HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2021
22. Jahrgang
PDF-Download


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1189. BVerfG 2 BvR 336/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 15. November 2021 (KG / LG Berlin)

Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung (Freiheitsgrundrecht; Anforderungen an die Prognoseentscheidung; Gebot bestmöglicher Sachaufklärung; Schaffung einer möglichst breiten Tatsachenbasis; besondere Bedeutung von Vollzugslockerungen; selbstständige Klärung der Versagungsgründe durch das Vollstreckungsgericht; Vernehmung Anstaltspsychologin und Sozialarbeiter zum Verlauf einer Straftataufarbeitung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Fortbestehendes Feststellungsinteresse nach Entlassung aus der Strafhaft; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG; § 57 Abs. 1 StGB

1. Die unter anderem auf eine nicht ausreichende Erprobung des Verurteilten in selbständigen Lockerungen gestützte Ablehnung einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn die Vollstreckungsgerichte davon ausgehen, dass der – erheblich vorbestrafte und früher selbst im Vollzug mehrfach rückfällig gewordene – Verurteilte zwischenzeitlich einen intensiven therapeutischen Prozess zur Straftataufarbeitung absolviert hat, ohne dessen Verlauf und Ergebnis durch Befragung der involvierten Anstaltspsychologin und des Sozialarbeiters aufzuklären (Hauptsacheentscheidung zum Beschluss

vom 10. September 2020 [= HRRS 2021 Nr. 150]; zugleich Folgeentscheidung zum Beschluss vom 4. Juni 2020 – 2 BvR 343/19 – [= HRRS 2020 Nr. 845]).

2. Bei Entscheidungen über die Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ergeben sich aus dem Freiheitsgrundrecht insbesondere Anforderungen an die Prognoseentscheidung. Für deren tatsächliche Grundlagen gilt von Verfassungs wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung. Danach hat das Vollstreckungsgericht die Grundlagen seiner Legalprognose selbstständig zu bewerten. Außerdem muss es sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis bemühen und alle prognoserelevanten Umstände sorgfältig klären, um ein umfassendes Bild über den Verurteilten zu gewinnen.

3. Vollzugslockerungen kommt für die Prognoseentscheidung besondere Bedeutung zu. Insbesondere stellt das Verhalten des Verurteilten anlässlich solcher Belastungserprobungen einen wichtigen Indikator für seine künftige Legalbewährung dar. Außerdem ermöglichen Lockerungen dem Gefangenen eine Orientierungssuche hinsichtlich seiner künftigen Lebensverhältnisse in Freiheit.

4. Will das Vollstreckungsgericht die Ablehnung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung auch auf die fehlende Erprobung des Gefangenen in Lockerung stützen, darf es sich nicht mit einer – von der Vollzugsbehörde verantworteten – begrenzten Tatsachengrundlage abfinden. Ungeachtet des Standes eines möglichen Verfahrens über einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat das Gericht von Verfassungs wegen selbstständig zu klären, ob die Versagung von Lockerungen auf einem hinreichenden Grund beruhte.

5. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung steht wegen des mit dem Vollzug einer Freiheitsstrafe verbundenen tiefgreifenden Eingriff in das Freiheitsgrundrecht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer zwischenzeitlich aus der Haft entlassen worden ist.


Entscheidung

1190. BVerfG 2 BvR 828/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 3. November 2021 (OLG Hamm / LG Kleve)

Suizidhilfe im Strafvollzug (Berufung grundrechtsverpflichteter Amtsträger auf Gewissensentscheidungen; Recht auf effektiven Rechtsschutz; ausreichende Aufklärung des Sachverhalts; Eröffnung grundrechtswahrender Möglichkeiten der Beschaffung zum Suizid geeigneter Medikamente; bloße Duldung versus Mitwirkung der Justizvollzugsanstalt; Einschaltung Dritter).

Art. 4 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 43 Abs. 1 Satz 1 StVollzG NRW; § 45 StVollzG NRW

1. Die Ablehnung eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung, mit dem ein Strafgefangener begehrt, sich geeignete Medikamente beschaffen zu dürfen, um sich das Leben zu nehmen, genügt den sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Anforderungen nicht, wenn die Strafvollstreckungskammer sich darauf stützt, ein Suizidwilliger habe eine mangelnde individuelle Bereitschaft zur Suizidhilfe als durch die Gewissensfreiheit geschützte Entscheidung grundsätzlich hinzunehmen (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 u. a. – [= HRRS 2020 Nr. 190]), ohne zu erörtern, inwieweit die Ablehnung seitens der Justizvollzugsanstalt überhaupt auf einer Gewissensentscheidung beruht und ob sich die Bediensteten der Anstalt als grundrechtsverpflichtete Amtsträger dem Gefangenen gegenüber auf eine Gewissensentscheidung berufen können.

