HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2022
23. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

148. BGH 1 StR 342/21 - Beschluss vom 15. Dezember 2021 (LG Bochum)

BGHSt; Betrug durch Unterlassen (Bestehen der Pflicht zur Offenbarung von Tatsachen bereits zum Tatzeitpunkt, hier: Verschweigen von Lohnzahlungen gegenüber der SOKA Gerüstbau, erst nachträgliche Erstreckung eines Tarifvertrages auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 263 Abs. 1 StGB; § 1 StGB; § 15 Abs. 1 SokaSiG 2

Eine Strafbarkeit wegen Betruges durch Verschweigen von Lohnzahlungen gegenüber der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes (SOKA Gerüstbau) kann sich für die Jahre 2014 und 2015 nicht aus § 15 Abs. 1 des Zweiten Sozialkassenverfahrensicherungsgesetzes (SokaSiG2) vom 1. September 2017 (BGBl. I 2017, 3356) ergeben. Der darin enthaltenen rückwirkenden Erstreckung der Rechtsnormen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber stehen für das Strafrecht Art. 103 GG und § 1 StGB entgegen. Denn nach diesen Vorschriften müssen die strafbewehrten Handlungspflichten bereits im Zeitpunkt der geforderten Handlung rechtlich wirksam bestanden haben. (BGHSt)


Entscheidung

240. BGH 5 StR 443/19 - Urteil vom 29. Oktober 2021 (LG Dresden)

Banden- und gewerbsmäßiger Betrug durch Vermittlung von Kapitalanlagen („Schneeballsystem; Täuschung; Tatsachenkern; Prospektangaben; Feststellung des Irrtums bei zahlreichen gleich gelagerten Fällen; Vermögensschaden; Wert des Rückzahlungsanspruchs; wirtschaftliche Betrachtung; Konkurrenzverhältnis zjm Kapitalanlagebetrug); Einziehung von Taterträgen in „Vertreterfällen (juristische Person; formaler Mantel; Trennung der Vermögenssphären; Taterlös; Weiterleitung ohne Rechtsgrund); vorschriftswidrige Gerichtsbesetzung; Beweisantrag „aufs Geratewohl“; Entscheidung über die Entlassung des Zeugen ohne Gewährung von rechtlichem Gehör; Beanstandung der Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht.

§ 263 StGB; § 264a StGB; § 73 StGB; § 32f StPO; § 243 StPO; § 248 StPO; § 338 Nr. 1 StPO; § 222b GVG

1. Für die Bestimmung des betrugsrelevanten Täuschungsgehalts einer Erklärung kommt es auf den Gesamteindruck des Adressaten nach der objektiven Verkehrsanschauung an. Ob dabei schriftliche Angaben zu berücksichtigen sind, die unwahren mündlichen Angaben widersprechen, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.

2. Die von Vertriebsmitarbeitern getätigte Aussage, ein Unternehmen sei „prosperierend“ oder verfüge über ein „tragfähiges Geschäftsmodell“, hat überwiegend wertenden Charakter und weist demnach nicht ohne Weiteres einen betrugsrelevanten Tatsachenkern auf. Hingegen kann ein hinreichender Tatsachenbezug gegeben sein, wenn bei der Erläuterung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens der Umstand nicht mitgeteilt wird, dass dem Unternehmen per Saldo kein Geld zugeführt und dessen Finanzierung letztlich nur im Wege eines „Schneeballsystems“ aufrechterhalten wird.

3. Das Tatgericht kann sich in Fällen, denen zahlreiche, im Wesentlichen gleich gelagerte Betrugshandlungen zu Grunde liegen, bei der Irrtumsfeststellung auf

die Vernehmung einer begrenzten Anzahl von Geschädigten beschränken, wenn es seine Überzeugung auf Indizien stützen kann und sich hieraus ein regelhaftes Vorstellungsbild ergibt. Dies gilt grundsätzlich auch in Fällen täuschungsbedingter Geldanlagen. Als Indizien können insofern etwa die Vernehmungen der Vermittler oder der Inhalt von Prospekten herangezogen werden.

