HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2019
20. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zur Abgrenzung von Irrtümern im Wirtschaftsstrafrecht im Allgemeinen und beim Vorenthalten von Sozialversicherungs-beiträgen im Speziellen

Anmerkung zu BGH HRRS 2018 Nr. 377

Von RA Dr. Frédéric Schneider und RA Dr. David Rieks, LL.M. (Columbia/UvA)[*]

Der Jahreswechsel bietet Anlass, auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem vergangenen Jahr zurückzublicken. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat ein Urteil vom 24. Januar 2018 (Az.: 1 StR 331/17)[2] genutzt, um obiter dicta einen Hinweis einfließen zu lassen, der eine wesentliche Rechtsprechungsänderung im Hinblick auf das Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen gemäß § 266a StGB andeutet. Folgt der BGH in Zukunft dem angedeuteten Weg, dürfte dies über § 266a StGB hinaus für viel Bewegung im Wirtschaftsstrafrecht sorgen. Gerade aus Sicht des Verteidigers im Wirtschaftsstrafrecht lohnt daher ein genauerer Blick auf die Ausführungen des BGH.

I. Verfahrenshintergrund

Dem Urteil des BGH liegt ein Verfahren wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Sozialversicherungsabgaben gemäß § 266a StGB und Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO zu Grunde. Der dort Angeklagte soll Arbeitnehmer nicht bei der zuständigen Einzugsstelle angemeldet und infolgedessen auch keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt haben. Es handelt sich somit um den "klassischen Fall" des § 266a StGB.[3] Wie in solchen Konstellationen üblich, soll der Angeklagte zu Unrecht keine Lohnsteueranmeldungen abgegeben und hierdurch zudem Lohnsteuerhinterziehungen gemäß § 370 AO i.V.m. § 41a EStG begangen haben.[4]

II. Bisherige Verteidigungsstrategie

Verfahren dieser Art gehören zum Alltag wirtschaftsstrafrechtlich orientierter Strafverteidigung. Ihre Anzahl nimmt – gerade auch angesichts der weiten präventiven Aufklärungskompetenzen des Zolls – in jüngerer Zeit erheblich zu.[5]

1. Interessenkoordination

Unabhängig von der gegenständlichen Entscheidung machen es insbesondere die verschiedenen und teils divergierenden Interessen der beteiligten Parteien in entsprechenden Verfahrenskonstellationen für den Verteidiger häufig besonders anspruchsvoll, den jeweiligen Mandanten durch das Strafverfahren zu begleiten und seine Interessen möglich umfassend zu wahren.

So agieren auf staatlicher Seite neben den Ermittlungsbehörden, konkret dem Zoll und dem Finanzamt, regelmäßig auch die Sozialversicherungsträger faktisch mit eigenen Interessen an einem bestimmten Verfahrensausgang. Vorgehensweise und Ziele der Beteiligten auf staatlicher Seite entsprechen sich nicht notwendigerweise und müssen dementsprechend stets koordiniert werden, um eine Gesamtlösung des Falls zu erreichen. Während die Sozialversicherungsträger maßgeblich bestrebt sind, die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen zu erreichen, und pauschalen Lösungen, wie einfachen Nachzahlungen, damit offen gegenüberstehen, sind die strafrechtlichen Ermittlungsbehörden häufig an einer Aufklärung individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeiten und damit einer detaillierten Aufarbeitung der subjektiven Tatseite einzelner Personen interessiert.

Auf der Gegenseite betroffen sind folglich in der Regel neben dem Unternehmen, das zu Unrecht Arbeitnehmer als Selbständige behandelt haben soll, dessen aktuelle und ehemalige Leitungspersonen sowie die einzelnen mutmaßlichen Arbeitnehmer. Das Unternehmen strebt oftmals eine möglichst einvernehmliche, "geräuschlose" Verständigung mit den Sozialversicherungsträgern an, die – trotz etwaiger Bußgeld- und Nachzahlungen – insbesondere eine wirtschaftlich tragfähige Tätigkeit auch in

der Zukunft ermöglicht. Je nach eigener Beteiligung an der Ausgestaltung und Umsetzung der verfahrensgegenständlichen Beschäftigungsverhältnisse reichen die Interessen ehemaliger und aktueller Unternehmensleiter – von einer umfassenden Aufklärung und Kooperation mit den Behörden über Selbstanzeigen i.S.d. § 371 AO bei noch unentdeckten Taten bis hin zur konfrontativen Verteidigung bezüglich der mutmaßlichen Beteiligung an den vermeintlichen zurückliegenden Taten. Den betroffenen Personen, denen ein Status als abhängig Beschäftigte zugeschrieben wird, ist wiederum zumeist daran gelegen, Außenstehende zu bleiben und nicht zu stark in den Fokus der Ermittlungsbehörden zu geraten.

Eine abgestimmte Vorgehensweise zwischen den beratenden und verteidigenden Rechtsanwälten unter Beachtung der jeweiligen Mandanteninteressen und eine darauf basierende koordinierte Ansprache sowohl der Verfolgungsbehörden als auch der festsetzenden Steuer- und Sozialversicherungsträger ist in diesem Zusammenhang oftmals der Schlüssel zu einer erfolgreichen Lösung.

