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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2022
23. Jahrgang
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1. Einem Angeklagten wird der gesetzliche Richter nicht in einer Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG missachtenden Weise entzogen, wenn das Oberlandesgericht im Verfahren nach § 222b Abs. 3 StPO die Gerichtsbesetzung als nicht objektiv willkürlich unbeanstandet lässt, nachdem der Vorsitzende der Strafkammer einen Hilfsschöffen wegen dessen Teilnahme an einer Fahrprüfung von der Pflicht zum Schöffendienst entbunden und dabei übersehen hat, dass der Schöffe nicht seine Verhinderung als Prüfling, sondern als Prüfer geltend gemacht hatte.
2. Mit der Einführung eines strafprozessualen Besetzungsrügeverfahrens unter Schaffung eines Instanzenzuges bei gleichzeitiger Beschränkung der Rügemöglichkeiten im Revisionsrecht hat der Gesetzgeber die abschließende
Entscheidung über die verfassungsrechtlich determinierte Frage der Gerichtsbesetzung in ein gesondertes Zwischenverfahren verlagert, nach dessen ordnungsgemäßer Beschreitung dem Angeklagten die Verfassungsbeschwerde offensteht.
3. Wenngleich die grundrechtsgleiche Garantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einen subjektiven Anspruch auf den gesetzlichen Richter vermittelt, beanstandet das Bundesverfassungsgericht die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur dann, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich sind oder wenn die Bedeutung und Tragweite der Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt wird.
4. Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn ein Oberlandesgericht im Besetzungsrügeverfahren nach § 222b Abs. 3 StPO die Entscheidung eines Kammervorsitzenden über die Entbindung eines Schöffen von der Dienstpflicht – ebenso wie die Revisionsgerichte auf eine Besetzungsrüge gemäß § 338 Nr. 1 StPO – lediglich einer Willkürkontrolle und nicht einer umfassenden Richtigkeitskontrolle unterzieht.
1. Eine Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist bezüglich der Gefahrprognose nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise begründet, wenn die Strafvollstreckungskammer ohne Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Schwere der von den §§ 174 ff. StGB erfassten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von einer hohen Wahrscheinlichkeit neuer „Gewalt- oder Sexualdelikte“ ausgeht und dabei zudem nicht berücksichtigt, dass nach Einschätzung der Maßregelvollzugsklinik und des gerichtlich beauftragten Sachverständigen erst nach einer ungünstigen Entwicklung des Konsumverhaltens und der Absprachefähigkeit des Beschwerdeführers mit neuen Delikten zu rechnen ist.
2. Eine Fortdauerentscheidung genügt darüber hinaus nicht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wenn sie übergeht, dass dem Ausgangsurteil lediglich eine einzelne, fast zwei Jahrzehnte zurückliegende Straftat zugrunde liegt und der Untergebrachte seither auch während Bewährungszeiten nicht mehr durch sexuell motivierte Übergriffe aufgefallen ist.
3. Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts - einschließlich der Unterbringung eines Straftäters in einem psychiatrischen Krankenhaus nach Maßgabe des § 63 StGB.
4. Bei der Entscheidung über die Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit zur Dauer des erlittenen Freiheitsentzugs in Beziehung zu setzen.
5. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist hinreichend zu konkretisieren; Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten sind zu bestimmen. Abzustellen ist dabei auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten und die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände.
6. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.
1. Eine dem Recht auf effektiven Rechtsschutz zuwiderlaufende Rechtschutzlücke ist nicht hinreichend dargetan, wenn eine Strafvollstreckungskammer zwar den Antrag eines Strafgefangenen gegen die in einer Vollzugsplanfortschreibung vorgesehene Beendigung seiner Sozialtherapie mangels unmittelbarer Rechtswirkung nach außen für unzulässig erklärt, zugleich jedoch über eine Verfügung der Justizvollzugsanstalt in der Sache entscheidet, mit der die Beendigung der Sozialtherapie und die Rückverlegung des Gefangenen in eine andere Justizvollzugsanstalt angeordnet werden.
2. Der Begriff der Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten im Sinne des § 109 StVollzG ist im Lichte der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG auszulegen. Es ist deshalb darauf abzustellen, ob die Möglichkeit besteht, dass ein Handeln oder Unterlassen der Justizvollzugsanstalt Rechte des Gefangenen verletzt. Diese Maßstäbe gelten auch mit Blick auf die Erstellung und Fortschreibung eines Vollzugsplans.
1. Begehrt ein Strafgefangener vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Anordnung einer Justizvollzugsanstalt, ihn während einer Ausführung zu fesseln und ihn von uniformierten Bediensteten begleiten zu lassen, so liegt ein Verstoß gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz nahe, wenn die Strafvollstreckungskammer den Eilantrag ablehnt, weil sie das Begehren zu Unrecht als Vornahmeantrag auslegt und daher den Maßstab des § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG, § 123 Abs. 1 VwGO heranzieht, anstatt die nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG gebotene Abwägung zwischen den Rechten des Gefangenen und dem Interesse an einem sofortigen Vollzug vorzunehmen.
2. Gleichwohl ist eine einstweilige Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG nicht zu erlassen, weil sie nicht zur Abwendung eines schweren Nachteils erforderlich erscheint. Insoweit sind gegenüber dem – möglichst lückenlos zu gewährenden – fachgerichtlichen Rechtsschutz erheblich strengere Anforderungen zu stellen.