HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2020
21. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

9. BGH 5 StR 206/19 – Beschluss vom 26. September 2019 (HansOLG Hamburg)

BGHSt; keine wirksame Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch bei fehlendem Schuldspruch des Berufungsgerichts mit Feststellungen trotz unbeschränkt eingelegter Berufung; Divergenzvorlage.

§ 344 Abs. 1 StPO; § 318 StPO; § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG

1. Die Revision gegen ein Berufungsurteil kann nicht wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt werden, wenn das Berufungsgericht trotz unbeschränkt eingelegter Berufung keinen eigenen Schuldspruch mit den zugehörigen Feststellungen getroffen hat. Dies gilt auch, wenn es zu Unrecht von einer wirksamen Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen ist. (BGHSt)

2. Mit der Möglichkeit der Beschränkung des Rechtsmittels (§ 318 Satz 1, § 344 Abs. 1 StPO) hat der Gesetzgeber dem Rechtsmittelberechtigten zwar eine prozessuale Gestaltungsmacht eingeräumt, deren Ausübung im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren ist. Das Rechtsmittelgericht kann und darf deshalb grundsätzlich diejenigen Entscheidungsteile nicht nachprüfen, deren Nachprüfung von keiner Seite begehrt wird. (Bearbeiter)

3. Diese Dispositionsmacht des Rechtsmittelführers ist allerdings durch die Trennbarkeit des angegriffenen Entscheidungsteils vom übrigen Urteilsinhalt begrenzt. Die durch die Beschränkung des Rechtsmittels entstehenden Entscheidungsteile müssen auch nach ihrer Trennung einer selbständigen Prüfung und Beurteilung zugänglich sein. Denn die aus verschiedenen Erkenntnissen im Rahmen einer stufenweisen Erledigung zusammengefügte Entscheidung über den durch den Eröffnungsbeschluss definierten Prozessgegenstand muss frei von Widersprüchen sein. Infolgedessen ist etwa eine den Schuldspruch unberührt lassende isolierte Anfechtung des Strafausspruchs dem Grunde nach möglich, wohingegen eine

vom Strafausspruch losgelöste Anfechtung des Schuldspruchs ausgeschlossen ist. (Bearbeiter)

4. Daraus ergibt sich aber auch, dass über die Rechtsfolgen in einer hierauf beschränkten Revision nur dann entschieden werden kann, wenn ein rechtskräftiger Schuldspruch vorliegt. Fehlt es an einem rechtskräftigen Schuldspruch, ist dem Revisionsgericht die Nachprüfung des Rechtsfolgenausspruchs schon mangels eines vorgegebenen Strafrahmens nicht möglich, fehlt es an Feststellungen, kann das Revisionsgericht Art und Umfang der Schuld nicht im notwendigen Maße nachprüfen. (Bearbeiter)


Entscheidung

81. BGH 1 StR 393/19 – Beschluss vom 24. Oktober 2019 (LG Weiden i.d. OPf.)

Verbot der transnationalen Doppelbestrafung nach Art. 54 SDÜ (Begriff der rechtskräftigen Aburteilung: autonom unionsrechtliche Auslegung des Begriffs der gleichen Tat).

Art. 54 SDÜ; Art. 50 GRC

1. Eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne von Art. 54 SDÜ liegt vor, wenn die Sachentscheidung im Erstverfolgungsstaat nach dessen Recht endgültig und bindend ist mit der Folge, dass sie dort den sich aus dem Verbot der Doppelbestrafung ergebenden Schutz bewirkt (vgl. BGHSt 59, 120 Rn. 11).

2. Nach der für die nationalen Gerichte verbindlichen Auslegung des Art. 54 SDÜ durch den Gerichtshof der Europäischen Union gilt im Rahmen dieser Vorschrift ein im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen eigenständiger, autonom nach unionsrechtlichen Maßstäben auszulegender Tatbegriff. Maßgebendes Kriterium für die Anwendung des Art. 54 SDÜ ist danach die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Tatsachen. Die rechtliche Qualifizierung dieser Tatsachen, die geschützten rechtlichen Interessen oder sonstige materiellrechtliche Bewertungen, etwa ob die verschiedenen begangenen Delikte nach deutschem Recht im Verhältnis von Tateinheit oder Tatmehrheit stehen, sind unmaßgeblich. Eine Identität der Sachverhalte lässt sich indes nicht allein aus einem einheitlichen Vorsatz herleiten, sondern erfordert eine objektive Verbindung der zu beurteilenden Handlungen. Ob im konkreten Fall eine einheitliche Tat anzunehmen ist, obliegt der Beurteilung durch die zuständigen nationalen Gerichte.


Entscheidung

72. BGH 1 StR 162/19 – Beschluss vom 19. November 2019 (LG Chemnitz)

Abwesenheit des Angeklagten (Erörterung der Sach- und Rechtslage als wesentlicher Teil der Hauptverhandlung).

