HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2020
21. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1. BVerfG 2 BvR 31/19, 2 BvR 886/19 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 20. November 2019 (LG Frankfurt am Main / AG Frankfurt am Main)

Wohnungsdurchsuchung und Auswertung sichergestellter Datenträger (Wohnungsgrundrecht; Anforderungen an den Tatverdacht; Besitz und Verbreitung jugendpornographischer Schriften; keine hinreichende Verdachtsgrundlage bei Versendung von Bilddateien einer bereits geschlechtsreifen Person ohne weitere Hinweise auf deren Alter; kein aktueller Auffindeverdacht bei einzelner, verjährter Verbreitungstat; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Verbot der Entgrenzung der Strafverfolgung; ausufernde Ermittlungsmaßnahmen wegen angenommener Störung der Sexualpräferenz; Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung; Eingriff durch richterliche Bestätigung der vorläufigen Sicherstellung von Datenträgern zum Zwecke der Durchsicht; Rechtfertigung nur bei Fortbestehen der Durchsuchungsvoraussetzungen).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 13 GG; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 102 StPO; § 110 StPO; § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB; § 184b StGB; § 184c StGB

1. Der Verdacht des Besitzes jugendpornographischer Schriften kann nicht allein darauf gestützt werden, dass der Beschuldigte Bilddateien versandt hat, die das Glied einer geschlechtsreifen männlichen Person zeigen; denn der körperliche Entwicklungsstand lässt dann ohne weitere – ausdrückliche oder kontextabhängige – Hinweise auf das Alter keine Rückschlüsse darauf zu, ob der Abgebildete noch jugendlich oder bereits erwachsen ist. Anderes gilt, soweit der Empfänger der Dateien Angaben macht, die einen Austausch von kinder- oder jugend-

pornographischem Material zwischen ihm und dem Beschuldigten möglich erscheinen lassen (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 23. Mai 2019 [= HRRS 2019 Nr. 728]).

2. Ein Auffindeverdacht hinsichtlich einer gegenwärtigen oder zumindest noch verfolgbaren Straftat nach § 184c StGB ist nicht ausreichend begründet, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen Besitz und ein Verbreiten jugendpornographischer Schriften nur für eine einzelne, lange zurückliegende Tat bestehen, hinsichtlich derer jedenfalls Verfolgungsverjährung eingetreten wäre, während die Gerichte mit Blick auf mögliche jüngere Taten lediglich davon ausgehen, nach allgemeiner Lebenserfahrung sei es untypisch, dass solche Delikte sich auf Einzelfälle beschränkten.

3. Rechtfertigte die nicht näher begründete Annahme einer dauerhaften Störung der Sexualpräferenz auch nach Jahren einen Anfangsverdacht für die Begehung von Straftaten nach §§ 184b, 184c StGB, so könnten gegen den Betroffenen über lange Zeiträume hinweg Ermittlungsmaßnahmen ohne das Hinzutreten weiterer Verdachtsmomente angeordnet werden, was auf eine unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht hinnehmbare weitreichende Entgrenzung der Strafverfolgung hinausliefe.

4. Notwendiger, aber auch in Anbetracht der Eingriffsintensität hinreichender Anlass für eine Wohnungsdurchsuchung ist der Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Der Verdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen und über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Die Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.

5. Dem mit einer Durchsuchung verbundenen erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss mit Blick auf den verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend und zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein und in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen.

6. Defizite in der Begründung des zugrundeliegenden Tatverdachts und der Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung können im Beschwerdeverfahren grundsätzlich nachgebessert werden.

7. Die richterliche Bestätigung der vorläufigen Sicherstellung von Datenträgern zum Zwecke der Durchsicht greift in das Grundrecht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung ein. Für die Rechtmäßigkeit des Eingriffs kommt es darauf an, ob im Zeitpunkt der fachgerichtlichen Entscheidung die Voraussetzungen für eine Durchsuchung noch erfüllt sind.


