HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 148
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 342/21, Beschluss v. 15.12.2021, HRRS 2022 Nr. 148
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 13. April 2021
a) im Schuldspruch dahingehend berichtigt, dass der Angeklagte in den Fällen 1 bis 19 der Urteilsgründe des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 19 Fällen schuldig ist,
b) aufgehoben,
aa) mit den Feststellungen, soweit der Angeklagte in den Fällen 20 bis 36 der Urteilsgründe jeweils wegen Betruges zum Nachteil der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes verurteilt worden ist,
bb) im Gesamtstrafenausspruch.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „Vorenthaltens von Arbeitgeberbeiträgen in 19 Fällen, davon in 17 Fällen in Tateinheit mit Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitnehmerbeiträgen“, sowie wegen Betruges in 17 Fällen und wegen Steuerhinterziehung in 19 Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einer anderweitigen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Angeklagte beanstandet seine Verurteilung mit einer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte spätestens seit Ende 2013 neben dem formellen Geschäftsführer A. in der SI. GmbH (im Folgenden: S. GmbH) wie ein Geschäftsführer tätig und hatte im Wesentlichen die Geschäftsleitung inne. Ende 2013/Anfang 2014 akquirierte der Angeklagte über die H. GmbH einen Großauftrag auf dem Werksgelände der B. in L. Da die H. GmbH über das für den Auf- und Abbau von Gerüsten benötigte Personal nicht verfügte, schloss die H. GmbH mit der S. GmbH im März 2014 einen Subunternehmervertrag. Das Material, insbesondere die Gerüste, stellte die H. GmbH. Aufgrund der mit dieser Gesellschaft vereinbarten geringen Einheitspreise war es der S. GmbH bei legaler Entlohnung des erforderlichen Arbeitsaufwands nicht möglich, wirtschaftlich zu arbeiten. Viele Arbeitnehmer, die geeignet gewesen wären, solche Gerüstbauarbeiten zu erbringen, waren zudem auch nicht bereit, diese regulär entlohnt zu bekommen. Vielmehr drängten sie darauf, als geringfügig Beschäftigte angestellt zu werden und die darüber hinaus geleisteten Arbeitsstunden bar, d.h. „schwarz“, ausgezahlt zu bekommen.
Im Frühjahr 2014 kamen daher der Angeklagte und der frühere Mitangeklagte A. überein, die Bezahlung der für die Ausführung des Großauftrags erforderlichen Arbeitnehmer zu einem überwiegenden Teil durch den Ankauf von Scheinrechnungen und die hieraus erlangten „Schwarzgelder“ zu ermöglichen. Ihrem Tatplan entsprechend meldeten sie die für die Bezahlung der tatsächlich durchgeführten Gerüstbauarbeiten anfallenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung nicht vollständig bei den Einzugsstellen an. Dasselbe gilt für die Beiträge an die Berufsgenossenschaft und die Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes (im Folgenden: SOKA Gerüstbau) sowie die als gezahlt angegebenen Entgelte im Rahmen der Lohnsteueranmeldungen. „Formal“ waren sämtliche auf dem Werksgelände der B. tätigen Arbeitnehmer bei der S. GmbH zumindest als geringfügig Beschäftigte angemeldet. Zudem machten sie in den Umsatzsteuerjahreserklärungen für 2014 und 2015 unrichtige Angaben zu den getätigten Umsätzen.
Über die Firma E. GmbH bezog die S. GmbH im Zeitraum von Mai 2014 bis März 2015 gegen „Provisionszahlungen“ 145 Scheinrechnungen mit einer Bruttorechnungssumme von insgesamt mehr als 5,0 Mio. Euro, von der 70 % für Schwarzlohnzahlungen verwendet wurden. Im Zeitraum von März bis September 2015 erwarb die S. GmbH - nun von der At. GmbH - weitere 66 Scheinrechnungen über eine Gesamt-Bruttorechnungssumme von mehr als 3,8 Mio. Euro. Insgesamt zahlte die S. GmbH im Jahr 2014 Schwarzlöhne in Höhe von insgesamt 2.457.465,82 Euro und im Jahr 2015 von 3.719.695,15 Euro, die sich nicht einzelnen Arbeitnehmern zuordnen ließen.
