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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2021
22. Jahrgang
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1. Die unter anderem auf eine nicht ausreichende Erprobung des Verurteilten in selbständigen Lockerungen gestützte Ablehnung einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn die Vollstreckungsgerichte davon ausgehen, dass der – erheblich vorbestrafte und früher selbst im Vollzug mehrfach rückfällig gewordene – Verurteilte zwischenzeitlich einen intensiven therapeutischen Prozess zur Straftataufarbeitung absolviert hat, ohne dessen Verlauf und Ergebnis durch Befragung der involvierten Anstaltspsychologin und des Sozialarbeiters aufzuklären (Hauptsacheentscheidung zum Beschluss
vom 10. September 2020 [= HRRS 2021 Nr. 150]; zugleich Folgeentscheidung zum Beschluss vom 4. Juni 2020 – 2 BvR 343/19 – [= HRRS 2020 Nr. 845]).
2. Bei Entscheidungen über die Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ergeben sich aus dem Freiheitsgrundrecht insbesondere Anforderungen an die Prognoseentscheidung. Für deren tatsächliche Grundlagen gilt von Verfassungs wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung. Danach hat das Vollstreckungsgericht die Grundlagen seiner Legalprognose selbstständig zu bewerten. Außerdem muss es sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis bemühen und alle prognoserelevanten Umstände sorgfältig klären, um ein umfassendes Bild über den Verurteilten zu gewinnen.
3. Vollzugslockerungen kommt für die Prognoseentscheidung besondere Bedeutung zu. Insbesondere stellt das Verhalten des Verurteilten anlässlich solcher Belastungserprobungen einen wichtigen Indikator für seine künftige Legalbewährung dar. Außerdem ermöglichen Lockerungen dem Gefangenen eine Orientierungssuche hinsichtlich seiner künftigen Lebensverhältnisse in Freiheit.
4. Will das Vollstreckungsgericht die Ablehnung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung auch auf die fehlende Erprobung des Gefangenen in Lockerung stützen, darf es sich nicht mit einer – von der Vollzugsbehörde verantworteten – begrenzten Tatsachengrundlage abfinden. Ungeachtet des Standes eines möglichen Verfahrens über einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat das Gericht von Verfassungs wegen selbstständig zu klären, ob die Versagung von Lockerungen auf einem hinreichenden Grund beruhte.
5. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung steht wegen des mit dem Vollzug einer Freiheitsstrafe verbundenen tiefgreifenden Eingriff in das Freiheitsgrundrecht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer zwischenzeitlich aus der Haft entlassen worden ist.
1. Die Ablehnung eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung, mit dem ein Strafgefangener begehrt, sich geeignete Medikamente beschaffen zu dürfen, um sich das Leben zu nehmen, genügt den sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Anforderungen nicht, wenn die Strafvollstreckungskammer sich darauf stützt, ein Suizidwilliger habe eine mangelnde individuelle Bereitschaft zur Suizidhilfe als durch die Gewissensfreiheit geschützte Entscheidung grundsätzlich hinzunehmen (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 u. a. – [= HRRS 2020 Nr. 190]), ohne zu erörtern, inwieweit die Ablehnung seitens der Justizvollzugsanstalt überhaupt auf einer Gewissensentscheidung beruht und ob sich die Bediensteten der Anstalt als grundrechtsverpflichtete Amtsträger dem Gefangenen gegenüber auf eine Gewissensentscheidung berufen können.
2. Die Strafvollstreckungskammer geht in diesem Fall außerdem von einem unzureichend aufgeklärten Sachverhalt aus, wenn sie offen lässt, inwiefern die Anstalt die grundrechtlich geschützten Belange des Gefangenen wahrende Perspektiven eröffnet hat, von wem, auf welcher Grundlage und nach welchem Prozedere der Gefangene die Medikamente tatsächlich erhalten will, ob und gegebenenfalls mit welchem Ergebnis er diesbezüglich bereits Bemühungen – auch rechtlicher Art – unternommen hat und ob sich das Begehren auf eine bloße Duldung der Beschaffung der Medikamente beschränkt oder ob der Gefangene eine darüber hinausgehende Mitwirkung der Anstalt anstrebt.
1. Ein Strafurteil, nach dessen Feststellungen der nicht angeklagte Anteilseigner einer einziehungsbeteiligten Privatbank durch sogenannte „Cum-Ex-Aktiengeschäfte“ vorsätzlich und rechtswidrig den Tatbestand der Steuerhinterziehung verwirklicht hat, zu welcher die Verurteilten Beihilfe geleistet haben, verstößt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht gegen die Unschuldsvermutung (Folgeentscheidung zu BGH, Urteil vom 28. Juli 2021 – 1 StR 519/20 – [= HRRS 2021 Nr. 984]).
2. Ein weiterer Anteilseigner der Bank, der in dem Strafurteil keine Erwähnung findet, ist durch dieses bereits nicht selbst und unmittelbar betroffen und daher nicht beschwerdebefugt. Dies gilt auch dann, wenn er geltend macht, sein Name sei mit der Privatbank „untrennbar verbunden“ oder wenn er auf ein Verwaltungsverfahren der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht verweist, in welchem das Strafurteil (lediglich) in Bezug genommen wird.
3. Eine gegen die anonymisierte Veröffentlichung eines Strafurteils gerichtete Verfassungsbeschwerde ist mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, wenn es die Beschwerdeführer unterlassen haben, insoweit fachgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.
Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Rumänien für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Grundrecht des Verfolgten aus Art. 4 GRCh und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht im Einzelfall nicht hinreichend aufgeklärt hat, ob der Verfolgte nach seiner Überstellung in einer rumänischen Haftanstalt der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, weil es angesichts einer Zusicherung der rumänischen Behörden, dem Verfolgten würden in allen Haftregimen jeweils mindestens 3 m2 persönlicher Raum zur Verfügung stehen, nicht geprüft hat, ob zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, und weil es keine eigene Gefahrenprognose vorgenommen hat, um die Belastbarkeit der Zusicherung einschätzen zu können.