Entscheidung

2. BVerfG 2 BvR 517/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 22. November 2019 (Brandenburgisches OLG)

Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung (russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Herkunft; Recht auf effektiven Rechtsschutz; gerichtliche Sachaufklärungspflicht; Einhaltung der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze im Strafverfahren der Zielregion; Durchführung des Strafverfahrens außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens; völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen; fehlende Belastbarkeit einseitiger Bedingungen in der Bewilligungsnote; Anspruch auf den gesetzlichen Richter nach russischem Recht; kein Einfluss der Exekutive auf Verlegung des Gerichtsstandes; Recht auf rechtliches Gehör; Beiziehung der Asylverfahrensakten; regelmäßig keine persönliche Anhörung des Verfolgten); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Unzumutbarkeit der Rechtswegerschöpfung mangels aufschiebender Wirkung eines Antrags auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 25 GG; Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG; Art. 3 EMRK; § 73 IRG

1. Ein Oberlandesgericht kommt seiner Sachaufklärungspflicht nicht ausreichend nach, wenn es eine Auslieferung an die Russische Föderation mit der Maßgabe für zulässig erklärt, dass das Gerichtsverfahren außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus durchgeführt wird, ohne einerseits die Umstände eines Strafverfahrens in der Zielregion zu ermitteln und ohne andererseits zu prüfen, inwiefern mit der genannten Bedingung im Bewilligungsverfahren gewährleistet wird, dass eine Überstellung des Verfolgten nach Tschetschenien mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 3. April 2019 [= HRRS 2019 Nr. 439]).

2. Gegen die Belastbarkeit einer derartigen einseitig formulierten Bedingung bestehen gewichtige Bedenken, weil von russischer Seite in vergleichbaren Fällen erklärt worden ist, eine Zusicherung über den Gerichtsstand könne nach der Verfassung der Russischen Föderation wegen des dort garantierten Rechts auf den gesetzlichen Richter nicht erteilt werden, und über einen möglichen Antrag auf Verlegung des Gerichtsstandes entscheide das örtlich zuständige Gericht in eigener Kompetenz.

3. Im auslieferungsrechtlichen Zulässigkeitsverfahren gebietet das Recht auf rechtliches Gehör eine persönliche Anhörung des Verfolgten regelmäßig nicht, wenn das Oberlandesgericht die ihn betreffenden in- und ausländischen Asylverfahrensakten beigezogen und seinen dort enthaltenen Vortrag umfassend gewürdigt hat.

4. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz erfordert eine zureichende gerichtliche Sachverhaltsaufklärung. Die Fachgerichte dürfen auf die Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nur verzichten, wenn Beweismittel unzulässig, schlechterdings untauglich, unerreichbar oder für die Entscheidung unerheblich sind, nicht hingegen, wenn die Aufklärung besonders arbeits- oder zeitaufwendig erscheint.

5. Im Verfahren über die Zulässigkeit einer Auslieferung sind die Gerichte zu einer eigenständigen Prüfung verpflichtet, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte die unabdingbaren verfassungsrechtlichen

Grundsätze und das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz sowie den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren. Letzteres gilt insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind.

6. Wegen der eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Bewilligungsentscheidung ist den Aufklärungs- und Prüfungspflichten im Zulässigkeitsverfahren nicht Genüge getan, wenn das Oberlandesgericht lediglich auf die Möglichkeit der Bundesregierung verweist, im (späteren) Bewilligungsverfahren Zusicherungen des ersuchenden Staates einzuholen.

7. Auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr mit Staaten außerhalb der Europäischen Union ist dem ersuchenden Staat grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen, solange dieses nicht im Einzelfall durch entgegenstehende tatsächliche Anhaltspunkte erschüttert wird.

8. Völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen des ersuchenden Staates sind geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Eine Zusicherung entbindet das zuständige Gericht allerdings nicht von der Pflicht, eine eigene Gefahrenprognose hinsichtlich der tatsächlichen Gegebenheiten im Zielstaat anzustellen und die Belastbarkeit der Zusicherung im Einzelfall nachzuprüfen. Eine solche Prüfungsobliegenheit der ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

9. Macht der Verfolgte substantiiert geltend, ihm drohe im Zielstaat politische Verfolgung, so muss das Oberlandesgericht sich ernsthaft bemühen, gegebenenfalls die Akten eines ausländischen Asylverfahrens beizuziehen, es sei denn, es steht fest, dass sich daraus keine neuen Erkenntnisse ergeben. Soweit die Verfahrensakten nicht erreichbar sind, kann das Gericht seiner Prüfungspflicht durch anderweitige Aufklärungsschritte – in der Regel durch die persönliche Anhörung des Betroffenen – genügen.

