HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2021
22. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

870. BGH 6 BGs 19/21 – Beschluss vom 29. April 2021 (Ermittlungsrichter)

Zurückstellung der Benachrichtigung bei verdeckten Maßnahmen (Gefährdung des Untersuchungszwecks: mehrere verdeckte Untersuchungshandlungen; Abwägung: sachgrundloser längerer Verfahrensstillstand, Gewichtung der Belange des Betroffenen mit zunehmender Dauer der Zurückstellung); fehlende polizeiliche Ressourcen im von der Staatsanwaltschaft geführten Ermittlungsverfahren (Priorisierung zwischen Ermittlungsverfahren: Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft; Anzeigepflicht der Ermittlungspersonen); Weisungsrecht der Staatsanwaltschaft gegenüber den Ermittlungspersonen.

§ 101 Abs. 6 StPO; § 101 Abs. 5 StPO; § 161 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 163 StPO; § 152 GVG

1. Zu den Voraussetzungen der Zurückstellung der Benachrichtigung gem. § 101 Abs. 5 StPO wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks.

2. Es kann aus Gründen fehlender Ressourcen eine Priorisierung unter den zeitgleich von der Staatsanwaltschaft geführten Ermittlungsverfahren geboten und eine hierdurch eintretende Verzögerung in der Sachbehandlung einzelner, aus Sicht der Staatsanwaltschaft weniger bedeutsamer oder weniger dringender Verfahren erforderlich sein. Gerade auch um eine gerichtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermöglichen, ist aber diese staatsanwaltschaftliche Entschließung einerseits und sind die ihr zugrunde liegenden Erwägungen andererseits aktenkundig zu machen.

3. Der Staatsanwaltschaft steht gegenüber den von ihr mit den konkreten Ermittlungen betrauten Ermittlungspersonen, verstanden als Organe der Staatsanwaltschaft, ein uneingeschränktes Weisungsrecht in Bezug auf ihre auf die Sachverhaltserforschung gerichtete strafverfolgende Tätigkeit sowie in diesem Rahmen das Weisungsrecht eines Dienstvorgesetzten zu. Selbständig handeln die Beamten der Polizei im Rahmen ihrer repressiven Tätigkeit nur dann, wenn ihnen durch das Gesetz ausnahmsweise entsprechende Befugnisse eingeräumt sind. Weisungen des polizeilichen Dienstvorgesetzen sind unzulässig, wenn sie in Konkurrenz mit Anordnungen der zuständigen Staatsanwaltschaft treten.

4. Sind die Ressourcen der beauftragten Polizeidienststelle für die Erfüllung sämtlicher bei ihr anhängiger Ermittlungsverfahren unzureichend, haben die Ermittlungspersonen dies der Staatsanwaltschaft unverzüglich anzuzeigen. Allein der Staatsanwaltschaft ist als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ die dann möglicherweise erforderliche Priorisierung zwischen ihren verschiedenen Verfahren überantwortet. Wurden der Polizei Ermittlungsaufgaben durch unterschiedliche Staatsanwaltschaften übertragen, kann eine solche Priorisierung nur im Wege der Abstimmung sämtlicher betroffener Staatsanwaltschaften erfolgen.


Entscheidung

871. BGH 6 BGs 95/20 – Beschluss vom 19. August 2020 (Ermittlungsrichter)

Vorermittlungsverfahren (fehlende Statthaftigkeit richterlicher Untersuchungshandlungen; Abgrenzung zum bereits eingeleiteten Ermittlungsverfahren).

§ 162 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 152 StPO

1. Vorermittlungen, die zu dem Zwecke der Abklärung geführt werden, ob ein bekannter Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht bereits ausreicht, um einen Anfangsverdacht zu bejahen, erweisen sich nicht als Teil des gesetzlichen Ermittlungsverfahrens, so dass bei diesen keine richterlichen Untersuchungshandlungen – gar mit Zwangs- oder Eingriffscharakter – statthaft sind.

2. Zwar ist die registerrechtliche Sachbehandlung für die Bewertung, ob die ermittelnde Staatsanwaltschaft bereits zureichende Anhaltspunkte im Sinne von § 152 StPO besitzt, für sich grundsätzlich ohne Aussagekraft für die Abgrenzung von Vorermittlungen und bereits eingeleitetem Ermittlungsverfahren. Anderes muss allerdings dann gelten, wenn die Anklagebehörde ihren Antrag ausdrücklich als Vorermittlungsverfahren deklariert und damit kundgibt, aus ihrer Sicht kein Ermittlungsverfahren zu betreiben. In diesen Fällen steht es dem Ermittlungsrichter – unabhängig von der Tatverdachtsbewertung (§ 152 Abs. 2 StPO) – nicht zu, seinerseits das Verfahren formal als Ermittlungsverfahren zu betreiben und damit die notwendigen Voraussetzungen für die Untersuchungshandlungen nach § 162 StPO erst zu schaffen.


Entscheidung

856. BGH 2 BGs 254/21 – Beschluss vom 4. Juni 2021 (Ermittlungsrichter)

Entscheidung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers (Bestellung von Amts wegen); Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers (Unterbringung in einer Anstalt auf Grund einer richterlichen Anordnung: Beurlaubung oder Unterbringung in gelockerter Form; mangelnde Verteidigungsfähigkeit); unvollständige Belehrung.

§ 142 Abs. 3 StPO; § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO; § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO; § 136 Abs. 1 Satz 5 StPO

1. Eines ausdrücklichen Antrags, etwa auch der Staatsanwaltschaft, der die gerichtliche Entscheidung nach § 142 Abs. 3 StPO erst erwirkt, bedarf es nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung für die gerichtliche Bestellung nicht mehr. Dies gilt nicht nur für Fälle, in denen bereits Anklage erhoben worden und die Verfahrensherrschaft auf das angerufene Gericht übergangenen ist (§ 142 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO), sondern gerade auch für ermittlungsrichterliche Entscheidungen im Vorverfahren.

2. Eine Beurlaubung oder Unterbringung in gelockerter Form nach § 26 NPsychKG ändert nichts an der Unterbringung des Beschuldigten in einer Anstalt aufgrund richterlicher Anordnung im Sinne des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO. Eine solche – zeitlich freilich begrenzte – ärztliche Einschätzung und Modifikation der Unterbringung mag zwar eine gerichtliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung der gerichtlichen Unterbringungsanordnung oder über die gerichtliche Entlassung des Betroffenen vorbereiten, veranlassen oder begründen, nicht aber die richterliche Entscheidung über den Vollzug der Freiheitsentziehung zu suspendieren oder gar aufzuheben. Dies ist allein richterliche Aufgabe.

3. Maßgeblich für die Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten im Sinne des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 sind seine geistigen Fähigkeiten, sein Gesundheitszustand und die weiteren konkreten Umstände des Einzelfalles, namentlich das Gewicht des Tatvorwurfs und die damit drohende strafrechtliche Sanktion und etwaige Verständigungsschwierigkeiten bei Ausländern. Der Beiordnungsgrund ist bereits dann anzunehmen, wenn tatsachengestützte Zweifel an der Verteidigungsfähigkeit bestehen, wobei ein Anhaltspunkt dafür auch unverständliches oder gar widersprüchliches Prozessverhalten sein kann.


Entscheidung

857. BGH 2 BGs 468/20 – Beschluss vom 9. Juli 2020 (Ermittlungsrichter)

Telekommunikationsüberwachung (Anwendung auf internetbasierte Chat- und Messaging-Dienste: „WhatsApp“, richterliche Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit); Beschlagnahmeverbot (Angehörigenverhältnis; Verzicht: Einwilligungserklärung, unvollständige Tatsachengrundlage); Belehrungspflichten bei der Zeugenvernehmung; eigenverantwortliche Prüfung des Ermittlungsrichters (Entscheidung auf Vorlage einzelner schriftlicher Antragsunterlagen; Unvollständigkeit der staatsanwaltschaftlich ausgewählten Teile der Ermittlungsakte: Verlust der erlangten Beweismittel, fortan grundsätzliche Vorlage der gesamten Ermittlungsakte).

Art. 10 GG; Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG; § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO; § 97 StPO; § 163 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 52 Abs. 3 StPO; § 162 StPO

1. Zu den Voraussetzungen der Überwachung der Kommunikation über einen internetbasierten Instant-Messaging-Dienst („WhatsApp“).

2. Der in verschiedenen Vorschriften des Strafverfahrens garantierte Schutz eines Angehörigenverhältnisses zählt in seinem Kernbestand zu den rechtsstaatlich unverzichtbaren Erfordernissen eines fairen Verfahrens.

3. Grundsätzlich kann der zeugnisverweigerungsberechtigte Gewahrsamsinhaber auf das Beschlagnahme- und Verwertungsverbot aus § 97 Abs. 1 StPO verzichten. Denn das Verbot ist eine Folge seines Zeugnisverweigerungsrechts, über dessen Ausübung er entscheiden kann.

4. Allein dem angerufenen Richter obliegt vom Zeitpunkt seiner Befassung an die Entscheidung, in welcher Form und in welchem Umfang ihm die Entscheidungsgrundlagen vermittelt werden. Zur eigenverantwortlichen gerichtlichen Prüfung bedarf es nicht stets der Vorlage der gesamten Ermittlungsakten in Papierform. Ist der Verfahrenssachverhalt etwa bereits durch eine kurz zuvor erfolgte umfassende gerichtliche Prüfung bekannt und seither nach eigenständiger Prüfung der Staatsanwaltschaft kein bedeutsames Beweismaterial angefallen oder die Sache besonders eilbedürftig, kann auch auf Vorlage

einzelner schriftlicher Antragsunterlagen entschieden werden.

5. Schließt die Staatsanwaltschaft in diesen Konstellationen ihrem Antrag auf Anordnung einer gerichtlichen Untersuchungshandlung (§ 162 StPO) nur ausgewählte Teile der Ermittlungsakten bei, so erklärt sie hierdurch zugleich, dass diese Auswahl nach ihrer eigenverantwortlichen Prüfung sämtliche bis zum Zeitpunkt der Antragsstellung angefallenen maßgeblichen Ermittlungsergebnisse enthält. Anderenfalls blieben Zweifel an der Vollständigkeit der gerichtlichen Entscheidungsgrundlage, die mit dem – von Verfassungs wegen – gebotenen präventiven Rechtsschutz durch den Ermittlungsrichter unvereinbar wären.

6. Erweist sich später, dass die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Auswahl entgegen einer solcherart abgegebenen Vollständigkeitserklärung für die Entscheidung der konkreten gerichtlichen Untersuchungshandlung unvollständig war, so kann dies im Einzelfall den Verlust der hierdurch erlangten Beweismittel besorgen lassen.

7. In diesen Verfahrenskonstellationen besteht grundsätzlich kein Raum mehr, auch fortan weitere ermittlungsrichterliche Anordnungen lediglich auf der Grundlage einer staatsanwaltschaftlichen Auswahl von Ermittlungsergebnissen zu erwirken. Der angerufene Ermittlungsrichter wird in dem betroffenen Verfahren nämlich nicht mehr davon ausgehen können, dass zukünftig zusammengestellte Aktenteile alle aktuellen und maßgebenden Ermittlungsergebnisse enthalten. Deshalb ist jedenfalls von diesem Zeitpunkt an grundsätzlich die Vorlage der gesamten Ermittlungsakte zur Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der beantragten gerichtlichen Untersuchungshandlungen erforderlich.


Entscheidung

823. BGH 5 StR 67/21 – Beschluss vom 24. Juni 2021 (LG Berlin)

Verwertbarkeit einer ohne Anwesenheit des Angeklagten durchgeführten ermittlungsrichterlichen Vernehmung zu einem Thema der laufenden Hauptverhandlung (Zuständigkeit; Eilbedürftigkeit; Nachermittlung zur Sache durch die Staatsanwaltschaft; qualifizierte Belehrung; Verwertungsverbot); Konfrontationsrecht.

§ 162 StPO; § 168c StPO; Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. d EMRK

1. Die ermittlungsrichterliche Vernehmung zu einem Thema der bereits laufenden Hauptverhandlung kann insbesondere bei gegebener Eilbedürftigkeit zulässig sein. Gerade in Fällen von häuslicher Gewalt gegen die Zeugin ist eine Aussagebereitschaft häufig nur situativ vorhanden, was schnelles Handeln unter Einschaltung des Ermittlungsrichters zur Beweissicherung erfordern kann.

2. Wegen eines Verstoßes gegen § 168c StPO fehlerhaft zustande gekommene richterliche Vernehmungen – hier beim Ermittlungsrichter – dürfen als nichtrichterliche Vernehmung in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Dabei ist – unter Beachtung der §§ 250 ff. StPO – nicht nur die Verlesung derartiger Vernehmungsprotokolle möglich, sondern erst recht können Vernehmungspersonen über den Inhalt der Vernehmung als Zeugen gehört werden. Nichts anderes gilt für die Vernehmung der Aussageperson selbst, sofern sie als Zeugin über den Inhalt ihrer früheren Vernehmung berichtet.


Entscheidung

834. BGH 5 StR 377/20 – Urteil vom 10. Juni 2021 (LG Dresden)

Verwertbarkeit von Erkenntnissen einer gefahrenabwehrrechtlich zulässigen Durchsuchung im Strafverfahren (Gemengelage; doppelfunktionale Maßnahme; kein Vorrangverhältnis zwischen Strafprozessordnung und Gefahrenabwehrrecht; rechtsmissbräuchliche Umgehung der strafprozessualen Anordnungsvoraussetzungen); Beweiswürdigung (Überzeugungsbildung; Indiztatsachen; Gesamtwürdigung).

§ 103 StPO; § 161 StPO; § 163 StPO; § 261 StPO

1. Es besteht weder ein allgemeiner Vorrang der Strafprozessordnung gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht noch umgekehrt ein solcher des Gefahrenabwehrrechts gegenüber der Strafprozessordnung. Auch bei Vorliegen eines Anfangsverdachts einer Straftat ist ein Rückgriff auf präventivpolizeiliche Ermächtigungsgrundlagen rechtlich möglich. Insbesondere bei sogenannten Gemengelagen, in denen die Polizei sowohl repressiv als auch präventiv handeln kann und will, bleiben strafprozessuale und gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen grundsätzlich nebeneinander anwendbar.

2. Erkenntnisse aus einer gefahrenabwehrrechtlich zulässigen Durchsuchung können auch im Strafverfahren verwendet werden. Etwas Anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn die Voraussetzungen einer rechtsmissbräuchlichen Umgehung der strafprozessualen Anordnungsvoraussetzungen unter dem Deckmantel einer tatsächlich nicht bezweckten Gefahrenabwehr gegeben sind.

3. Die tatrichterliche Beweiswürdigung ist sachlich-rechtlich fehlerhaft, wenn sich das Tatgericht darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen. Erst eine solche Gesamtwürdigung entscheidet letztlich darüber, ob das Gericht die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt.

4. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtschau dem Tatgericht die entsprechende Überzeugung vermitteln. Beweisanzeichen können nämlich wegen ihrer Häufung und gegenseitigen Durchdringung die Überzeugung von der Richtigkeit eines Vorwurfs begründen. Der Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich zudem regelmäßig erst aus dem Zusammenhang mit anderen Indizien, weshalb der Inbezugsetzung der Indizien zueinander im Rahmen der Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt.


Entscheidung

841. BGH StB 24/21 – Beschluss vom 15. Juni 2021 (OLG Celle)


Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Pflichtverteidiger und Angeklagtem (verständiger Angeklagter; Kontakt zu inhaftiertem Mandanten; Meinungsverschiedenheiten; Pflichtverletzung).

§ 143a Abs. 2 StPO

1. Eine Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Angeklagten i.S.d. § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Var. 1 StPO ist aus Sicht eines verständigen Angeklagten zu beurteilen und von diesem oder seinem Verteidiger substantiiert darzulegen. Insoweit kann zwar von Bedeutung sein, wenn ein Pflichtverteidiger zu seinem inhaftierten Mandanten über einen längeren Zeitraum überhaupt nicht in Verbindung tritt. Allerdings liegt es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Verteidigers, in welchem Umfang und auf welche Weise er mit dem Beschuldigten Kontakt hält. Die unverzichtbaren Mindeststandards müssen jedenfalls gewahrt sein.

2. Bloße Differenzen zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Angeklagten über die Verteidigungsstrategie rechtfertigen für sich genommen die Entpflichtung nicht. Etwas Anderes kann mit der Folge einer endgültigen und nachhaltigen Erschütterung des Vertrauensverhältnisses allenfalls gelten, wenn solche Meinungsverschiedenheiten über das grundlegende Verteidigungskonzept nicht behoben werden können und der Verteidiger sich etwa wegen der Ablehnung seines Rats außerstande erklärt, die Verteidigung des Angeklagten sachgemäß zu führen.


Entscheidung

842. BGH StB 25 und 26/21 – Beschluss vom 16. Juni 2021 (OLG Düsseldorf)

Geschäftsverteilungsplan (gesetzlicher Richter; generell-abstrakte Regelung; pflichtgemäßes Ermessen; Willkürkontrolle; Turnus- oder Rotationsprinzip; Missbrauchsgefahr; Staatsschutzsachen; Evokationsbefugnis des Generalbundesanwalts).

Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG; § 21e GVG; § 222b StPO

1. Eine Regelung im Geschäftsverteilungsplan, bei der die Zuständigkeit der Spruchkörper mit dem Kriterium der zeitlichen Reihenfolge des Eingangs beim Gericht verknüpft wird (sog. sogenanntes Turnus- oder Rotationsprinzip), genügt grundsätzlich den aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG folgenden Anforderungen an eine generell-abstrakte Regelung der Geschäftsverteilung.

2. Zwar ist das Turnussystem nicht völlig frei von der Möglichkeit missbräuchlicher Eingriffe; eine Verteilung, die schlechthin jeden potentiellen Einfluss ausschließt und dennoch praktikabel ist, ist allerdings kaum vorstellbar. Den Erfordernissen des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist deshalb Genüge getan, wenn sachfremde Einflüsse der Justizverwaltung oder der Staatsanwaltschaft nach dem Verteilungsmodus nicht ernsthaft zu befürchten sind. Denn allein die abstrakte Möglichkeit eines Missbrauchs macht eine Geschäftsverteilung weder verfassungs- noch gesetzeswidrig.

3. Staatsschutzverfahren erfordern regelmäßig einen hohen zeitlichen Aufwand in der richterlichen Bearbeitung. Eine generell-abstrakte Verteilung der Sachen nicht nach dem Turnusprinzip, sondern nach anderen Kriterien, etwa dem Anfangsbuchstaben des Namens des ältesten Angeklagten, birgt in diesen Fällen die Gefahr der ungleichmäßigen Beanspruchung der Spruchkörper, der damit einhergehenden Überlastung einzelner von ihnen und der notwendigen unterjährigen Änderung der Geschäftsverteilung. Das Turnusprinzip stellt dagegen den generell-abstrakten Verteilungsmodus dar, der bestmöglich die gleichmäßige Zuweisung der Geschäfte gewährleistet. Auch die Einrichtung eines speziellen Turnus für Verfahren, in denen der Generalbundesanwalt die Anklage erhebt, kann insofern sachgerecht sein.

4. Es liegt im pflichtgemäßen Ermessen eines Gerichtspräsidiums, nach welchem System es die Geschäfte verteilt. Zwischen verschiedenen Möglichkeiten der generell-abstrakten Verteilung der Verfahren kann es auswählen. Ziel muss es sein, für eine optimale Erledigung der anfallenden Rechtsprechungsaufgaben zu sorgen und die Effizienz des Geschäftsablaufs zu gewährleisten. Die Geschäfte sind möglichst gleichmäßig zu verteilen, um unterjährigen Änderungen (§ 21e Abs. 3 GVG) wegen Überlastung eines Spruchkörpers von vornherein vorzubeugen.

5. Soweit das Präsidium die richterlichen Aufgaben im pflichtgemäßen Ermessen verteilt, ist ihm ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum eingeräumt. Dieser ist erst überschritten, wenn für die Entscheidungen kein sachlicher Grund ersichtlich ist und die Verteilung der Geschäfte maßgeblich durch sachfremde Erwägungen geprägt, also die Grenze zur objektiven Willkür überschritten ist. Ein Jahresgeschäftsverteilungsplan ist insoweit nur einer beschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich, die sich nicht darauf zu erstrecken hat, ob sich die getroffene Regelung als die zweckmäßigste darstellt oder sich bessere Alternativen angeboten hätten (vgl. demgegenüber zum Prüfungsmaßstab in Fällen der unterjährigen Änderung eines Geschäftsverteilungsplans nach § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG zuletzt BGH HRRS 2021 Nr. 666).


Entscheidung

854. BGH 2 StR 452/20 – Beschluss vom 12. Mai 2021 (LG Aachen)

Zuständigkeitsänderung vor der Hauptverhandlung (Verweisung der Sache an das zuständige Gericht bei fehlendem Übernahmebeschluss); Einziehung von Tatmitteln (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte: mitgeführte Waffe); verminderte Schuldfähigkeit (Beweiswürdigung); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 225a Abs. 1 Satz 2 StPO; § 74 StGB; § 113 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB

1. Das Fehlen eines wirksamen, den Anforderungen des § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechenden schriftlichen Übernahmebeschlusses führt nicht zu einer Einstellung des Verfahrens, sondern zu einer Verweisung der Sache an das zuständige Gericht.

2. Der besonders schwere Fall des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB setzt nicht (mehr) voraus, dass der Täter die Waffe verwendet oder in Verwendungsabsicht bei sich

führt, allein das Mitführen der Waffe macht diese aber nicht zum Tatmittel im Sinne des § 74 StGB.


Entscheidung

898. BGH 4 StR 597/19 – Beschluss vom 9. November 2020 (LG Detmold)

Durchbrechung der Rechtskraft (keine Aufhebung eines lediglich versehentlich auf einer unzutreffenden tatsächlichen Grundlage ergangenen Senatsbeschlusses).

§ 349 Abs. 2, 4 und 5 StPO; § 356a StPO

1. Zur Ablehnung einer ausnahmsweisen Durchbrechung der formellen bzw. materiellen Rechtskraft einer Revisionsentscheidung, wenn eine Senatsentscheidung zwar auf einer tatsächlich falschen Grundlage ergangen ist, dies aber nicht Folge einer unvollständigen oder falschen Aktenlage war, sondern auf einem Versehen beruhte.

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Entscheidungen des Revisionsgerichts grundsätzlich weder aufgehoben noch abgeändert werden. Das gilt nicht nur für nach § 349 Abs. 2 StPO ergangene Beschlüsse über die Verwerfung der Revision, durch die das Verfahren wie durch ein Verwerfungsurteil nach § 349 Abs. 5 StPO rechtskräftig abgeschlossen wird, sondern auch für einen nach § 349 Abs. 4 StPO gefassten Beschluss, mit dem die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Tatgericht zurückverwiesen wird und der deshalb lediglich formelle Rechtskraft erlangt. Ein Bedürfnis der Rechtspflege und der Allgemeinheit nach Rechtssicherheit verbietet es auch im Revisionsverfahren, einen Eingriff in die Rechtskraft einer gerichtlichen Sachentscheidung zuzulassen, es sei denn, die Voraussetzungen der speziell für diesen Verfahrensabschnitt geltenden Ausnahmevorschrift des § 356a StPO wären erfüllt, wonach die Entscheidung des Revisionsgerichts unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zustande gekommen ist.

3. Die Rechtsprechung hat eine Korrektur einer formell bzw. materiell rechtskräftigen Revisionsentscheidung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zugelassen (bei irrtümlicher Annahme der Mitwirkung eines funktionell unzuständigen Urkundsbeamten bei Anbringung der Revisionsanträge; bei fehlender Kenntnis des Revisionsgerichts von der Revisionsrücknahme und der Entscheidung des Landgerichts über die Kostenfolge, die den dem Revisionssenat vorgelegten Akten nicht beigefügt waren; bei Verursachung des Irrtums des Revisionsgerichts über ein Verfahrenshindernis durch eine dem Angeklagten zuzurechnende Täuschung; zur Verfahrenseinstellung nach nachträglich bekannt gewordenem Tod des Beschwerdeführers).


Entscheidung

901. BGH 4 StR 654/19 – Beschluss vom 17. Mai 2021

Verteidigerwechsel (Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers: endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Verteidiger und Beschuldigtem).

§ 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO

1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nur aufzuheben, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigten endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Eine ernsthafte Störung des Vertrauensverhältnisses muss der Angeklagte substantiiert darlegen. Pauschale, nicht näher belegte Vorwürfe rechtfertigen eine Entpflichtung nicht. Ein wichtiger Grund wird eher fernliegen oder gar ausgeschlossen sein, wenn die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses vom Beschuldigten schuldhaft herbeigeführt wurde.

2. Die Möglichkeit, die Organe der Justiz unter Einschluss des Pflichtverteidigers zu verunglimpfen und diesen mit offensichtlich unbegründeten Forderungen gerichtlich zu verfolgen, steht jedem Angeklagten faktisch unbegrenzt zur Verfügung. Könnte er damit die Auswechslung eines Verteidigers erzwingen, könnte er ein Verfahren ohne sachlichen Grund nahezu beliebig verzögern und blockieren.


Entscheidung

897. BGH 4 StR 550/20 – Beschluss vom 26. Mai 2021 (LG Detmold)

Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage (Ausschluss der Annahme einer anderweitigen Verteidigungsmöglichkeit).

§ 265 Abs. 1 StPO

Die Annahme einer anderweitigen Verteidigungsmöglichkeit kann im Einzelfall ausgeschlossen sein, wenn der unter Verletzung der Hinweispflicht ausgeurteilte Tatbestand von dem in der unverändert zugelassenen Anklage dem Angeklagten zur Last gelegten Tatbestand mit umfasst war und beide insoweit denselben Tatvorwurf betreffen.


Entscheidung

877. BGH 2 StR 383/20 – Beschluss vom 30. März 2021 (LG Frankfurt am Main)

Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten (Verstoß gegen die Belehrungspflicht; Beruhen des Urteils auf diesem Verstoß: Ursächlichkeit des Belehrungsfehlers für das Geständnis).

§ 257c StPO; § 337 Abs. 1 StPO

1. Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen nach § 257c Abs. 5 StPO über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist.

2. Zur Ursächlichkeit des Belehrungsfehlers für das Geständnis in dem Fall, dass die Angeklagten noch vor Abgabe ihrer Geständnisse belehrt worden sind.


Entscheidung

859. BGH 2 BGs 645/20 – Beschluss vom 28. August 2020 (Ermittlungsrichter)

Durchsetzung der Aussage- und Erscheinenspflicht eines Zeugen durch die Staatsanwaltschaft (Zwangsmittel; Annexkompetenz bei dem Ausbleiben eines Zeugens: Richtervorbehalt, Ordnungs- und Erzwingungshaft, Anordnung der zwangsweisen Öffnung und des Betretens einer Wohnung, Ergänzung einer staatsanwaltschaftlich angeordneten Vorführung).

Art. 104 Abs. 2 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 51 Abs. 1 Satz 3 StPO

1. Es obliegt im Vorverfahren grundsätzlich der Staatsanwaltschaft, die auf ihrem Auftrag und auf einer wirksamen polizeilichen Ladung beruhende Aussage- und Erscheinenspflicht eines Zeugen durchzusetzen. Hierzu stehen ihr nach § 163 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 Hs. 1 StPO grundsätzlich die Zwangsmittel nach §§ 51, 70 StPO zur Verfügung. Die Staatsanwaltschaft kann daher die zwangsweise Vorführung eines Zeugen selbst anordnen und vollstrecken; die damit verbundene Freiheitsbeschränkung erweist sich nicht als eine nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG nur dem Richter vorbehaltene Freiheitsentziehung, sondern darf auch durch eine Behörde angeordnet werden, wenn dies gesetzlich für zulässig erklärt worden ist.

2. Soll zur Durchsetzung von Aussage- und Erscheinenspflicht im Wege einer zwangsweisen Vorführung (§ 51 Abs. 1 Satz 3 StPO) in Rechtspositionen des Zeugen eingegriffen werden, die von Verfassungs wegen dem Richter vorbehalten sind, so ist für die Anordnung eines solchen – von der Norm als Annexkompetenz erfassten – Zwangsmittels der Ermittlungsrichter zuständig (§ 162 StPO).

3. Dies gilt etwa mit Blick auf Art. 104 Abs. 2 GG für die Anordnung von Ordnungs- oder Erzwingungshaft und wegen Art. 13 Abs. 2 GG auch für die zur Vollstreckung einer zwangsweisen Vorführung gegebenenfalls notwendige Gestattung des Öffnens und Betretens einer Wohnung.

4. Eine auf die Annexkompetenz des § 51 Abs. 1 Satz 3 StPO gestützte richterliche Anordnung der zwangsweisen Öffnung und des Betretens der Wohnung des Zeugen kann auch eine staatsanwaltschaftlich angeordnete Vorführung zu ihren Ermittlungspersonen nach § 163 Abs. 3 StPO ergänzen.


Entscheidung

858. BGH 2 BGs 619/20 – Beschluss vom 14. September 2020 (Ermittlungsrichter)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung (Statthaftigkeit bei einem Verteidigerwechsel); Verteidigerwechsel (Frist: keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; zeitliche Beschränkung).

§ 44 StPO; § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO

1. In die Erklärungsfrist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO findet eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Maßgabe des § 44 Satz 1 StPO nicht statt.

2. An der zeitlich uneingeschränkten prozessualen Befugnis, einen Verteidigerwechsel zu erwirken, ändern auch die Maßgaben des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128) nichts. Allein eine auf § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO gestützte Auswechselung ist nach dem gesetzgeberischen Willen zeitlich beschränkt möglich; alle anderen geregelten Gründe für den Verteidigerwechsel bestehen unbeschadet dessen fort.


Entscheidung

786. BGH 1 StR 314/20 – Beschluss vom 7. Juni 2021 (LG Frankfurt a. M.)

Unterbrechung der Verjährung (Unterbrechungswirkung eines Durchsuchungsbeschlusses für mehrere Einzeltaten); Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (Verjährungsbeginn).

§ 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB; § 266a Abs. 1 StGB; § 78a Satz 1 StGB

Insbesondere in Wirtschaftsstrafverfahren, die durch eine Tatserie geprägt sind, kann es zur durch einen Durchsuchungsbeschluss herbeigeführten Unterbrechungswirkung bezüglich mehrerer verfolgter prozessualer Taten ausreichen, wenn in einem frühen Ermittlungsstadium der Tatverdacht, dessen Einzelheiten die Ermittlungen noch klären müssen, weiter gefasst ist, die Einzeltaten aber unter zusammenfassenden kennzeichnenden Merkmalen bestimmbar sind. Für die Bestimmung des Verfolgungswillens der Strafverfolgungsorgane ist maßgeblich, was mit der jeweiligen richterlichen Handlung bezweckt wird.


Entscheidung

821. BGH 5 StR 53/21 – Beschluss vom 22. Juni 2021 (LG Berlin)

Anforderungen an das Revisionsvorbringen (Erkundigungspflicht des neuen Verteidigers nach Verteidigerwechsel).

§ 344 Abs. 2 StPO

Wird die Revision nach einem Verteidigerwechsel mit behaupteten Rechtsverletzungen (hier: bzgl. § 257c StPO) begründet, für deren Vortrag es auf den Inhalt von Vier-Augen-Gesprächen zwischen dem vorigen Verteidiger und dritten Personen ankommt, trifft den neuen Verteidiger eine Erkundigungspflicht. Der Revisionsführer kann sich insofern regelmäßig nicht darauf berufen, dass ihm Vortrag zu solchen Vorgängen nicht möglich ist.