Aufgrund unrichtiger Angaben für die S. GmbH wurden folgende Beträge vom Angeklagten und von A. zu wenig angemeldet und abgeführt:
a) Sozialversicherungsbeiträge für Mai bis Dezember 2014 in Höhe von 1.463.400,98 Euro und für Januar bis September 2015 von 2.061.105,35 Euro (Fälle 1 bis 17 der Urteilsgründe), Beträge zur Berufsgenossenschaft Bau W. für 2014 von 258.750,20 Euro und für 2015 von 355.178,73 Euro (Fälle 18 und 19 der Urteilsgründe). Gegenüber der SOKA Gerüstbau erklärten der Angeklagte und A. für den Zeitraum von Mai 2014 bis September 2015 ebenfalls geringere als die tatsächlich gezahlten Lohnsummen, sodass von der SOKA Gerüstbau monatliche Beiträge eingezogen wurden, die zwischen 6.562,10 Euro (Mai 2014) und 138.792,50 Euro (Juni 2015) zu niedrig waren (Fälle 20 bis 36 der Urteilsgründe).
b) Aufgrund gegenüber den Finanzbehörden zu niedrig angegebener Lohnzahlungen und Umsätze verkürzten der Angeklagte und A. daneben im Zeitraum von Mai 2014 bis September 2015 monatlich Lohnsteuer im Umfang zwischen 166,41 Euro für Mai 2014 und 3.875,73 Euro für Juni 2015 (Fälle 37 bis 53 der Urteilsgründe) und für die Jahre 2014 und 2015 zudem aufgrund unrichtiger Umsatzsteuerjahreserklärungen Umsatzsteuer von 566.195,45 Euro bzw. 845.842,25 Euro (Fälle 54 und 55 der Urteilsgründe).
2. Die Revision ist teilweise begründet.
a) Mit Ausnahme der Verurteilung des Angeklagten wegen Betruges in 17 Fällen gegenüber der SOKA Gerüstbau werden sowohl der Schuldspruch als auch die Bemessung der Einzelstrafen von den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen getragen. Entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts ist allerdings die Verurteilung des Angeklagten gemäß § 266a Abs. 1, Abs. 2 StGB dahin zu berichtigen, dass der Angeklagte in den Fällen 1 bis 19 der Urteilsgründe statt wegen „Vorenthaltens von Arbeitgeberbeiträgen in 19 Fällen, davon in 17 Fällen in Tateinheit mit Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitnehmerbeiträgen“ wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt in 19 tatmehrheitlichen Fällen schuldig ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wirkt sich die Anwendung des § 266a Abs. 2 StGB neben § 266a Abs. 1 StGB lediglich auf den Schuldumfang aus und führt nicht zu einer tateinheitlichen Verwirklichung beider Tatbestände (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2010 - 1 StR 111/10 Rn. 6 mwN).
b) Demgegenüber kann der Schuldspruch wegen Betruges zum Nachteil der SOKA Gerüstbau keinen Bestand haben, weil die vom Landgericht getroffenen Feststellungen zur Beitragspflicht der S. GmbH gegenüber der SOKA Gerüstbau lückenhaft sind.
aa) Die Beitragspflicht zur SOKA Gerüstbau für die Jahre 2014 und 2015 konnte sich zwar aus dem Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk vom 20. Januar 1994 in der Fassung vom 11. Juni 2002 (VTV-Gerüstbau) ergeben. Die Urteilsgründe enthalten jedoch keine Feststellungen dazu, woraus eine Tarifbindung der S. GmbH habe folgen können, insbesondere nicht dazu, ob es sich bei der S. GmbH im Tatzeitraum um einen tarifgebundenen Arbeitgeber handelte.
bb) Die Tarifbindung konnte sich auch nicht aus § 15 Abs. 1 des Zweiten Sozialkassenverfahrensicherungsgesetzes (SokaSiG2) vom 1. September 2017 (BGBl. I 2017, 3356) ergeben. Zwar ist die rückwirkende Erstreckung der Rechtsnormen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber durch § 15 Abs. 1 SokaSiG2 nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verfassungsrechtlich unbedenklich (BAG, Urteil vom 27. März 2019 - 10 AZR 211/18, BAGE 166, 233 Rn. 31; 10 11 vgl. auch BVerfG, Beschlüsse vom 11. August 2020 - 1 BvR 2654/17 und 1 BvR 1115/18). Strafrechtlich bedeutsame Pflichten konnten hierdurch jedoch rückwirkend nicht begründet werden. Denn solche Handlungspflichten, bei denen es sich um Pflichten im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB handelt, müssen im Hinblick auf die Gewährleistungen von Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB bereits im Zeitpunkt der geforderten Handlung rechtlich wirksam bestanden haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Juni 2017 - 1 StR 614/16 Rn. 8 und vom 27. Juni 2018 - 1 StR 616/17 Rn. 29; Urteil vom 11. November 2020 - 1 StR 328/19 Rn. 43).
cc) Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass sich eine Tarifbindung der S. GmbH im Tatzeitraum aus der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV Gerüstbau durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit vom 29. Oktober 2002 zum 1. Juni 2002 ergab (vgl. dazu BAG, Urteil vom 27. März 2019 - 10 AZR 211/18, BAGE 166, 233 Rn. 3). Dies zu entscheiden, ist dem Senat allerdings verwehrt.