10. Zu dem vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg gehört zwar auch ein Antrag auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung nach § 33 IRG. Gleichwohl ist die Verfassungsbeschwerde bereits vor Entscheidung über den Antrag zulässig, weil diesem keine aufschiebende Wirkung zukommt und das Oberlandesgericht einen eventuell gewährten Aufschub jederzeit aufheben kann, so dass dem Beschwerdeführer ein Zuwarten nicht zuzumuten ist.


Entscheidung

3. BVerfG 2 BvR 828/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 30. Oktober 2019 (Brandenburgisches OLG)

Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung (russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Herkunft; Wahrung des verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards; Schutz vor Auslieferung bei drohender politischer Verfolgung; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens; stichhaltige Gründe für eine Verletzung im Einzelfall; Anerkennung subsidiären Schutzes in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union als gewichtiges Indiz gegen die Zulässigkeit der Auslieferung; völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen; fehlende Belastbarkeit einseitig formulierter Annahmen in der Bewilligungsnote; Vergleichbarkeit mit verbindlicher Zusicherung allenfalls unter besonderen Voraussetzungen; Durchführung des Strafverfahrens außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus; Anspruch auf den gesetzlichen Richter nach russischem Recht; kein Einfluss der Exekutive auf Verlegung des Gerichtsstandes).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 16a Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 25 GG; Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 3 EMRK; 6 Abs. 2 IRG; Art. 3 Nr. 2 EuAlÜbK

1. Eine auslieferungsrechtliche Zulässigkeitsentscheidung wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht, wenn das Oberlandesgericht davon ausgeht, der von ihm angenommenen Gefahr politischer Verfolgung werde dadurch ausreichend begegnet, dass in der Bewilligungsnote eine einseitige Annahme formuliert wird, nach der die Auslieferung in dem Verständnis erfolge, dass das Strafverfahren außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt werde (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 14. Mai 2019 [= HRRS 2019 Nr. 555]).

2. Gegen die Belastbarkeit einer derartigen einseitig formulierten Annahme bestehen gewichtige Bedenken, wenn von russischer Seite erklärt worden war, eine Zusicherung über den Gerichtsstand könne nach der Verfassung der Russischen Föderation wegen des dort garantierten Rechts auf den gesetzlichen Richter nicht erteilt werden, und über einen möglichen Antrag auf Verlegung des Gerichtsstandes entscheide das örtlich zuständige Gericht in eigener Kompetenz.

3. Ein einseitiger Vorbehalt steht zudem allenfalls dann einer völkerrechtlich verbindlichen Zusicherung gleich, wenn er ohne Zweifel in den jeweils geschlossenen völkerrechtlichen Auslieferungsvertrag einbezogen wird und demnach rechtlich in gleicher Weise Verbindlichkeit erlangt wie eine von dem ersuchenden Staat abgegebene rechtsverbindliche Zusicherung.

4. Im Auslieferungsverfahren haben die deutschen Gerichte zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze und das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz sowie den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren. Letzteres gilt insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind.

5. Im Verfahren über die Zulässigkeit einer Auslieferung sind die Gerichte auch dann, wenn im konkreten Fall ein Asylanspruch nicht besteht, zu einer eigenständigen Prüfung verpflichtet, ob dem Verfolgten im Zielstaat politische Verfolgung droht, soweit hierfür Anhaltspunkte bestehen.

6. Wegen der eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Bewilligungsentscheidung ist den Aufklärungs- und Prüfungspflichten im Zulässigkeitsverfahren nicht

Genüge getan, wenn das Oberlandesgericht lediglich auf die Möglichkeit der Bundesregierung verweist, im (späteren) Bewilligungsverfahren Zusicherungen des ersuchenden Staates einzuholen.

7. Auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr mit Staaten außerhalb der Europäischen Union ist dem ersuchenden Staat grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen, solange dieses nicht durch entgegenstehende tatsächliche Anhaltspunkte erschüttert wird. Dafür müssen allerdings stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass die völkerrechtlichen Mindeststandards nicht beachtet werden.

8. Der Umstand, dass dem Verfolgten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union subsidiärer Schutz gewährt worden ist und auch gegenwärtig noch gewährt wird, stellt ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass dem Verfolgten eine Behandlung drohen könnte, die seine Auslieferung unzulässig macht.

9. Völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen des ersuchenden Staates sind geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Eine Zusicherung entbindet das zuständige Gericht allerdings nicht von der Pflicht, eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, etwa bezogen auf Anhaltspunkte für die Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat. Dabei muss das Gericht den Vortrag des Beschwerdeführers nachvollziehbar und willkürfrei würdigen.


Entscheidung

4. BVerfG 2 BvR 2267/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 6. November 2019 (OLG Nürnberg / LG Regensburg)

Lockerungen im Strafvollzug zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit langjährig Inhaftierter (Resozialisierungsgebot auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe; Vollzugslockerungen; Versagung nur bei konkreter Flucht- oder Missbrauchsgefahr; erhöhte Anforderungen an die Versagung von Ausführungen; Begleitung durch Justizvollzugsbedienstete; bloße Gefahr von Beleidigungen der Begleitenden; keine Koppelung von Vollzugslockerungen an den Abschluss einer Therapie); Recht auf effektiven Rechtsschutz (Absehen von einer Entscheidungsbegründung durch das Rechtsbeschwerdegericht; Leerlaufen der Rechtsbeschwerde; offenkundiges Abweichen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 11 StVollzG; § 109 StVollzG; § 119 Abs. 3 StVollzG; Art. 11 Abs. 2 BayStVollzG; Art. 13 Abs. 2 BayStVollzG; Art. 15 BayStVollzG

1. Eine Strafvollstreckungskammer verkennt Bedeutung und Tragweite des Resozialisierungsanspruchs, wenn sie Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit mit Blick darauf versagt, dass von dem Gefangenen, der Ausführungen zuvor bereits beanstandungsfrei absolviert hatte, konkret zwar Beleidigungen gegenüber den ihn begleitenden Vollzugsbediensteten drohen, wenn für die Gefahr schwerwiegender Straftaten oder einer Flucht hingegen keine aktuellen Anhaltspunkte bestehen.

2. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf eine Resozialisierung des Gefangenen auszurichten. Besonders bei langjährig Inhaftierten ist es erforderlich, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Lebenstüchtigkeit des Betroffenen in Freiheit zu erhalten und zu festigen. Dies gilt auch für den Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

3. Die Versagung von Vollzugslockerungen darf nicht lediglich auf pauschale Wertungen gestützt werden. Vielmehr sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung konkrete Anhaltspunkte darzulegen, die geeignet sind, eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu begründen. Bei langjährig Inhaftierten können auch ohne Bestehen einer konkreten Entlassungsperspektive zumindest Lockerungen in Form von Ausführungen verfassungsrechtlich geboten und der damit verbundene personelle Aufwand hinzunehmen sein.

4. Zur Versagung von Ausführungen genügt die einfache Feststellung einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr nicht; denn die hier vorgesehene Begleitung des Gefangenen durch Vollzugsbedienstete dient gerade dem Zweck, einer solchen Gefahr entgegenzuwirken. Auch sind Ausführungen keine Behandlungsmaßnahmen, deren Gewährung von der vorherigen Erstellung eines Behandlungskonzepts oder dem Abschluss einer Therapie abhängig gemacht werden kann.

5. Der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr eröffnet der Vollzugsbehörde bei ihrer Prognoseentscheidung einen Beurteilungsspielraum. Gleichwohl haben die Vollstreckungsgerichte den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat.

6. Sieht das Rechtsbeschwerdegericht von einer Begründung seiner Entscheidung ab, so ist dies mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz nur vereinbar, wenn dadurch die gesetzlich eröffnete Beschwerdemöglichkeit nicht leer läuft. Dies ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung bestehen, etwa weil die Entscheidung offenkundig von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht.