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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2021
22. Jahrgang
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1. Der Versuch des Einschleusens von Ausländern in der Tatbestandsvariante des Hilfeleistens erfordert in subjektiver Hinsicht, dass der Vorsatz des Schleusers auf die Förderung einer in ihren wesentlichen Merkmalen oder Grundzügen konkretisierten Bezugstat im Sinne des § 96
Abs. 1 AufenthG gerichtet ist. Die objektiven Voraussetzungen des Versuchs sind erfüllt, wenn der Täter eine Handlung vornimmt, mit der er nach seiner Vorstellung unmittelbar zur Förderung der präsumtiven Bezugstat ansetzt, wobei allerdings eine wertende Konkretisierung geboten ist. Maßgebend ist dabei, wie weit sich der Täter bereits dem von ihm anvisierten Unterstützungserfolg angenähert und durch sein Handeln eine Gefahr für das betroffene Rechtsgut geschaffen hat.
2. Danach stellt es lediglich eine straflose Vorbereitungshandlung zum Einschleusen von Ausländern dar, wenn der Täter unter Täuschung über seine Identität an Prüfungen für ein Sprachzertifikat teilnimmt, damit der jeweilige Auftraggeber das auf seinen Namen ausgestellte Zertifikat in der Folge der zuständigen Behörde vorlegen und diese so zum Erlass des gewünschten ausländerrechtlichen Verwaltungsakts veranlassen kann.
1. Die Grundsätze des Versuchsbeginns gelten auch für die Prüfung des Versuchsbeginns bei Qualifikationstatbeständen oder Tatbeständen mit Regelbeispielen. Maßgeblich ist insoweit, ob das Verhalten des Täters nach seinem Tatplan in ungestörtem Fortgang ohne weitere Zwischenschritte zur Verwirklichung des Grunddelikts führen soll. Das kann auch in diesen Fällen bereits gegeben sein, bevor der Täter beginnt, die tatbestandliche Ausführungshandlung vorzunehmen; es kann genügen, dass er im Begriff ist, ein qualifizierendes Merkmal oder ein Regelbeispiel zu verwirklichen. Für den Versuchsbeginn kommt es den allgemeinen Grundsätzen entsprechend darauf an, ob das geschützte Rechtsgut aus Sicht des Täters schon dadurch konkret gefährdet wird, weil sein Handeln nach seinem Tatplan in die Tatbestandsverwirklichung münden soll, ohne dass es eines neuen Willensimpulses bedarf.
2. Das ist beim Wohnungseinbruchdiebstahl regelmäßig der Fall, wenn der Täter beim Beginn des Einbrechens, Einsteigens oder Eindringens im Sinne von § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB beabsichtigt, sich in direktem Anschluss daran in die Wohnung zu begeben und daraus stehlenswerte Gegenstände zu entwenden. Er setzt dann bereits dadurch nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar an.
1. Für die Frage eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit kommt es maßgeblich darauf an, in welcher Weise sich die festgestellte und unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumierende psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation ausgewirkt hat. Die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit kann daher – von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen – nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Tat erfolgen. Beurteilungsgrundlage ist dabei das jeweilige konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass zur Tat, die Motivlage des Angeklagten und sein Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können.
2. Die Tatrelevanz der Störung darf regelmäßig nicht offenbleiben.
3. Die individuelle Gefährlichkeitsprognose bedarf über die Anwendung standardisierter Prognoseinstrumente hinaus einer differenzierten Einzelfallanalyse durch den Sachverständigen.
4. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um die notwendige Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Prognostisch muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.
