HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2021
22. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Durchfuhr von Betäubungsmitteln – ja, gibt’s denn sowas?

Von Rechtsanwalt Hans Meyer-Mews, Bremen

I. Statt einer Einleitung

Die Durchfuhr von Betäubungsmitteln hat in der (Verurteilungs-)Praxis der Gerichte eine nur geringe Bedeutung.[1] Warum das so ist, soll nachfolgend untersucht werden. Anstelle der üblichen Einführung wird die Problematik anhand eines Falles aus der Praxis vorgestellt. Das LG Rostock hat folgende Feststellungen getroffen:

"Der Angeklagte fuhr … als Passagier eines Flixbusses nach Amsterdam. Dort erwarb er zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt (…) von einer unbekannt gebliebenen Person Kokain mit einem Gesamtgewicht von 2.433,26 Gramm.

(…)

Danach begab sich der Angeklagte mit dem Kokain von Amsterdam nach Berlin, bestieg dort … den Flixbus Berlin-Malmö/Schweden mit dem Reiseziel Kopenhagen. Der Angeklagte wollte das Kokain in Kopenhagen gewinnbringend veräußern (…).

Im Rostocker Überseehafen wurde der Flixbus … im Rahmen … der routinemäßigen Schwerpunktkontrolle … durch Beamte des Hauptzollamtes … kontrolliert. Im Rahmen dieser Zollkontrolle fanden die Zollbeamten im Reisekoffer des Angeklagten versteckt in der Kofferverkleidung das Kokain – abgepackt in sogenannten Bodypacks. "[2]

Das LG Rostock hat den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt.

Der 6. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des Angeklagten gem. § 349 II StPO verworfen.[3] Eine Begründung enthält der Beschluss nicht.[4] Im Rahmen der Sachrüge ist auch gerügt worden, dass das Landgericht den Revisionsführer nicht lediglich wegen Durchfuhr von Betäubungsmitteln verurteilt hat.[5]

II. Durchfuhr

Durchfuhr ist das Verbringen von Betäubungsmitteln durch deutsches Hoheitsgebiet.[6] Erlaubt ist die Durchfuhr nur unter zollamtlicher Überwachung und nur, wenn die Betäubungsmittel während des Transports durch deutsches Hoheitsgebiet zu keiner Zeit dem Durchführenden oder einer dritten Person zur Verfügung stehen und der durch die Beförderung bedingte Aufenthalt auf die dafür notwendige Zeit beschränkt ist.[7] Durchfuhr gem. § 29 I Nr. 5 BtMG ist weder der Oberbegriff von Ein- und Ausfuhr noch die Kombination von Ein- und Ausfuhr[8], sondern ein eigenständiger Straftatbestand. Zwischen Einfuhr und Durchfuhr besteht daher auch keine Tateinheit gemäß § 52 StGB, denn Durchfuhr setzt Einfuhr und Ausfuhr tatbestandlich voraus. Und die Durchfuhr von BtM ist gerade unter der Voraussetzung des Besitzes während der Durchfuhr nach § 29 I Nr. 5 BtMG strafbar. Der Besitz ist somit eine der Strafbarkeitsvoraussetzungen der Durchfuhr. Besitz ist im Übrigen ein Auffangtatbestand[9], der nur eingreift, wenn andere Straftatbestände nach dem BtMG nicht erfüllt sind. Die Bestrafung wegen Einfuhr kann in Fällen der Durchfuhr mithin nicht auf ungleichartige Tateinheit (§ 52 II 1 StGB) gestützt werden.

