HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2021
22. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

1282. BGH 4 StR 95/21 – Urteil vom 14. Oktober 2021 (LG Bochum)

Totschlag (besonders schwerer Fall: Vorliegen, bloße Nähe der kennzeichnenden Umstände zu gesetzlichen Mordmerkmalen, Berücksichtigung des Vor- und Nachtatgeschehens).

§ 212 Abs. 2 StGB; § 211 Abs. 2 StGB

1. Der besonders schwere Fall des Totschlags setzt voraus, dass das in der Totschlagstat zum Ausdruck kommende Verschulden des Täters so außergewöhnlich groß ist, dass die Ahndung aus dem Normalstrafrahmen von bis zu 15 Jahren nicht mehr ausreicht. Die Schuld muss ebenso schwer wiegen wie die eines Mörders.

2. Dafür genügt nicht schon die bloße Nähe der die äußere und innere Seite der Tötungstat kennzeichnenden Umstände zu gesetzlichen Mordmerkmalen. Fehlen die Voraussetzungen der in § 211 Abs. 2 StGB abschließend aufgezählten Mordmerkmale, so darf dies nicht dadurch unterlaufen werden, dass der Täter nach § 212 Abs. 2 StGB gleichwohl wie ein Mörder bestraft wird. Es müssen vielmehr schulderhöhende Gesichtspunkte hinzukommen, die besonders gewichtig sind und das Minus, welches sich im Zurückbleiben des Tötungsdelikts hinter den Mordmerkmalen zeigt, durch ein Plus an Verwerflichkeit auszugleichen vermögen.

3. Das Vorliegen derartiger Umstände hat das Tatgericht im Rahmen einer Gesamtwürdigung von Tat und Täter zu beurteilen. Hierbei sind allerdings die wesentlichen Strafzumessungsgründe der Tötungstat selbst zu entnehmen. Umstände des Vor- und Nachtatgeschehens können nur mit geringerem Gewicht und nur insoweit herangezogen werden, als sie sichere Rückschlüsse auf eine die Tatschuld steigernde besonders verwerfliche Einstellung des Täters bei der Tat zulassen.


Entscheidung

1233. BGH 3 StR 327/20 – Urteil vom 9. September 2021 (LG Trier)

Sicherungsverwahrung (Begriff des Hangs; eingeschliffener innerer Zustand; erhebliche Straftaten; Deliktskatalog; Gesamtwürdigung; Beschränkung der Revision auf das Unterlassen der Anordnung der Sicherungsverwahrung).

§ 66 StGB

1. Das Merkmal des Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Das Vorliegen eines solchen Hangs hat das Tatgericht unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände darzulegen.

2. Erhebliche Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB sind im Ausgangspunkt solche, die den Rechtsfrieden empfindlich stören. Im Einzelnen gilt dabei:

a) Zur Beurteilung der Erheblichkeit von hangbedingt zu erwartenden Taten kann kein genereller Maßstab angelegt werden; erforderlich ist vielmehr eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls, bei der neben der Schwere der zu erwartenden Taten und den – auch nur potentiell bzw. typischerweise eintretenden – Folgen für die Opfer etwa die Tathäufigkeit oder die Rückfallgeschwindigkeit ins Gewicht fallen können. Kriterien ergeben sich zunächst aus den gesetzgeberischen Wertungen, die maßgeblich für die Normierung der formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung geworden sind.

b) Als erhebliche Straftaten kommen danach vornehmlich solche in Betracht, die in den Deliktskatalog von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a bis c StGB fallen und die im konkreten Fall mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu ahnden wären, wobei dieser Gesichtspunkt allein zur Annahme der Erheblichkeit allerdings nicht ausreicht. Ein weiterer entscheidender Maßstab zur Bestimmung der Erheblichkeit ergibt sich aus der Hervorhebung der schweren seelischen oder körperlichen Schädigung der Opfer in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB, wobei das Gesetz durch die Verwendung des Wortes „namentlich“, welches der Wortbedeutung und dem Sinne nach wie „beispielsweise“ oder „vor allem“ zu verstehen ist, zum Ausdruck bringt, dass mit der Nennung solcher Folgen keine abschließende Festlegung verbunden ist; damit sollen vielmehr lediglich Straftaten von geringerem Schweregrad ausgeschieden werden.

c) Im Bereich der mittleren Kriminalität ist zudem dem Tatgericht, das allein in der Lage ist, eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Täters vorzunehmen, ein Beurteilungsspielraum eingeräumt; seine Entscheidung kann vom Revisionsgericht nur dann beanstandet werden, wenn das Tatgericht nicht alle für die Gesamtwürdigung bedeutsamen Umstände gewürdigt hat oder das Ergebnis seiner Würdigung den Rahmen des noch Vertretbaren sprengt.

3. Grundsätzlich ist eine Beschränkung der Revision auf das Unterlassen einer Maßregelanordnung möglich; dies gilt auch für die Sicherungsverwahrung. Zwischen Strafe und Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung besteht aufgrund der Zweispurigkeit des Sanktionssystems grundsätzlich keine Wechselwirkung. Etwas Anderes ist nur dann anzunehmen, wenn das Tatgericht die Höhe der Strafe von der unterbliebenen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung abhängig macht und damit Strafe und Maßregel in einen inneren, eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließenden Zusammenhang setzt.


Entscheidung

1203. BGH 1 StR 266/21 – Beschluss vom 8. September 2021 (LG Hechingen)

Anordnung der Sicherungsverwahrung (Ermessen des Tatrichters: erforderliche Berücksichtigung der Wirkung eines langjährigen Strafvollzugs und altersbedingter Haltungsänderungen).