1. Bei der Verordnung von häuslicher Krankenpflege gemäß § 37 Abs. 2 SGB V obliegt dem verordnenden Kassenarzt keine Betreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB hinsichtlich des Vermögens der gesetzlichen Krankenkassen (Abgrenzung zu BGH HRRS 2016 Nr. 974). (BGHR)
2. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Betreuungspflicht von Vertragsärzten für das Vermögen der gesetzlichen Krankenkassen im Fall der Verordnung von Heilmitteln nach § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB V bejaht. Gleiches hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch bei der Verordnung von Sprechstundenbedarf durch einen Vertragsarzt angenommen und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass es der verordnende Arzt insoweit in der Hand hat, die gesetzlichen Krankenkassen zu entsprechenden Zahlungen zu verpflichten, ohne dass diesen eine hinreichende Kontrollmöglichkeit zur Verfügung steht. (Bearbeiter)
3. Eine derartige die Annahme einer Vermögensbetreuungspflicht begründende Rechtsmacht kommt dem Vertragsarzt bei der Verordnung von häuslicher Krankenpflege gemäß § 37 Abs. 2 SGB V (Behandlungssicherungspflege) nicht zu, weil die gesetzlichen Krankenkassen über weiter gehende verfahrensrechtliche Kontrollmöglichkeiten verfügen und es deshalb nicht allein in der Hand des verordnenden Arztes liegt, ob es zu einer Leistungserbringung auf Kosten der Kassen kommt. (Bearbeiter)
4. Anders als bei Heilmitteln und beim ärztlichen Sprechstundenbedarf für Versicherte, bei denen der ärztlichen Verordnung keine Genehmigungsentscheidung der Krankenkasse nachfolgt, tritt der Leistungsfall bei der häuslichen Krankenpflege in formaler Hinsicht erst ein, wenn vor Leistungsbeginn eine Bewilligungsentscheidung der zuständigen gesetzlichen Krankenkasse ergeht. Zwar bedarf es neben einem Antrag des Versicherten auch hier einer entsprechenden kassenärztlichen Verordnung. An diese Verordnung ist die gesetzliche Krankenkasse aber nicht ohne weiteres gebunden. Hält sie einzelne verordnete Maßnahmen für nicht erforderlich, so hat sie hierüber eine gutachterliche Stellungnahme des medizinischen Dienstes einzuholen. (Bearbeiter)
5. Nach § 266 Abs. 1 StGB macht sich in beiden Alternativen nur strafbar, wer gegen eine ihm obliegende Vermögensbetreuungspflicht verstößt und hierdurch dem Vermögen des Treugebers einen Nachteil zufügt. Als Grundlage für eine solche Verpflichtung kommen nur Rechtsbeziehungen vertraglicher oder gesetzlicher Art in Betracht, bei denen die Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen inhaltlich besonders herausgehoben ist und über die allgemeine Pflicht hinausgeht, auf die Vermögensinteressen von Vertragspartnern oder anderen Personen Rücksicht zu nehmen, auf deren materielle Güter eine tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit besteht. Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung, bei der unter anderem in Betracht zu ziehen ist, ob es sich bei der in Rede stehenden Verpflichtung, auf fremde Vermögensinteressen Rücksicht zu nehmen, um eine Hauptpflicht handelt, inwieweit dem Täter die ihm übertragene Tätigkeit durch ins Einzelne gehende Weisungen vorgezeichnet ist und in welchem Umfang Raum für eigenverantwortliche Entscheidungen besteht. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, welche Kontrollmöglichkeiten dem Treugeber verbleiben, inwieweit den Entscheidungen des Täters eine bindende Wirkung zukommt und in welchem Ausmaß es ihm möglich ist, ohne eine gleichzeitige Steuerung und Überwachung durch den Treugeber auf dessen Vermögen zuzugreifen. (Bearbeiter)
1. In Fällen, in denen nicht festgestellt werden kann, wer von beiden Elternteilen das gemeinsame Kind im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB quälte oder roh misshandelte, kommt in Anwendung des Zweifelssatzes eine Strafbarkeit wegen Unterlassungstäterschaft des anderen Elternteils in Betracht.
2. Zu einem Verstoß gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“ bei der Begründung einer Handlungspflicht beider angeklagter Elternteile, wenn die nicht sicher festgestellte, sondern in Anwendung des Zweifelssatzes zugunsten eines jeden Angeklagten nur unterstellte Tatsache, der jeweils andere habe den Säugling in der Vergangenheit gequält und roh misshandelt, erst die Strafbarkeit wegen
Unterlassens begründet und daher nicht zugunsten, sondern zulasten der Angeklagten wirkt.
3. Quälen, rohes Misshandeln und die böswillige Vernachlässigung der Fürsorgepflicht sind selbstständige Begehungsformen der Misshandlung von Schutzbefohlenen gemäß § 225 Abs. 1 StGB. Die Tatalternativen des Quälens und des rohen Misshandelns können jeweils durch aktives Tun oder durch pflichtwidriges Unterlassen verwirklicht werden. Bei der Tatalternative der Gesundheitsschädigung durch böswillige Vernachlässigung der Fürsorgepflicht handelt es sich um ein echtes Unterlassungsdelikt.
4. Der Tatbestand des Quälens und rohen Misshandelns im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB kann auch dadurch verwirklicht werden, dass die gebotene ärztliche Hilfe durch die Eltern des Kindes nicht veranlasst wird. In subjektiver Hinsicht ist insoweit erforderlich, dass der Täter den Vorsatz hat, dem Opfer erhebliche Schmerzen oder Leiden zuzufügen, die über die typischen Auswirkungen hinausgehen, die mit der aktuellen Körperverletzungshandlung verbunden sind.
5. Der Tatbestand des § 225 Abs. 1 Alternative 3 StGB ist gegeben, wenn der Täter durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für die schutzbedürftige Person zu sorgen, diese an der Gesundheit schädigt. Böswillig im Sinne der Vorschrift handelt, wer seine Pflicht, für einen anderen zu sorgen, aus einem verwerflichen Beweggrund ? aus Bosheit, Lust an fremdem Leid, Hass oder aus Eigensucht ? vernachlässigt. Gleichgültigkeit, Abgestumpftheit, Schwäche oder Überforderung reichen hingegen in der Regel nicht aus. Bei der Prüfung der auf das tatbestandliche Unterlassen der unverzüglichen ärztlichen Vorstellung des Säuglings bezogenen Böswilligkeit sind die Motive des Täters zu erforschen und erforderlichenfalls auch psychopathologische Befunde wie Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen in den Blick zu nehmen.