1. Das Gesetz

Der Blick ins Gesetz soll bekanntlich die Rechtskenntnis schärfen. Ein Blick in den § 29 I Nr. 5 BtMG vermittelt folgende Erkenntnisse zur Strafbarkeit der Durchfuhr von Betäubungsmitteln:

"(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

5. entgegen[*] § 11 I 2 Betäubungsmittel durchführt, …"

Der § 11 I 2 BtMG hat folgenden Wortlaut:

"(1) 1(…). 2Betäubungsmittel dürfen[*] durch den Geltungsbereich dieses Gesetzes nur unter zollamtlicher Überwachung ohne weiteren als den durch die Beförderung oder den Umschlag bedingten Aufenthalt und ohne dass das Betäubungsmittel zu irgendeinem Zeitpunkt während des Verbringens dem Durchführenden oder einer dritten Person tatsächlich zur Verfügung steht, durchgeführt werden." 

Die Strafschärfung des § 29a BtMG für nicht geringe Mengen von Betäubungsmitteln erstreckt sich nicht auf die Fälle der Durchfuhr. Mit Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren wird mithin auch der bestraft, der Betäubungsmittel in nicht geringer Menge durchführt.

Betäubungsmittel dürfen nach § 11 I 2 BtMG legal durch das Bundesgebiet nur unter zollamtlicher Überwachung ohne weiteren als den durch die Beförderung oder den Umschlag bedingten Aufenthalt und ohne dass das Betäubungsmittel zu irgendeinem Zeitpunkt während des Verbringens dem Durchführenden oder einer dritten Person tatsächlich zur Verfügung steht, durchgeführt werden. Wer entgegen diesen Bestimmungen Betäubungsmittel durchführt, wird nach § 29 I Nr. 5 BtMG bestraft.

Der Gesetzgeber hat mithin zwischen legaler Durchfuhr unter den Voraussetzungen des § 11 I 2 BtMG und der als Vergehen strafbaren Durchfuhr unterschieden; er hat dabei jede ungesetzliche Durchfuhr als Vergehen unter Strafe gestellt. Erfolgt die Durchfuhr entgegen § 11 I 2 BtMG

§   ohne zollamtliche Überwachung oder

§   mit weiteren nicht durch die Beförderung oder den Umschlag bedingten Aufenthalt oder

§   in der Weise, dass das Betäubungsmittel zu irgendeinem Zeitpunkt während des Verbringens dem Durchführenden oder einer dritten Person tatsächlich zur Verfügung steht,

so ist die Durchfuhr ungesetzlich und zugleich gem. § 29 I Nr. 5 BtMG als Vergehen strafbar und danach mit einer Höchststrafe von fünf Jahren bedroht. Jede andere Auslegung ist mit dem Wortlaut des Gesetzes unvereinbar.[10]

2. Die herrschende Meinung

Nach hM soll sich allerdings aus § 2 II BtMG ergeben, dass das (im Sinne von jedes) Verbringen eines Betäubungsmittels in den Geltungsbereich des BtMG grundsätzlich den Tatbestand der Einfuhr erfülle.[11] Denn nach § 2 II BtMG steht jedes sonstige Verbringen in den oder aus dem Geltungsbereich des BtMG der Ein- oder Ausfuhr gleich.[12]

Werde ein Betäubungsmittel  dagegen nur  durch  den Geltungsbereich des BtMG befördert und geschehe dies ohne weiteren als den durch die Beförderung oder den Umschlag bedingten Aufenthalt und ohne dass es zu irgendeinem Zeitpunkt während des Verbringens dem Durchführenden oder einer dritten Person tatsächlich zur Verfügung stehe, begründe dies nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Tatbestand der (strafbaren) Durchfuhr.[13] Danach ist die nach § 29 I Nr. 5 BtMG strafbare Durchfuhr von Betäubungsmitteln eine Durchfuhr unter den Voraussetzungen des § 11 I S. 2 BtMG, die jedoch ohne zollamtliche Genehmigung erfolgt. Diese Auslegung lässt sich mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht vereinbaren.

Der in § 11 I 2 BtMG geregelte Sachverhalt bildet eine Ausnahme von § 2 II BtMG. Er geht dem § 2 II BtMG als Lex specialis vor. Da die Strafbarkeit wegen Durchfuhr der Strafbarkeit wegen Einfuhr somit vorgeht[14], kann es namentlich nicht darauf ankommen, ob der Täter – was in dem eingangs vorgestellten Fall noch nicht einmal festgestellt worden ist – während der Durchfuhr durch das Bundesgebiet (tatsächlichen) Zugriff[15] auf die von ihm durchgeführten Betäubungsmittel hatte und sich sein Aufenthalt im Bundesgebiet auf das durch die Erfordernisse der Beförderung absolut notwendige Mindestmaß beschränkte.

Wer Betäubungsmittel ein- durch- oder ausführt, macht sich grundsätzlich wegen Bannbruch gemäß § 372 I AO strafbar. Bannbruch ist ein Auffangtatbestand, der nur eingreift, wenn die Tat nicht nach einem anderen Gesetz strafbar ist. Die Strafbarkeit der Durchfuhr von Betäubungsmitteln nach § 372 II AO tritt deswegen zurück, weil der Täter gemäß §§ 29 ff. BtMG bestraft werden kann. Durchfuhr ist in den Fällen des § 372 AO das Verbringen von Gegenständen, ohne dass diese Gegenstände in dem Gebiet, in dem die Durchfuhr stattfindet, in den freien Verkehr gelangen.[16] Nach der Legaldefinition des § 2 IX Nr. 1 AWG ist Durchfuhr die Beförderung von Waren aus dem Ausland durch das Inland, ohne dass die Waren im Inland in den zollrechtlich freien Verkehr gelangen. Die subsidiäre Strafbarkeit der Durchfuhr nach § 372 AO, der sowohl Straftaten nach dem Außenwirtschaftsgesetz als auch Straftaten nach § 29 BtMG unterliegen, bringt es mit sich, dass der Rechtsbegriff Durchfuhr im Betäubungsmittelstrafrecht die Auslegung findet und die Bedeutung hat, die ihm auch im Außenwirtschafts-

gesetz zukommt. Entgegen der Ansicht des Bundesgerichtshofs ist der Rechtsbegriff Durchfuhr mithin sehr wohl legaldefiniert, wenn auch nicht im BtMG.

Vor der Entscheidung darüber, ob – ausnahmsweise – eine strafbare Durchführung gem. § 29 I Nr. 5 BtMG vorliegt, hat der Tatrichter nach der Rechtsprechung des BGH positive Feststellungen dazu zu treffen, ob der Täter die Verfügungsmacht über die BtM während der Durchfuhr hatte.[17] Daran fehlte es in dem dem eingangs vorgestellten Fall zugrunde liegenden Urteil. Dieser Mangel dürfte auch sonst Urteilen, denen ein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde liegt, anhaften.

III. Das Bestimmtheitsgebot

1. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Bestimmtheitsgebot

Auch der noch so enthusiastische Verfechter der zum Betäubungsmittelstrafrecht herausgebildeten hM wird sich kaum der Erkenntnis verschließen können, dass das Gesamtgebilde der hierzu ergangenen Rechtsprechung dem aus Art. 103 II GG abgeleiteten Bestimmtheitsgebot genügen muss.

Die Bedeutung des Art. 103 II GG erschöpft sich nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 II GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot.[18] Dadurch soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet. Insoweit enthält Art. 103 II GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen.[19] Zudem hat Art. 103 II GG nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG eine freiheitsgewährleistende Funktion.[20] Jeder Teilnehmer am Rechtsverkehr soll danach vorhersehen können, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist und in welchem Rahmen er mit einer Bestrafung nach welcher Norm zu rechnen hat. Der Tatbestand eines Gesetzes muss mithin so klar und unmissverständlich umschrieben sein, dass der Betroffene die Rechtslage erkennen und sein Verhalten danach bestimmen kann.[21]

Die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze, nach denen der Gesetzgeber im Bereich der Grundrechtsausübung alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen[22] und Rechtsvorschriften so genau fassen muss, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist[23], gelten danach für den grundrechtssensiblen Bereich des materiellen Strafrechts in besonders strikter Weise.[24] Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG verlangt daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass der Normadressat im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen kann, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht.[25]

Allerdings muss der Gesetzgeber den "Tatbestand nicht stets vollständig im förmlichen Gesetz umschreiben, sondern darf auf andere Vorschriften verweisen. Solche Verweisungen sind als vielfach übliche und notwendige gesetzestechnische Methode anerkannt, sofern die Verweisungsnorm hinreichend klar erkennen lässt, welche Vorschriften im Einzelnen gelten sollen, und wenn diese Vorschriften dem Normadressaten durch eine frühere ordnungsgemäße Veröffentlichung zugänglich sind (…)."[26] Von dieser Möglichkeit hat der Gesetzgeber durch seine Verweisung auf § 11 I 2 BtMG Gebrauch gemacht. Die Verweisung ist normenklar und lässt keinen Spielraum für eine Rechtsvermutung im Sinne von in dubio contra reum. Insbesondere handelt es sich nicht um eine die Bestimmtheit des Gesetzes berührende Ketten- oder Kaskadenverweisung, die der EuGH im Verbraucherrecht für unzulässig erklärt hat.[27]

Diesen durch die Rechtsprechung des BVerfG herausgebildeten Mindestanforderungen genügt zwar die Gesetzeslage, nicht aber die insoweit doch recht "freihändige" Rechtsprechung des BGH zur Durchfuhr von Betäubungsmitteln. Der BGH hat den Vorrang des spezielleren Gesetzes ebenso wenig beachtet (Vorrang der §§ 29 I Nr. 5, 11 I 2 BtMG gegenüber dem § 2 BtMG), wie die im Sinne größtmöglicher Transparenz gebotene einheitliche Auslegung und Definition von Rechtsbegriffen (Durchfuhr). Allerdings hat das BVerfG in einem die Verurteilung wegen Handeltreibens betreffenden Nichtannahmebeschluss recht feinsinnig zwischen Normbestimmtheit und Normintention unterschieden.[28] Zur Begründung bezieht sich das BVerfG auf die eigene Rechtsprechung, nach der selbst sachlich missglückte Strafbestimmungen gemessen an Art. 103 II GG verfassungsgemäß sind, wenn sie die Voraussetzungen strafbaren Tuns oder Unterlassens hinreichend deutlich umschreiben. Scheinbar kommt es bei missglückten Normen auf die hinter der missglückten Norm stehende gesetzgeberische Intention an. Es bleibt zu hoffen, dass wenigstens die gesetzgeberische Intention in diesen Fällen ausreichend bestimmbar ist.

Allerdings handelt es sich bei § 29 I 1 Nr. 5 BtMG nicht um eine Norm, die hinsichtlich ihrer Bestimmtheit zu solchen Beanstandungen Anlass geben würde, die den Rückgriff auf die gesetzgeberische Intention erforderlich machen würden. Zudem beruht die Strafbewehrung der

Durchfuhr von Betäubungsmitteln maßgeblich auf von der Bundesrepublik zu erfüllenden völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen.[29] Die Intention des Gesetzgebers ist hier also in den von der Bundesrepublik eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu sehen. Ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen hat die Bundesrepublik durch die Regelung der Strafbarkeit der Durchfuhr von Betäubungsmitteln erfüllt.

2. Die Rechtsprechung des EuGH und des EGMR zum Bestimmtheitsgebot

Das BVerfG prüft nach seinem Recht-auf-Vergessen-II-Beschluss vom 06.11.2019[30] wegen des Vorrangs der Garantien der GRCh und der EMRK gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes im Interesse eines umfassenden Grundrechtsschutzes nunmehr auch Verstöße gegen die GRCh und gegen die EMRK und orientiert sich dabei – soweit möglich – an der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR.

Auch nach Art. 49 I GRCh muss die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens hinsichtlich des Straftatbestands und hinsichtlich der Rechtsfolgen ausreichend bestimmt sein.[31]

Nach Art. 7 I 1 EMRK besteht das Gebot der Bestimmtheit und Klarheit von Strafvorschriften. Danach muss die strafbare Handlung oder Unterlassung durch das Gesetz selbst hinreichend klar bestimmt sein. Der Rechtsunterworfene muss i. d. R. dem Wortlaut entnehmen können, welches Handeln oder Unterlassen die Strafbarkeit begründet.[32] Dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung kann jeder Teilnehmer am Rechtsverkehr mühelos entnehmen, welches Verhalten als Durchfuhr von Betäubungsmitteln gem. § 29 I Nr. 5 BtMG strafbar ist, nicht aber der hierzu entwickelten hM.

Auch gemessen an diesen Maßstäben sind die Strafbarkeitsvoraussetzungen der Durchfuhr von Betäubungsmitteln in § 29 I Nr. 5 BtMG trotz der Verweisung auf § 11 I 2 BtMG noch ausreichend bestimmt geregelt. Die von der hM und darüber hinaus von der einhelligen Literaturmeinung vorgenommene Auslegung des Gesetzes ist allerdings contra legem und somit verfassungs- und europarechtswidrig.

IV. Lamento statt Fazit

Bei der Auslegung und Anwendung des Betäubungsmittelstrafrechts durch die obergerichtliche Rechtsprechung wird der Grundsatz in dubio pro libertate regelmäßig in sein Gegenteil verkehrt. Offenbar im Interesse effektiver Generalprävention wird im Zweifel nach der Norm bestraft, der der höhere Strafrahmen zu entnehmen ist. Das dogmatisch fragwürdige Betäubungsmittelstrafrecht[33] geht hier eine unheilige Allianz mit dem scheinbar unerschütterlichen Glauben an den Sinn des Strafens ein.

So treibt beispielsweise vollendeten Handel mit Betäubungsmitteln schon, wer Betäubungsmittel besitzt, um sie gewinnbringend zu verkaufen[34] oder eine lose Kaufvereinbarung trifft und zwar ganz unabhängig davon, ob der Verkäufer über das Betäubungsmittel und der Käufer über das Kaufgeld verfügt.[35] Nach hM steht damit selbst ein bloß verbales Handeltreiben als Handeltreiben unter Strafe.[36] Der Tatbestand des Handels setzt daher auch keinen Absatzerfolg voraus, es ist noch nicht einmal erforderlich, dass die Handlung des Täters den Umsatz objektiv gefördert hat oder hierzu überhaupt geeignet war.[37] Handeltreiben ist – das muss man wissen – nämlich nicht nur ein Unternehmensdelikt, sondern auch ein Erklärungsdelikt.[38] Da bleibt für das in § 29 IV BtMG ebenfalls strafbare fahrlässige Handeltreiben kaum noch Raum.

Vom untauglichen Versuch, von der Strafmilderung wegen Versuchs[39] und von straflosen Vorbereitungshandlungen scheint sich die hM dogmatisch emanzipiert zu haben. Wer mehr als genug Betäubungsmittel lagert, dem wird Handel mit einer nicht geringen Menge von Betäubungsmitteln schlicht unterstellt, obwohl für den Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge das gleiche Strafmaß gilt, das auch beim Handel mit einer nicht geringen Menge von Betäubungsmitteln zur Anwendung kommt.

Das LG Halle (Saale) hat einen Angeklagten, der mit einem Regionalzug von Lörrach (Deutschland) nach Basel (Schweiz) gereist ist und am Hauptbahnhof SSB Basel ca. 12 kg Kokain mit sich führte nicht etwa wegen des Vergehens der Ausfuhr verurteilt.[40] Nein, nein, denn Ausfuhr ist "nur" ein Vergehen, das gem. § 29 I 1 Nr. 1 BtMG mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird. Für solche schweren BtM-Straftaten müssen scheinbar Normen zur Anwendung kommen, für die ein höherer Strafrahmen vorgesehen ist. Demgemäß verurteilte das LG Halle den Angeklagten nicht wegen Ausfuhr, sondern wegen Besitzes in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Für den Besitz einer nichtgeringen Menge von Betäubungsmitteln droht das Gesetz immerhin Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünfzehn Jahren an. Allerdings handelt es sich beim strafbaren Besitz von Betäubungsmitteln um einen Auffangtatbe-

stand.[41] Durch die Vorschrift sollen Fälle erfasst werden, in denen nur der Besitz, nicht aber die Besitzverschaffung oder der Zweck der Besitzverschaffung, also etwa Handel nachzuweisen ist.[42] Die Strafbarkeit des Besitzes dient der Beweiserleichterung; durch den Straftatbestand soll zudem eine Gesetzeslücke geschlossen werden.[43] Eine zu schließende Gesetzeslücke, die die Anwendung eines auffangtatbestands rechtfertigen würde, lag in diesem Fall aber gar nicht vor, denn das LG Halle hat zugleich auch den Tatbestand der Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge als erfüllt angesehen. Für Beihilfe zum Handel mit Betäubungsmittel in nicht geringer Menge sieht das Gesetz allerdings "nur" einen Strafrahmen von drei Monaten bis zu elf Jahren und drei Monaten vor. Im Interesse einer möglichst exzessiven Bestrafung ist es so gesehen tunlich, den Angeklagten zugleich wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu bestrafen. Auch wenn das Landgericht Halle den Angeklagten – richtigerweise – allein wegen Ausfuhr von Betäubungsmitteln verurteilt hätte, hätte keine Gesetzeslücke vorgelegen. Wichtig ist, was hinten rauskommt, soll Helmut Kohl einmal festgestellt haben. Und so sah es wohl auch der 4. Strafsenat des BGH, der an dem Urteil des LG Halle nichts auszusetzen hatte und die Revision verworfen[44] hat.[45]

Mit der contra-legem Leugnung der realen Existenz des Vergehens der strafbaren Durchfuhr gem. § 29 I Nr. 5 BtMG hat die Rechtsprechung zum Betäubungsmittelstrafrecht sprichwörtlich den Vogel abgeschossen.

P.S.: Nach allgemeiner Meinung soll das Betäubungsmittelstrafrecht dem gesetzgeberischen Ziel dienen, die menschliche Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung insgesamt vor den vom Betäubungsmittelkonsum ausgehenden Gefahren schützen.[46] Diese Begründung für die mit dem de facto-Verbot jeden Umgangs mit Betäubungsmitteln einhergehenden Einschränkungen des Grundrechts auf persönliche Freiheit greift zu kurz. Erstens ist der Staat entgegen anderer Behauptungen[47] nicht zu einem abwägungsfreien unbedingten Schutz der Volksgesundheit oder der Gesundheit des Einzelnen verpflichtet und er fühlt sich etwa im Gesundheitswesen zu einem derart absoluten Schutz der Gesundheit auch nicht verpflichtet.[48] Zweitens wird vom Grundrecht der Freiheit der Person auch das Recht zur Krankheit erfasst.[49]

Die Freiheitsgrundrechte schließen danach das Recht ein, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der – in den Augen Dritter – den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwiderläuft. Daher schließt die grundrechtlich geschützte Freiheit, so das BVerfG, auch die Freiheit zur Krankheit und damit das Recht ein, eine auf Heilung zielende Behandlung abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt ist.[50] Zwar ist der Konsum von Betäubungsmitteln auch dann straffrei, wenn er krank macht und dient damit der verfassungsrechtlich geschützten Freiheit zur Krankheit, aber die Beschaffung der Mittel, die zur Ausübung des Freiheitsrechts zur Krankheit unerlässlich erforderlich sind, wird hierzulande drakonisch bestraft.

Ein wenig mehr Gelassenheit im Umgang mit Betäubungsmittelkriminalität täte dem Rechtsstaat gut.


[1] Vgl. Wettley, in Bohnen/Schmidt (Hrsg.), BtMG, 2020, § 29, Rn. 544.

[2] LG Rostock, Urteil vom 05.06.2020[18 KLs 51/20 (3)]S. 5. In diesem Verfahren war der Verfasser neben Rechtsanwalt Maximilian Rakow, Rostock, als Verteidiger tätig.

[3] Beschl. vom 27.01.2021 – 6 StR 421/20. Auch im Revisionsverfahren war der Verf. als Revisionsverteidiger tätig.

[4] Vgl. zur Begründung letztinstanzlicher Entscheidungen der Revisionsgerichte: von Döllen/Meyer-Mews, StV 2005, 4; Meyer-Mews StraFo 2007, 96.

[5] Gegen den Beschluss des BGH hat der Verurteilte Verfassungsbeschwerde erhoben. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde durch Beschluss vom 08.08.2021 (2 BvR 497/21) nicht zur Entscheidung angenommen. Der Beschluss enthält keine Begründung.

[6] Vgl. Kotz in Kotz/Rahlf (Hrsg.), Praxis des Betäubungsmittelstrafrechts (2013), S. 200, Rn. 204.

[7] Vgl. BGH NJW 1974, 429.

[8] Vgl. Wettley, in Bohnen/Schmidt, BtMG, 2020, § 11, Rn. 11.

[9] Vgl. Eberth/Müller/Schütrumpf[Praxis der Strafverteidigung], Verteidigung in Betäubungsmittelsachen7, Rn. 112.

[*] Hervorhebung durch den Verfasser.

[*] Hervorhebung durch den Verfasser.

[10] So aber u. a. Eberth/Müller/Schütrumpf, a. a. O., Rn. 128.

[11] Vgl. BGH, Urteil vom 04.05.1983 – 2 StR 661/82, Rn. 6 = BGHSt 31, 374, 375f.

[12] Vgl. BGH, a. a. O.

[13] Vgl. BGH, a. a. O.

[14] Vgl. Wettley, in Bohnen/Schmidt (Hrsg.), a. a. O., § 29, Rn. 574.

[15] Vgl. zur Frage, ob die abstrakte Zugriffsmöglichkeit genügt, Kotz, in Kotz/Rahlf, a. a. O., S. 205, Vgl. Wettley, in Bohnen/Schmidt (Hrsg.), a. a. O., § 29, Rn. 574.

[15] Vgl. zur Frage, ob die abstrakte Zugriffsmöglichkeit genügt, Kotz, in Kotz/Rahlf, a. a. O., Rn. 200 m. w. N.

[16] Vgl. Jäger, in Klein, AO15, § 372 Rn. 9.

[17] Vgl . BGH, Beschl. vom 25.07.2002 – 2 StR 259/02 = S tV 2003, 281.

[18] Vgl. BVerfG, Beschl. des Zweiten Senats vom 21. September 2016 – 2 BvL 1/15, Rn. 36 = BVerfGE 143, 38.

[19] Vgl. BVerfGE, a. a. O., unter Hinweis auf BVerfGE 47, 109, 120; BVerfGE 57, 250, 262; BVerfGE 73, 206, 234f.; BVerfGE 75, 329, 341; BVerfGE 78, 374, 382; BVerfGE 92, 1, 12; BVerfGE 126, 170, 194f.; BVerfGE 130, 1, 43.

[20] Vgl. BVerfGE 143, a. a. O., Rn. 37, unter Hinweis auf BVerfGE 75, 329, 341 m.w.N.; BVerfGE 126, 170, 194f.

[21] Vgl. BVerfGE 50, 290, 380, unter Hinweis auf BVerfGE 38.61, 82.

[22] Vgl. BVerfGE 143, a. a. O. Rn. 38, unter Hinweis auf BVerfGE 101, 1, 34; BVerfGE 108, 282, 312

[23] BVerfGE, a. a. O., unter Hinweis auf BVerfGE 93, 213, 238.

[24] Vgl. BVerfGE, a. a. O.

[25] Vgl. BVerfGE, a .a. O., unter Hinweis auf BVerfGE 126, 170 <195> m.w.N.

[26] Vgl. BVerfGE, a. a. O., Rn. 42, unter Hinweis auf BVerfGE 5, 25, 31; BVerfGE 22, 330, 346; BVerfGE 26, 338, 365 f.; BVerfGE 47, 285, 311.

[27] Vgl. EuGH, Urteil vom 26. März 2020[c-66/19].

[28] Vgl. BVerfG, Beschl. vom 18.09.2006 – 2 BvR 2126/05 = NJW 2007, 1193.

[29] Vgl. Wettley, in Bohnen/Schmitt (Hrsg.), a. a. O., BtMG, § 29, S. 265.

[30] Vgl. BVerfG, Beschl. vom 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 = BVerfGE 152, 216.

[31] Vgl. EuGH, Rs. 74/95, Rn. 25; EuG, Rs. 279/02, Rn. 66.

[32] Vgl. EGMR Große Kammer (Streletz, Keßler und Krentz/Deutschland), Urteil vom 22.03.2001 – 34044/96, 35532/97 und 44801/98, Rn. 50 = NJW 2001, 3035, 3037.

[33] Vgl. Meyer-Mews, StraFo 2013, 161, passim.

[34] Vgl. BGHSt 42, 162, 164; Eberth/Müller/Schütrumpf, a. a. O., Rn. 112.

[35] Vgl. BGHSt 6, 246, 247; BGH, Beschl. vom 24.10.2006 – 3 StR 392/06.

[36] Vgl. Eberth/Müller/Schütrumpf, a. a. O., Rn. 62.

[37] Vgl. Becker, in Bohnen/Schmidt (Hrsg.), a. a. O., § 29, R. 57.

[38] Vgl. Ebert/Müller/Schütrumpf., a. a. O., Rn. 62.

[39] Vgl. BVerfG NJW 2007, 1193.

[40] LG Halle, Urteil vom 08.04.2013 – 3 KLs 503 Js 30368/09 (47/12)[an diesem Verfahren war der Verf. als Verteidiger beteiligt].

[41] Vgl. Teriet/Wettley, in Bohnen/Schmidt (Hrsg.), a. a. O., Rn. 472.

[42] Vgl. dies., a. a. O.

[43] Vgl. dies., a. a. O., unter Hinweis auf BT-Drs. IV/1877, S. 9.

[44] Erfolglose Angeklagtenrevisionen werden i. d. R. verworfen, wohl um der Anmaßung, die in der erfolglosen Revision zu sehen ist, Ausdruck zu verleihen. Bleiben Revisionen der StA ausnahmsweise einmal ohne Erfolg, so werden sie lediglich zurückgewiesen. Dieser sanfteren Formulierung scheint ein verhohlenes Bedauern anzuhaften.

[45] Beschl. vom 20.11.2013 – 4 StR 441/13[an diesem Verfahren war der Verf. als Revisionsverteidiger beteiligt].

[46] So etwa Becker, a. a. O., § 29, Rn. 51, unter Hinweis auf BVerfG, Beschl. v. 09.03.1994 – 2 BvL 63/92.

[47] Vgl. Felix Ekhardt/Anna Hyla/Swantje Meyer-Mews, NJ 2012, 25, unter Hinweis auf BVerfGE 115, 118ff; BVerfGE 125, 175ff.

[48] Näher: Felix Ekhardt u. a., a. a. O., 26.

[49] Vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.03.2011 – 2 BvR 882/09, Rn. 48 = NJ 2011, 388 m. Anm. Meyer-Mews; ebenso BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 – 2 BvR 633/11

[50] BVerfG, Beschl. v. 23.03.2011, a. a. O., Rn. 48, 55.