2. Die Strafvollstreckungskammer geht in diesem Fall außerdem von einem unzureichend aufgeklärten Sachverhalt aus, wenn sie offen lässt, inwiefern die Anstalt die grundrechtlich geschützten Belange des Gefangenen wahrende Perspektiven eröffnet hat, von wem, auf welcher Grundlage und nach welchem Prozedere der Gefangene die Medikamente tatsächlich erhalten will, ob und gegebenenfalls mit welchem Ergebnis er diesbezüglich bereits Bemühungen – auch rechtlicher Art – unternommen hat und ob sich das Begehren auf eine bloße Duldung der Beschaffung der Medikamente beschränkt oder ob der Gefangene eine darüber hinausgehende Mitwirkung der Anstalt anstrebt.


Entscheidung

1191. BVerfG 2 BvR 1872/21 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 22. November 2021 (BGH / LG Bonn)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde nicht angeklagter Anteilseigner einer Privatbank gegen Strafurteile wegen „Cum-Ex-Aktiengeschäften“ (Steuerhinterziehung; keine Verletzung der Unschuldsvermutung durch Feststellung der Haupttat bei Verurteilung wegen Beihilfe); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Beschwerdebefugnis; unmittelbare Selbstbetroffenheit; substantiierte Darlegung einer Grundrechtsverletzung; Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; Rechtswegerschöpfung; Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen die Veröffentlichung eines Strafurteils).

Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 90 Abs. 1 BVerfGG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Richtlinie (EU) 2016/343; § 27 Abs. 1 StGB; § 370 AO

1. Ein Strafurteil, nach dessen Feststellungen der nicht angeklagte Anteilseigner einer einziehungsbeteiligten Privatbank durch sogenannte „Cum-Ex-Aktiengeschäfte“ vorsätzlich und rechtswidrig den Tatbestand der Steuerhinterziehung verwirklicht hat, zu welcher die Verurteilten Beihilfe geleistet haben, verstößt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht gegen die Unschuldsvermutung (Folgeentscheidung zu BGH, Urteil vom 28. Juli 2021 – 1 StR 519/20 – [= HRRS 2021 Nr. 984]).

2. Ein weiterer Anteilseigner der Bank, der in dem Strafurteil keine Erwähnung findet, ist durch dieses bereits nicht selbst und unmittelbar betroffen und daher nicht beschwerdebefugt. Dies gilt auch dann, wenn er geltend macht, sein Name sei mit der Privatbank „untrennbar verbunden“ oder wenn er auf ein Verwaltungsverfahren der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht verweist, in welchem das Strafurteil (lediglich) in Bezug genommen wird.

3. Eine gegen die anonymisierte Veröffentlichung eines Strafurteils gerichtete Verfassungsbeschwerde ist mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, wenn es die Beschwerdeführer unterlassen haben, insoweit fachgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.


Entscheidung

1192. BVerfG 2 BvR 2110/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. November 2021 (OLG Frankfurt am Main)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung nach Rumänien aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (unionsgrundrechtliches Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung; hinreichende Prüfung der im Einzelfall zu erwartenden Haftbedingungen; 3 m2 persönlicher Raum; Hinzutreten weiterer defizitärer Haftbedingungen; Gefahrprognose zur Einschätzung der Belastbarkeit einer Zusicherung; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 4 GRCh; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Rumänien für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Grundrecht des Verfolgten aus Art. 4 GRCh und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht im Einzelfall nicht hinreichend aufgeklärt hat, ob der Verfolgte nach seiner Überstellung in einer rumänischen Haftanstalt der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, weil es angesichts einer Zusicherung der rumänischen Behörden, dem Verfolgten würden in allen Haftregimen jeweils mindestens 3 m2 persönlicher Raum zur Verfügung stehen, nicht geprüft hat, ob zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, und weil es keine eigene Gefahrenprognose vorgenommen hat, um die Belastbarkeit der Zusicherung einschätzen zu können.