4. Bei der täuschungsbedingten Vermittlung von Kapitalanlagen kann es zur konkreten Feststellung des Wertes der Rückzahlungsansprüche geboten sein, das Verlustrisiko anhand des vorhandenen Unternehmensvermögens und der nach der Mittelverwendungsabsicht zu erwartenden Rendite zu bewerten. Bei dieser Betrachtung bleiben aber die durch Straftaten erwirtschafteten Beträge außer Betracht. Daher können die Rückzahlungsansprüche von Anlegern bei wirtschaftlicher Betrachtung wertlos sein, wenn sie nur durch die strafbare Vereinnahmung weiterer Anlegergelder erfüllt werden können, da unter diesen Umständen jederzeit mit dem Zusammenbruch des Schneeballsystems gerechnet werden muss.

5. Beim Kapitalanlagebetrug nach § 264a StGB handelt es sich im Vergleich zum Betrug nach § 263 StGB um ein zum selbständigen Tatbestand erhobenes Versuchsdelikt, das in der Regel im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter § 263 StGB zurücktritt, falls dessen Voraussetzungen erfüllt sind.

6. „Durch“ die Tat erlangt i.S.d. § 73 StGB sind alle Vermögenswerte, die dem Täter aus der Verwirklichung des Tatbestandes selbst in irgendeiner Phase des Tatablaufs zufließen, insbesondere also seine Beute. Tritt die Bereicherung unmittelbar durch die Taten bei einem Dritten ein, eröffnet dies nicht ohne weiteres den Anwendungsbereich von § 73 Abs. 1 StGB zum Nachteil des handelnden Täters. Vielmehr kommt gegebenenfalls eine selbständige Anordnung der Einziehung von Taterträgen gegen den Drittbegünstigten nach § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB (sogenannte Vertreterfälle) in Betracht, da dieser als Rechtssubjekt über eine eigene Vermögensmasse verfügt, die vom Vermögen des Täters zu trennen ist.

7. Handelt der Täter für eine Gesellschaft und tritt die Vermögensmehrung zunächst bei ihr ein, kann nicht ohne weiteres die Einziehung von Taterträgen auch gegen den Täter angeordnet werden. Es bedarf in diesen Fällen einer über die Verfügungsgewalt hinausgehenden Feststellung, dass er selbst etwas durch die Tat erlangte, die Tat mithin zu einer Änderung seiner Vermögensbilanz führte. Umstände, die eine solche Feststellung rechtfertigen, können namentlich darin liegen, dass der Täter die juristische Person bloß als formalen Mantel nutzt, eine Trennung zwischen seiner eigenen Vermögenssphäre und derjenigen der Gesellschaft aber tatsächlich nicht vornimmt, oder darin, dass jeder aus der Tat folgende Vermögenszufluss an die Gesellschaft sogleich an den Täter weitergeleitet wird.

8. In Fällen, in denen eine Zurechnung der bei der drittbegünstigten Gesellschaft eingetretenen Vermögensmehrung ausscheidet, kann der Täter auch dann etwas durch die Tat erlangen, wenn die Gesellschaft den Taterlös tatsächlich – ganz oder teilweise – an ihn weiterleitet. Ist der Täter wirtschaftlicher Nutznießer der Tat, indem die Gesellschaft ihm ohne Gegenleistung Taterträge zuwendet, so unterliegen diese der Einziehung. In diesen Fällen ist mithin lediglich zu prüfen, ob für die Weiterleitung ein Rechtsgrund bestand. Lag dem Vermögenstransfer ein nicht bemakelter Vertrag zugrunde, der mit der Straftat in keinem Zusammenhang stand, so ist die Einziehung regelmäßig ausgeschlossen. Wird hingegen das im Sinne des § 73 Abs. 1 Alternative 1 StGB „durch“ die Tat Erlangte (Taterlös) lediglich unter dem Deckmantel etwa eines Geschäftsführergehalts von der Gesellschaft dem Täter zugewandt, liegt hierin eine Weiterleitung ohne Rechtsgrund.

9. Eine Vorschriftswidrigkeit der Besetzung des Gerichts (vgl. § 338 Nr. 1 StPO) liegt nur vor, wenn das erkennende Gericht mit einem oder mehreren Richtern besetzt war, bei denen es sich nicht um den oder die gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG handelte. Wer gesetzlicher Richter ist, bestimmt sich nach dem Gerichtsverfassungsgesetz und der Umsetzung der dortigen Vorgaben durch den Geschäftsverteilungsplan des Gerichts, dem der fragliche Spruchkörper angehört. Der Besetzungseinwand nach § 222b StPO a. F. muss deshalb den konkreten rechtlichen Aspekt der vorschriftswidrigen Besetzung darlegen und darüber hinaus angeben, welcher mitwirkende Richter nicht gesetzlicher Richter war. Dabei sind in formeller Hinsicht hohe Anforderungen zu erfüllen; entsprechend den Rügeanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO müssen alle Tatsachen umfassend angeführt werden, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit der Zusammensetzung des Gerichts ergeben soll.