(a) Bei den Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen gemäß § 5 TVG handelt es sich im Verhältnis zu den ohne sie nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern um einen Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG findet (BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1977 - 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322; Abschnitt B.II.1b, AP TVG § 5 Nr. 15), mithin um den Schlusspunkt eines einheitlichen staatlichen Rechtssetzungsverfahrens sui generis (vgl. Sittard in: Henssler/Moll/Bepler, Der Tarifvertrag, 2. Aufl. 2016, Teil 7 Abschnitt III Rn. 21).
(b) Gegen die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk bestehen Bedenken.
Zwar hatte das Bundesarbeitsgericht noch am 17. Oktober 2012 inzident die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau angenommen (BAG, Urteil vom 17. Oktober 2012 - 10 AZR 629/11 Rn. 8 ff.). In der Folgezeit hat es jedoch die Allgemeinverbindlicherklärungen des VTV-Bau für die Jahre 2008 und 2010 u.a. deshalb für unwirksam gehalten, weil sich der zuständige Minister bzw. die zuständige Ministerin oder der zuständige Staatssekretär bzw. die zuständige Staatsekretärin nicht mit ihnen befasst hatte (BAG, Beschluss vom 21. September 2016 - 10 ABR 33/15, BAGE 156, 213 Rn. 138 ff.). Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts könnte sich diese Problematik auch in Bezug auf die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau stellen. Denn das Landesarbeitsgericht habe darauf hingewiesen, dass nach den Informationen aus frei zugänglichen Quellen die Allgemeinverbindlicherklärung nur mit „Bundesministerium für Arbeit und Soziales“ unterzeichnet gewesen sei. Hieraus ergebe sich jedoch kein Hinweis darauf, ob sich der Minister oder die Ministerin bzw. ein Staatssekretär oder eine Staatssekretärin persönlich mit der Allgemeinverbindlicherklärung befasst hat. Es sei daher nicht absehbar gewesen, ob in einem Verfahren nach § 98 ArbGG festgestellt werden würde, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau aus diesem Grund unwirksam ist (BAG, Urteil vom 27. März 2019 - 10 AZR 211/18, BAGE 166, 233 Rn. 60).
(c) Für den Bestand von Beitragsansprüchen konnte das Bundesarbeitsgericht die Wirksamkeit des VTV-Gerüstbau letztlich offenlassen, weil die rückwirkende Erstreckung der Rechtsnormen des VTV-Gerüstbau für den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis 31. Dezember 2015 durch § 15 Abs. 1 SokaSiG2 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden war (BAG, Urteil vom 27. März 2019 - 10 AZR 211/18, BAGE 166, 233). Im Hinblick darauf, dass eine solche Rückwirkung wegen Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB keine strafbegründende Wirkung hat (s.o.), kann demgegenüber die Frage der Wirksamkeit des VTV-Gerüstbau im Strafverfahren weiterhin Bedeutung erlangen.
(d) Eine Entscheidung, ob der VTV-Gerüstbau im Tatzeitraum wirksam war, ist dem Senat gleichwohl versagt. Denn er hat die Vorschrift des § 98 Abs. 6 ArbGG zu beachten. Danach hat das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung des Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG, in dem die Entscheidung über die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG zu prüfen ist, auszusetzen, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits davon abhängt, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung wirksam ist. Die Aussetzungspflicht gilt für alle Rechtswege (vgl. Welker in: Schwab/Weth, ArbGG, 6. Aufl. 2021, § 98 ArbGG Rn. 29), mithin auch im Strafverfahren.
(e) Im Hinblick darauf, dass das Landgericht nicht festgestellt hat, ob es sich bei der S. GmbH um ein tarifgebundenes Unternehmen handelt, kann der Senat allerdings schon gar nicht prüfen, ob die Frage der Wirksamkeit des VTV-Gerüstbau entscheidungserheblich ist. Denn dies ist dann nicht der Fall, wenn die S. GmbH tarifgebunden war. Die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen 20 bis 36 der Urteilsgründe ist daher wegen lückenhafter Feststellungen aufzuheben. Die Frage, ob es sich bei der S. GmbH in Bezug auf den VTV-Gerüstbau um ein tarifgebundenes Unternehmen handelte, bedarf somit daher neuer tatrichterlicher Prüfung.
c) Die Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen 20 bis 36 der Urteilsgründe entzieht den zugehörigen Einzelstrafen und dem Ausspruch über die Gesamtstrafe die Grundlage.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 148
Externe Fundstellen: NJW 2022, 634; NStZ-RR 2022, 74; StV 2022, 716
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede