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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2021
22. Jahrgang
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1. Die allgemeine Begründungslast des § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG verlangt von einem Beschwerdeführer im Zweifelsfall die schlüssige Darlegung, dass die einmonatige Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde eingehalten ist. (BVerfG)
2. In Strafsachen werden Entscheidungen regelmäßig sowohl dem Verteidiger als auch dem Beschuldigten bekanntgegeben. Daher ist substantiierter Vortrag zu allen Zugangszeitpunkten – oder die Klarstellung, dass
der Beschluss nur einem der Beteiligten bekanntgegeben wurde – jedenfalls dann erforderlich, wenn sich die Einhaltung der Monatsfrist nicht ohne Weiteres aus den vorgelegten Unterlagen ergibt. Die Regelung des § 37 Abs. 2 StPO findet im verfassungsgerichtlichen Verfahren keine Anwendung. (BVerfG)
3. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Anordnung nach § 81g Abs. 1 Satz 1 StPO. (BVerfG)
4. Die Anordnung einer DNA-Untersuchung aus Anlass einer Verurteilung wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge erfüllt mit Blick auf die Erwartung künftiger Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung nicht die verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen, wenn das Gericht nicht gewürdigt hat, dass die Anlasstat zur Zeit der Prognoseentscheidung bereits sechs Jahre zurücklag und dass das erkennende Gericht die Vollstreckung der gegen den geständigen und zuvor unbestraften Verurteilten verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt hat. (Bearbeiter)
5. Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greift in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieses darf (nur) im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, soweit dies zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist. Bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO haben die Gerichte Bedeutung und Tragweite des Grundrechts angemessen zu berücksichtigen. (Bearbeiter)
6. Die Anordnung einer Maßnahme nach § 81g StPO setzt voraus, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Bei milden Strafen oder einer Strafaussetzung zur Bewährung muss sich die Entscheidung in einer einzelfallbezogenen Prüfung damit auseinandersetzen, weshalb die Anlasstat erheblich ist. (Bearbeiter)
7. Die bedeutsamen Umstände für die Prognose, gegen den Betroffenen würden erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein, müssen auf einer zureichenden Sachaufklärung beruhen und sind in der Anordnungsentscheidung einzelfallbezogen darzustellen und abzuwägen. Die Entscheidung muss sich auf schlüssige, verwertbare und nachvollziehbar dokumentierte Tatsachen stützen; die bloße Bezugnahme auf den Gesetzeswortlaut reicht nicht aus. (Bearbeiter)
8. Ein erhöhter Begründungsbedarf besteht regelmäßig dann, wenn eine Maßnahme nach § 81g StPO angeordnet werden soll, obwohl dem Verurteilten im Rahmen einer Bewährungsentscheidung eine günstige Prognose gestellt worden ist. Zwar entfaltet die Strafaussetzung angesichts des unterschiedlichen Prognosemaßstabs keine Bindungswirkung; erforderlich ist in solchen Fällen jedoch immer eine Auseinandersetzung mit sämtlichen prognoserelevanten Umständen. (Bearbeiter)
9. Da für eine Anordnung nach § 81g Abs. 1 Satz 1 StPO bereits der Verdacht einer Straftat ausreicht, darf sich die Einordnung als Straftat von erheblicher Bedeutung auch auf Erkenntnisse zu einer Tat stützen, bezüglich derer das Verfahren unter Opportunitätsgesichtspunkten eingestellt wurde. In einem solchen Fall genügt eine gegen die Anordnung gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht den Darlegungsanforderungen, wenn der Beschwerdeführer es versäumt, die Tat und die Ermittlungserkenntnisse – etwa durch Vorlage und Aufbereitung der Anklageschrift – vorzutragen und substantiiert in Zweifel zu ziehen. (Bearbeiter)
1. Die auf den Tatbestand des Betruges gestützte Verurteilung eines Arztes und eines Apothekers, die sich entgegen § 95 Abs. 1a SGB V und unter Einsatz eines Strohmannes als Gesellschafter an einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) beteiligt und über dieses ordnungsgemäß erbrachte ärztliche Leistungen und verordnete Medikamente gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung und einer Krankenkasse abgerechnet hatten, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. Wegen der für eine Strafbarkeit erforderlichen irrtumsbedingten Auszahlung des Abrechnungsbetrages droht keine Verschleifung von Täuschungshandlung und Schaden. Ebenso wenig wird der Betrugstatbestand entgrenzt; denn dass für die wirtschaftliche Bewertung eines Zahlungsvorganges auch die sozial- und zivilrechtlichen Rahmenbedingungen maßgeblich sind, stellt kein Spezifikum der kassenärztlichen Abrechnung dar, sondern spiegelt lediglich wieder, dass erst die Anerkennung einer Forderung durch die Rechtsordnung dieser in einem Rechtsstaat wirtschaftlichen Wert verleiht.
3. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 95 Abs. 1a SGB V ist für die Strafbarkeit wegen Betruges bedeutungslos, weil die Strafnorm nicht an die Missachtung der außerstrafrechtlichen Norm anknüpft. Strafbar ist nicht die unzulässige Beteiligung an dem MVZ als solche; vielmehr führt diese lediglich dazu, dass ein Vergütungsanspruch gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung und den gesetzlichen Krankenkassen nicht besteht.
4. Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verbietet es, einzelne Tatbestandsmerkmale auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns so weit auszulegen, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen).
5. Für den Betrugstatbestand bedeutet dies, dass das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens die Strafbarkeit begrenzt und § 263 Abs. 1 StGB als Vermögens- und Erfolgsdelikt kennzeichnet. Verlustwahrscheinlichkeiten dürfen daher nicht so diffus sein oder sich in so niedrigen Bereichen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens ungewiss bleibt. Von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen abgesehen muss der Vermögensschaden der Höhe nach beziffert und dies in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen dargelegt werden. Bestehen Unsicherheiten, so kann ein Mindestschaden im Wege einer tragfähigen Schätzung ermittelt werden. Normative Gesichtspunkte können bei der Bewertung von Schäden eine Rolle spielen; sie dürfen die wirtschaftliche Betrachtung allerdings nicht überlagern oder verdrängen.
1. Eine Strafvollstreckungskammer verkürzt die durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Rechtsschutzmöglichkeit im Eilrechtsschutzverfahren in nicht zu vertretender Weise, wenn sie den rechtzeitig gestellten Eilantrag eines Strafgefangenen auf Bewilligung eines Langzeitbesuchs seiner Ehefrau anlässlich seines Geburtstages der Justizvollzugsanstalt erst so spät zur Stellungnahme zuleitet und dabei eine derart lange Frist setzt, dass ihr eine Sachentscheidung nicht mehr möglich ist, bevor sich das Anliegen durch Zeitablauf erledigt hat.
2. Die Entscheidung beruht jedoch nicht auf diesem Verstoß, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht hätte ergehen können, weil sie in unzulässiger Weise die Hauptsache vorweggenommen hätte und weil ein Anordnungsanspruch nicht besteht. Hiervon ist auszugehen, wenn sich die auf den Schutz der Anstaltsbediensteten und der Mitgefangenen vor einer Infektion mit dem Corona-Virus gestützte Versagung des Langzeitbesuchs beziehungsweise des ebenfalls beantragten Besuchs ohne Trennscheibe im Einzelfall als rechtmäßig erweist.
Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Rumänien für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Grundrecht des Verfolgten aus Art. 4 GRCh und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht im Einzelfall nicht hinreichend aufgeklärt hat, ob der Verfolgte nach seiner Überstellung in einer rumänischen Haftanstalt einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, und wenn es keine eigene Gefahrenprognose angestellt hat, um die Belastbarkeit einer – die Haftbedingungen ohnehin nur teilweise erfassenden – Zusicherung der rumänischen Behörden einschätzen zu können.