§ 66 Abs. 2 StGB; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

1. Bei der Ermessensausübung hinsichtlich der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB sind die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes zu beachten. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers soll der Tatrichter die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt des Urteils auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung getragen, der sich daraus ergibt, dass § 66 Abs. 2 StGB – im Gegensatz zu Abs. 1 – eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung nicht voraussetzt.

2. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichtige Kriterien, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind. Es besteht zwar keine Vermutung dahingehend, dass langjährige, erstmalige Strafverbüßung stets zu einer Verhaltensänderung führen wird. Je länger die verhängte Freiheitsstrafe und je geringer die bisherige Hafterfahrung des Täters mit Verurteilung und Strafvollzug sind, desto mehr muss sich der Tatrichter aber mit diesen Umständen auseinandersetzen.


Entscheidung

1234. BGH 3 StR 352/20 – Beschluss vom 25. August 2021 (LG Düsseldorf)

Prüfung der Gefährlichkeit bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung (keine täterbelastende Berücksichtigung von zulässigem Verteidigungsverhalten; Leugnen der Tat); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang; lediglich indizielle Bedeutung von erheblichen Beeinträchtigungen von Gesundheit, Arbeits- und/oder Leistungsfähigkeit)

§ 64 StGB; § 66 StGB

Bei der Prüfung der Gefährlichkeit des Angeklagten im Sinne des § 66 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB darf zulässiges Verteidigungsverhalten weder hangbegründend noch als Anknüpfungspunkt für die Gefährlichkeit eines Angeklagten verwertet werden. Wenn der Angeklagte die Taten leugnet, bagatellisiert oder einem anderen die Schuld an der Tat zuschiebt, ist dies grundsätzlich zulässiges Verteidigungsverhalten. Die Zulässigkeitsgrenze ist erst erreicht, wenn sich das Leugnen, Verharmlosen oder die Belastung des Opfers als Ausdruck besonders verwerflicher Einstellung des Täters darstellt, etwa weil die Falschbelastung mit einer Verleumdung oder Herabwürdigung oder der Verdächtigung einer besonders verwerflichen Handlung einhergeht.


Entscheidung

1214. BGH 2 StR 18/21 – Beschluss vom 30. März 2021 (LG Bonn)

Grundsätze der Strafzumessung (Wechselwirkung zwischen der verhängten Strafe und einer Maßregel der Besserung und Sicherung).

§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB

Zu den bei der Strafzumessung nach § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB zu berücksichtigenden Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Angeklagten in der Gesellschaft zu erwarten sind, kann auch die Wechselwirkung zwischen der verhängten Strafe und einer Maßregel der Besserung und Sicherung gehören. Zwar besteht nicht in jedem Fall eine Abhängigkeit dergestalt, dass Freiheitsstrafe und Maßregel eine getrennte Beurteilung ausschließen würden. Die Strafhöhe kann indes durch diese Wechselwirkung beeinflusst werden; beide Sanktionen müssen nicht nur einzeln, sondern auch zusammen angemessen sein.


Entscheidung

1260. BGH 6 StR 460/21 – Beschluss vom 20. Oktober 2021 (LG Bamberg)

Grundsätze der Strafzumessung (unterlassene Erörterung der Schuldangemessenheit einer nach der Strafhöhe aussetzungsfähigen Strafe).

§ 46 StGB; 56 StGB

In Anbetracht der jeweiligen Sachlage kann sich eine unterlassene Erörterung des Tatgerichts, ob auch eine nach der Strafhöhe aussetzungsfähige Strafe noch schuldangemessen gewesen wäre und hätte verhängt werden können, als durchgreifend rechtsfehlerhaft erweisen. Zwar darf das Bestreben, dem Angeklagten Strafaussetzung zur Bewährung zu bewilligen, nicht dazu führen, dass die schuldangemessene Strafe unterschritten wird. Dem Tatgericht ist aber bei der Feststellung der schuldangemessenen Strafe ein Spielraum eröffnet, innerhalb dessen es nach § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB die von der Strafe ausgehende Wirkung für das künftige Leben des Täters zu berücksichtigen hat.


Entscheidung

1270. BGH 2 StR 174/21 – Urteil vom 29. September 2021 (LG Köln)

Dauer der Jugendstrafe (Ausrichtung an erzieherischen Gesichtspunkten: Darstellung im Urteil, auch bei Erwachsenen in Betracht kommende Zumessungserwägungen; Erörterungsmangel: in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union ergangene verwertbare Verurteilungen); Strafaussetzung.

§ 18 Abs. 2 JGG; § 21 JGG

1. Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Höhe der Jugendstrafe in erster Linie an erzieherischen Gesichtspunkten auszurichten. Die Urteilsgründe müssen deshalb erkennen lassen, inwieweit dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt und bei der Bemessung der Jugendstrafe das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folge der Strafe für die weitere Entwicklung des (Jugendlichen oder) Heranwachsenden abgewogen worden ist. Hieran fehlt es, wenn die Begründung wesentlich oder gar ausschließlich mit solchen Zumessungserwägungen vorgenommen wird, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen.

2. In einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union ergangene verwertbare Verurteilungen müssen grundsätzlich mit gleichwertigen tatsächlichen bzw. verfahrens- und materiell-rechtlichen Wirkungen versehen werden, wie denjenigen, die das innerstaatliche Recht den im Inland ergangenen Verurteilungen zuerkennt. Die Vorverurteilungen können im Zusammenhang mit der Persönlichkeit und der Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten stehen, die in diesen Taten zum Ausdruck kommt.