§ 338 Nr. 5 StPO § 257b StPO

Die Vorschrift des § 257b StPO erfasst schon nach ihrem Wortsinn alle möglichen Arten der Erörterung, die nicht notwendig zu einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO führen müssen.


Entscheidung

5. BGH 3 StR 170/19 – Urteil vom 17. Oktober 2019 (LG Düsseldorf)

Begriff der Tat im verfahrensrechtlichen Sinne (von der Anklage betroffener geschichtlicher Vorgang; Einheitlichkeit; Identität; unverwechselbares Geschehen; in der Hauptverhandlung zu Tage tretende Umstände; ursprüngliche Zuordnung eines Geschehens an einen anderen Täter).

§ 264 StPO

1. Der Begriff der Tat im verfahrensrechtlichen Sinne (vgl. § 264 StPO) umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; zur Tat als Prozessgegenstand gehört dabei nicht nur der Geschehensablauf, der dem Angeklagten in der Anklage zur Last gelegt worden ist, sondern darüber hinaus dessen gesamtes festgestelltes Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet.

2. Die Frage der Einheitlichkeit des Vorgangs beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalles auf der Grundlage des Ergebnisses der Hauptverhandlung und der darin durchgeführten Beweisaufnahme. In tatsächlicher Hinsicht hat das Gericht danach seine Untersuchung mithin auch auf diejenigen Tatumstände zu erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung zu Tage getreten sind (§ 264 Abs. 1 StPO); die Grenze dieser Verpflichtung ist erst erreicht, wenn das zugrundeliegende Geschehen vollständig verlassen und durch ein anderes ersetzt wird, mithin die Identität der von der Anklage bezeichneten Tat nicht mehr gewahrt ist.

3. Ohne Bedeutung ist insoweit allerdings, ob abweichende Umstände aus den Akten ersichtlich waren oder erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens bekannt geworden oder eingetreten sind, welche rechtliche Beurteilung die Tat in der zugelassenen Anklage gefunden hatte oder dass der Anklagevorwurf aufgrund der neuen Umstände in eine andere Richtung weist. Bedeutsam ist vielmehr, ob bestimmte Merkmale die Tat als ein einmaliges unverwechselbares Geschehen kennzeichnen, wobei insbesondere Ort und Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung und das Objekt, auf das sich der Vorgang bezieht, in den Blick zu nehmen sind, ohne dass ein Kriterium allein ausschlaggebend ist.

4. Maßgeblich ist zur Abgrenzung darauf abzustellen, ob die gleich gebliebenen Umstände den betreffenden Vorgang noch hinreichend individualisieren, folglich Zweifel an der Tatidentität und eine Verwechslungsgefahr mit anderen ähnlichen Taten ausschließen. Nach diesen Grundsätzen kann sich auch ein Geschehnis, das in der zugelassenen Anklage noch einem anderen Täter zugeordnet worden war, als Bestandteil der Tat des Angeklagten darstellen, über die das Gericht zu urteilen hat, jedenfalls, wenn es sich um ineinander übergehende, sich überschneidende Geschehensabläufe handelt.


Entscheidung

93. BGH 1 StR 545/18 – Beschluss vom 9. Oktober 2019 (LG Hamburg)

Belehrung über das Entfallen der Bindung des Gerichts an eine Verständigung (Belehrungspflicht bei Unterbreiten eines Verständigungsvorschlages: objektiver Maßstab, ob ein Verständigungsvorschlag vorliegt,

keine ausdrückliche Benennung erforderlich); Mitteilung über außerhalb der Hauptverhandlung geführte Verständigungsgespräche (Begriff der verständigungsbezogenen Erörterung).

§ 257c Abs. 1, Abs. 4, Abs. 5 StPO; § 243 Abs. 4 StPO

1. Der Vorsitzende hat den Angeklagten bei Unterbreitung eines Verständigungsvorschlages in der Hauptverhandlung über die in § 257c Abs. 4 StPO geregelte Möglichkeit eines Entfallens der Bindung des Gerichts an die Verständigung zu belehren. Ob ein Verständigungsvorschlag vorliegt, bestimmt sich nach dem sachlichen Gehalt der Gesprächsinhalte und ist nicht abhängig von der Einschätzung durch Vorsitzenden und Staatsanwalt. Steht der Sache nach eine Verständigung inmitten, ist die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Sicherungen nicht disponibel. Die Belehrungspflicht, mit der der Gesetzgeber die Fairness des Verständigungsverfahren und eine möglichst autonome Entscheidung des Angeklagten sichern wollte, wird nicht dadurch außer Kraft gesetzt, dass ein dem sachlichen Gehalt nach auf eine Verständigung zielender Vorschlag nicht als solcher benannt wird. Dies gilt zumal dann, wenn eine prozessual unzutreffende Einkleidung gewählt wird, um als unpraktikabel erachtete Vorschriften zum Schutz des Angeklagten zu umgehen.

2. Von einer verständigungsbezogenen Erörterung ist auszugehen, sobald bei im Vorfeld der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum stehen. Dies wiederum ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt. Abzugrenzen sind solche Erörterungen, bei denen ein Verfahrensergebnis einerseits und ein prozessuales Verhalten des Angeklagten andererseits in ein Gegenseitigkeitsverhältnis im Sinne von Leistung und Gegenleistung gesetzt werden, von sonstigen verfahrensfördernden Gesprächen, die nicht auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung abzielen.


Entscheidung

89. BGH 1 StR 480/19 – Beschluss vom 20. November 2019 (LG München I)

Grundsatz der Spezialität (keine Einbeziehung nicht erfasster Straftaten in eine Gesamtfreiheitsstrafe).

§ 83h Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 IRG; § 54 StGB; § 55 StGB

1. Die Nichtbeachtung des auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatzes bewirkt ein Vollstreckungshindernis. Eine wegen dieses Hindernisses nicht vollstreckbare Strafe darf nicht in eine Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen werden.

2. Die Ausnahmeregelung des § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG steht dem nicht entgegen. Nach dieser – ursprünglich für Geldstrafen vorgesehenen – Vorschrift entfällt die Spezialität nur, wenn die Strafverfolgung im konkreten Fall nicht zu einer Freiheitsbeschränkung führt.


Entscheidung

33. BGH 2 StR 300/19 – Beschluss vom 26. November 2019 (LG Rostock)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Fälle von „Aussage gegen Aussage“); Teileinstellung bei mehreren Taten (Berücksichtigung im Rahmen der Beweiswürdigung).

§ 261 StPO; § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob diesem bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist etwa dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist. Die Beweiswürdigung ist auch rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden. In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht oder die Beweislage in ähnlicher Weise besonders problematisch erscheint, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat. Erforderlich sind insbesondere eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Angaben, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben. Zwar ist der Tatrichter grundsätzlich nicht gehalten, im Urteil Zeugenaussagen in allen Einzelheiten wiederzugeben. Eine ausufernde Wiedergabe kann mitunter das Verständnis der Urteilsgründe sogar erschweren. Jedoch muss in Fällen mit problematischer Beweislage, bei denen es zuvörderst auf die Zeugenaussagen des mutmaßlichen Tatopfers ankommt, der entscheidende Teil der Aussagen in das Urteil aufgenommen werden, weil dem Revisionsgericht sonst die rechtliche Überprüfung nicht möglich ist.

2. Der Bundesgerichtshof verlangt auch dann, wenn der Vorwurf einer weiteren Tat nach § 154 StPO ausgeschieden wird, dessen Berücksichtigung im Rahmen der Beweiswürdigung, sofern der Grund für die Nichtverfolgung dieser Tat einen Einfluss auf die Gesamtwürdigung der Beweise zum verbleibenden Vorwurf haben kann. Erst recht bedarf es der näheren Erörterung, wenn der Vorwurf einer schwerer wiegenden Tat mit Indizbedeutung im Raum steht, die aus diesem Grund nicht nach § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt werden kann.


Entscheidung

59. BGH 4 StR 392/19 – Beschluss vom 6. November 2019 (LG Essen)

Strafantrag (Unterschrift des Antragstellers).

§ 158 Abs. 2 StPO

Zu seiner Wirksamkeit bedarf der Strafantrag der Schriftform (§ 158 Abs. 2 StPO). Das Schriftformerfordernis verlangt die Unterschrift des Antragstellers.


Entscheidung

16. BGH 2 StR 125/19 – Beschluss vom 12. November 2019 (LG Erfurt)

Einziehungs- und Adhäsionsausspruch (Kennzeichnung der Haftung als gesamtschuldnerisch im Urteilstenor).

§ 406 StPO

Der Kennzeichnung der Haftung als gesamtschuldnerisch im Urteilstenor bedarf es auch nach neuem Recht. Damit wird ermöglicht, dass den Beteiligten das aus der Tat Erlangte entzogen wird, aber zugleich verhindert, dass dies

mehrfach erfolgt. Die anteilige gesamtschuldnerische Haftung des Angeklagten hat der Senat im Tenor klargestellt; hierfür ist die Angabe eines Namens des jeweiligen Gesamtschuldners nicht erforderlich.


Entscheidung

38. BGH 2 StR 397/19 – Beschluss vom 22. Oktober 2019 (LG Stralsund)

Entscheidung über den Antrag im Strafurteil (Begründung des Feststellungsanspruchs).

§ 406 StPO

1. Auch der Feststellungsausspruch bedarf grundsätzlich einer – gegebenenfalls kurzen – Begründung mit Blick auf die Umstände des Einzelfalls, soweit sich der Ausspruch nicht ohne Weiteres aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe erklärt.

2. Verlangt der Geschädigte für erlittene Verletzungen ein Schmerzensgeld, so werden nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes davon alle Schadensfolgen erfasst, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar sind oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden können.