10. Ob ein „aufs Geratewohl“ gestellter Beweisantrag vorliegt, beurteilt sich aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht in Frage gestellten Tatsachen. Dabei ist es dem Antragsteller grundsätzlich nicht verwehrt, auch solche Tatsachen zum Gegenstand eines Beweisantrags zu machen, deren Richtigkeit er lediglich vermutet oder für möglich hält. Weil die Herabstufung eines ansonsten formgerechten Beweisantrags zu einem bloß unter Aufklärungsgesichtspunkten beachtlichen Beweisermittlungsantrag regelmäßig in ein Spannungsverhältnis zu den notwendig starken Beweisteilhaberechten der Verfahrensbeteiligten und insbesondere zu dem das Beweisantragsrecht prägenden Verbot der Beweisantizipation gerät, ist bei der Ablehnung derartiger Anträge mangels Ernsthaftigkeit äußerste Zurückhaltung geboten. Die Ablehnung eines Beweisantrags als „ins Blaue hinein” oder „aufs Geratewohl” gestellt kommt demnach nur ausnahmsweise in Betracht.

11. Wird mit der Revision geltend gemacht, dass durch die Ablehnung eines Antrags auf Vernehmung eines Zeugen zugleich über seine Entlassung (§ 248 StPO) entschieden worden sei, muss das Revisionsgericht in die Lage versetzt werden zu überprüfen, ob ein solcher Zusammenhang zwischen den für sich genommen voneinander unabhängigen und – jedenfalls beim Landgericht – von unterschiedlichen Spruchkörpern zu treffenden Entscheidungen bestand, etwa weil in dem zurückgewiesenen Antrag zum Ausdruck gebracht worden war, dass der Antragsteller mit einer Entlassung des Zeugen nicht einverstanden war. Dazu ist regelmäßig die Kenntnis des vollständigen Antrags unverzichtbar, der daher von der Revision vorzutragen ist.

12. Eine Beanstandung der Art und Weise der Gewährung der Akteneinsicht vermag nach § 336 Satz 2 StPO iVm § 32f Abs. 3 StPO die Revision nicht zu begründen, weil Entscheidungen über die Form der Gewährung von Akteneinsicht nicht anfechtbar sind. Das gilt erst recht für

Beweisstücke, da das Gesetz für diese – anders als für Akten – keine Mitgabemöglichkeit vorsieht und daher grundsätzlich ein Herausgabeverbot besteht.


Entscheidung

214. BGH 3 StR 131/21 - Urteil vom 18. November 2021 (LG Aurich)

Besitz im Sinne des Betäubungsmittelrechts; Einziehung von Wertersatz für im Vorfeld der Tat erhaltene Spesengelder.

§ 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG; § 73 StGB; § 73d StGB; § 74 StGB; § 74c StGB

1. Besitz im Sinne des Betäubungsmittelrechts setzt ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis und einen Besitzwillen voraus, der darauf gerichtet ist, sich die Möglichkeit ungehinderter Einwirkung auf die Sache zu erhalten. Diese Voraussetzung sind regelmäßig erfüllt, wenn Betäubungsmittel sich im Kofferraum eines über eine längere Strecke vom Angeklagten geführten Fahrzeug befinden.

2. Hat der Täter oder Teilnehmer für die Begehung einer Straftat ein Entgelt oder eine Belohnung erhalten, unterliegt das Erlangte nach § 73 Abs. 1 StGB in voller Höhe der Einziehung. In diesem Fall sind etwaige Aufwendungen, die der Täter oder Teilnehmer hatte, um seine Tat begehen beziehungsweise seinen Tatbeitrag erbringen zu können, gemäß § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB von dem Wert des Erlangten nicht in Abzug zu bringen. Dabei ist irrelevant, ob der Täter oder Teilnehmer das Entgelt beziehungsweise die Belohnung vor oder nach seiner Tathandlung erhielt.

3. Spesengelder, also Beträge, die ein Täter oder Teilnehmer im Vorfeld einer beabsichtigten Tatbegehung von einer anderen Person - namentlich einem Hintermann oder Haupttäter - mit der konkreten Maßgabe erhalten hat, davon notwendige Ausgaben zu bestreiten, sind Tatmittel im Sinne des § 74 Abs. 1 StGB. Tatmittel unterliegen der Ermessenseinziehung, sofern sie als solche - etwa in Form der konkret erlangten Geldscheine - beim Täter oder Teilnehmer vorhanden sind beziehungsweise sichergestellt werden konnten.

4. Hat der Täter oder Teilnehmer erlangte Tatmittel bestimmungsgemäß für die Tatbegehung verbraucht, kommt insofern eine Wertersatzeinziehung nicht in Betracht. Denn die Einziehung des Wertes von Tatmitteln nach § 74c Abs. 1 StGB setzt ein Vereiteln der Einziehung des ursprünglichen Einziehungsgegenstandes durch den Täter oder Teilnehmer voraus. Die bestimmungsgemäße Verwendung erlangter Tatmittel stellt indes keine Vereitelungshandlung im Sinne des § 74c Abs. 1 StGB dar.


Entscheidung

216. BGH 3 StR 200/21 - Beschluss vom 16. November 2021 (LG Duisburg)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Konkurrenzen; Bewertungseinheit; Strafrahmen; Sperrwirkung).

§ 29a Abs. 1 Nr. 2 StGB

1. Eine konkurrenzrechtliche Bewertungseinheit kommt beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln nicht nur in Betracht, wenn die Betäubungsmittel aus einem einheitlichen Erwerbsvorgang stammen, sondern auch dann, wenn Drogen aus verschiedenen Erwerbsvorgängen zu einem einheitlichen Verkaufsvorrat vereint werden.

2. Der Strafrahmen des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG entfaltet eine Sperrwirkung lediglich mit Blick auf die Strafrahmenuntergrenze des § 29a Abs. 1 BtMG, nicht aber auf dessen Obergrenze.


Entscheidung

221. BGH 3 StR 259/21 - Beschluss vom 2. November 2021 (LG Duisburg)

Mittäterschaft bei Einfuhr von Betäubungsmitteln (bloßes Veranlassen einer Beschaffungsfahrt); Anstiftung zur Anstiftung.

§ 29 BtMG; § 25 Abs. 2 StGB; § 26 StGB

Der Tatbestand der Einfuhr von Betäubungsmitteln erfordert zwar keinen eigenhändigen Transport des Betäubungsmittels über die Grenze. Mittäter einer Einfuhr im Sinne von § 25 Abs. 2 StGB kann ein Beteiligter auch dann sein, wenn das Rauschgift von einer anderen Person in das Inland verbracht wird, sofern ein die Tatbegehung objektiv fördernder Beitrag vorliegt, der sich als ein Teil der Tätigkeit aller darstellt und der die Handlungen der anderen als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheinen lässt. Das bloße Veranlassen einer Beschaffungsfahrt ohne Einfluss auf deren Durchführung genügt insofern jedoch regelmäßig nicht.


Entscheidung

186. BGH 4 StR 344/21 - Beschluss vom 23. November 2021 (LG Essen)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Tatbestandsmäßigkeit: nachfolgende Zahlungsvorgänge, Tätigkeiten zur Erfüllung von Zahlungsverbindlichkeiten); Konkurrenzen (Tateinheit: bewaffnetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, versuchte besonders schwere räuberische Erpressung, gefährliche Körperverletzung).

§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG; § 52 StGB; § 53 StGB

Der Tatbestand des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln umfasst nicht nur Handlungen, die unmittelbar der Beschaffung und der Überlassung von Betäubungsmitteln an Abnehmer dienen, sondern auch dem eigentlichen Betäubungsmittelumsatz nachfolgende Zahlungsvorgänge wie die Übermittlung des für eine Betäubungsmittellieferung zu entrichtenden Geldbetrages vom Abnehmer zum Lieferanten oder das Beitreiben des Kaufpreises. Auch Tätigkeiten, die der Erfüllung von Zahlungsverbindlichkeiten dienen, z.B. das Bemühen um das Eintreiben des Kaufpreises, gehören noch zu demselben Betäubungsmittelgeschäft.