Die billigend in Kauf genommene Auslöschung des Lebens eines Zufallsopfers wegen der Orientierung an einem gruppeninternen „Ehrenkodex“ ist keine verständliche Reaktion, sondern eine besonders verachtenswerte Form der Geringschätzung des personalen Eigenwerts des Opfers.
1. Für die Erfüllung des Heimtückemerkmals (§ 211 StGB) ausreichend ist, dass der mit Tötungsvorsatz handelnde Täter das Tatopfer im Vorbereitungsstadium der Tat unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit in eine Lage aufgehobener oder stark eingeschränkter Abwehrmöglichkeiten bringt und die so geschaffene Lage bis zur Tatausführung ununterbrochen fortbesteht. Wird das Tatopfer planmäßig in einen Hinterhalt gelockt oder ihm gezielt eine raffinierte Falle gestellt, kommt es daher nicht mehr darauf an, ob es zu Beginn der Tötungshandlung noch arglos war.
2. Das Revisionsgericht kann die tatrichterliche Beweiswürdigung nur auf Rechtsfehler hin überprüfen. Solche liegen in sachlich-rechtlicher Hinsicht vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht berücksichtigt worden sind, naheliegende Schlussfolgerungen nicht erörtert worden sind oder einzelne Beweisanzeichen nur isoliert bewertet worden sind und die gebotene umfassende und erschöpfende Gesamtwürdigung aller Beweisergebnisse unterblieben ist. Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung liegen ferner vor, wenn die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat.
3. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten eines Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat.
1. Siechtum im Sinne des 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB bezeichnet einen chronischen Krankheitszustand, der den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft zieht, ein Schwinden der körperlichen und geistigen Kräfte sowie allgemeine Hinfälligkeit zur Folge hat und dessen Heilung ausgeschlossen oder nicht absehbar ist.
2. Die Annahme einer körperlich schweren Misshandlung im Sinne des § 177 Abs. 8 Nr. 2 Buchst. a StGB setzt eine gravierende Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens voraus, bei der die körperliche Integrität des Opfers in einer Weise, die mit erheblichen Schmerzen verbunden ist, verletzt wird. Die insoweit zu stellenden Anforderungen dürfen nicht zu niedrig angesetzt werden, da das Qualifikationsmerkmal nach der gesetzlichen Unrechtsbewertung mit der Verursachung einer tatbedingten konkreten Todesgefahr im Sinne des § 177 Abs. 8 Nr. 2 Buchst. b StGB auf einer Stufe steht.
Voraussetzung für eine Bestrafung nach § 145a StGB ist, dass die Weisung, gegen die der Täter verstoßen hat, hinreichend bestimmt ist. Dies ist in den Urteilsgründen darzustellen. In Anbetracht des Gebots aus Art. 103 Abs. 2 GG und des Umstands, dass § 68b Abs. 2 StGB auch nicht strafbewehrte Weisungen zulässt, muss sich aus dem Führungsaufsichtsbeschluss selbst ergeben, dass es sich bei der Weisung, auf deren Verletzung die Verurteilung gestützt werden soll, um eine solche gemäß § 68b Abs. 1 StGB handelt, die nach § 145a Satz 1 StGB strafbewehrt ist. Dass eine Weisung strafbewehrt ist, muss in dem Führungsaufsichtsbeschluss unmissverständlich klargestellt sein.
1. Eine erhebliche Entwicklungsschädigung liegt dann vor, wenn der normale Ablauf des körperlichen oder seelischen Entwicklungsprozesses dauernd oder nachhaltig gestört ist. Der Tatbestand kann auch dann verwirklicht werden, wenn in der Person des Schutzbefohlenen bereits vor der Tat Schäden oder die Gefahr von Schäden im Sinne der Vorschrift bestanden haben. Zur Hervorrufung der hierfür vorausgesetzten Gefahren ist es dann aber erforderlich, dass die Tat die Gefahr verursacht, die bereits vorhandenen oder zu befürchtenden Schäden in erheblichem Maße zu vergrößern bzw. die wegen einer bereits gegebenen individuellen Schadensdisposition bestehenden Gefahren messbar zu steigern.
2. Handelt es sich um eine Unterlassungstat, so begründet der Täter die tatbestandlich vorausgesetzte konkrete Gefahr, wenn er deren Entstehen durch sein Eingreifen hätte abwenden können.
3. In subjektiver Hinsicht ist dazu (zumindest bedingter) Vorsatz erforderlich.