernehmung des Auslandszeugen umso eher notwendig sein, je ungesicherter das bisherige Beweisergebnis erscheint, je größer die Unwägbarkeiten sind und je mehr Zweifel hinsichtlich des Werts der bisher erhobenen Beweise überwunden werden müssen; dies gilt insbesondere dann, wenn der Auslandszeuge Vorgänge bekunden soll, die für den Schuldvorwurf von zentraler Bedeutung sind.

4. Die Möglichkeit, nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen abzulehnen, erfasst nicht nur Fälle der voraussichtlichen Unergiebigkeit der Zeugenaussage oder der Unerreichbarkeit des Zeugen, sondern – als Unterfall der Unerreichbarkeit – grundsätzlich auch solche Fallgestaltungen, in denen der Aufenthalt eines Zeugen zwar bekannt, aber damit zu rechnen ist, dass er entweder einer Ladung nicht folgen oder im Falle seines Erscheinens keine Angaben zur Sache machen werde. Dies gilt insbesondere für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat verdächtig sind und denen deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht.


Entscheidung

497. BGH 2 StR 378/20 - Beschluss vom 4. August 2021 (LG Frankfurt am Main)

Beweiswürdigung (beschränkte Revisibilität der Beweiswürdigung; Darlegungs- und Begründungsanforderungen in besonderen Beweislagen; Glaubhaftigkeit eines Zeugen: Gesamtwürdigung aller Einzelumstände).

§ 261 StPO

Besondere Darlegungs- und Begründungsanforderungen bestehen in besonderen Beweislagen, etwa in Fällen, in denen der Tatnachweis im Wesentlichen durch belastende Angaben anderer Tatbeteiligter geführt wird oder dann, wenn es sich bei dem Zeugen um eine problematische Persönlichkeit handelt oder seine Aussage inhaltliche Merkwürdigkeiten aufweist, die zur näheren Erläuterung drängen.