2. Irrtümer über die Arbeitgebereigenschaft

Selten von Erfolg gekrönt war bisher hingegen der Vortrag, eine Person habe sich über ihren Arbeitgeberstatus geirrt.[6]

Dem liegt die diesbezüglich bisher einheitliche Wertung der Rechtsprechung zu Grunde, dass es sich bei einem solchen Irrtum um einen allenfalls auf der Schuldebene beachtlichen Verbotsirrtum i.S.d. § 17 StGB und nicht etwa um einen tatbestandsausschließenden Irrtum i.S.d. § 16 StGB handelt.[7]

Grundsätzlich besagt die Irrtumslehre des StGB, dass gemäß § 16 StGB der Vorsatz des Täters entfällt, wenn er objektive Tatbestandsmerkmale nicht erkannt hat (Tatbestandsirrtum). Sofern keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit besteht, bleibt der Betroffene straflos. Eine solche Situation besteht beispielsweise jedenfalls dann, wenn sich der vermeintliche Arbeitgeber bzw. sein Vertreter aufgrund eines Missverständnisses gar nicht bewusst ist, dass ein anderer überhaupt für ihn entgeltlich tätig wird.

Hat der Täter hingegen die objektive Sachlage gekannt und diese lediglich rechtlich falsch bewertet, unterliegt er grundsätzlich einem Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB, der bei Vermeidbarkeit zu einer fakultativen Strafmilderung und nur bei Unvermeidbarkeit zur Straflosigkeit führt.[8]

Bei einem Irrtum hinsichtlich der Arbeitgebereigenschaft agiert der Angeklagte laut bisheriger Rechtsprechung vorsätzlich, wenn er die objektiven Umstände kannte, die in sozialrechtlicher Sicht die Arbeitgebereigenschaft des von ihm vertretenen Unternehmens begründen. Mithin sei nicht § 16 StGB, sondern ein Verbotsirrtum im Sinne von § 17 StGB einschlägig.[9] Dass ein solcher Irrtum – wie im vorliegenden Fall zunächst vom Landgericht Wiesbaden angenommen – bspw. aufgrund einer fehlerhaften Rechtsberatung unvermeidbar war und damit gem. § 17 S. 1 StGB unrechtsausschließend wirkt, bleibt in der Rechtspraxis weiterhin ein absoluter Ausnahmefall.[10] Selbst wenn es der Verteidigung gelingt, im Ermittlungsverfahren oder im Rahmen einer Hauptverhandlung überzeugend darzulegen, die Arbeitgebereigenschaft sei verkannt und deshalb seien keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt worden, führt dies in der weit überwiegenden Anzahl an Fällen allenfalls zu einer Strafmilderung infolge der Annahme eines vermeidbaren Verbotsirrtums (§ 17 S. 2 StGB).

III. Abgrenzungsschwierigkeiten von Irrtümern im Wirtschaftsstrafrecht 

1. Generelle Irrtumsrisiken im Wirtschaftsstrafrecht

An der dargestellten Irrtumsproblematik zeigt sich beispielhaft ein generelles Problem in der Bewertung und Verteidigung von wirtschaftsstrafrechtlichen Sachverhalten.

Angesichts des im unternehmerischen Bereich vorherrschenden – und über § 30 OWiG auch eingeforderten – Organisationsgrads sind wirtschaftsstrafrechtliche Sachverhalte geprägt davon, dass beteiligten Leitungspersonen umfassende Kenntnisse über Sachverhaltsumstände innerhalb ihres Unternehmens zugeschrieben werden. Die für eine strafrechtliche Bewertung zentrale Frage, ob sich aus dieser Sachverhaltskenntnis auch notwendigerweise ein an den mutmaßlichen Täter gerichteter Appell zum Handeln oder Unterlassen herleiten lässt, bleibt demgegenüber oftmals zweifelhaft.

Dieses Dilemma wird für den Rechtsbetroffenen infolge der regelmäßig hohen Komplexität der zu Grunde liegenden rechtlichen Vorgaben weiter verstärkt. Auch bei Kenntnis aller tatsächlichen Umstände ist es häufig kaum möglich, hieraus einen greifbaren und nachvollziehbaren Normbefehl herzuleiten. Diskussionen um Fragen der Akzessorietät, Blankett-Strafnormen und normative Tatbestandsmerkmale[11] prägen das Wirtschaftsstrafrecht und verdeutlichen, wie schwierig die Rechtsbefolgung für den Betroffenen in diesen Bereichen sein kann.[12] Ein-

drücklich schildert etwa auch Bülte[13] anhand von Beispielen aus dem Lebensmittelstrafrecht, dass die bisherige Abgrenzung zwischen Verbots- und Tatumstandsirrtum im Wirtschaftsstrafrecht häufig zu unangemessenen Ergebnissen führt. Er begründet dies damit, dass diejenigen Tatbestände, deren Unrechtsbeschreibung auf einem sozial-ethisch anerkannten Unrechtsverdikt basiert, zur Bewertung nicht auf ein Ge- oder Verbot im Tatbestand angewiesen sind, wohingegen dies für Delikte ohne entsprechendes Verdikt zur Grundlage nicht dient. Letztere finden sich besonders häufig im Neben- und Wirtschaftsstrafrecht und in diesen Fällen müsse die sich aus der in Bezug genommenen Norm ergebende Rechtswidrigkeit vom Vorsatz erfasst sein.

2. Irrtumsrisiken bei der Bestimmung der Arbeitgebereigenschaft

Augenscheinlich werden die eben skizzierten Schwierigkeiten auch für denjenigen, der mit der im vorliegenden Urteil des BGH gegenständlichen Frage der Arbeitgebereigenschaft vor dem Hintergrund des § 266a StGB in Berührung kommt.[14] Die Abgrenzung, ob jemand als Arbeitgeber fungiert, erfolgt sozialrechtsakzessorisch. Das Bundessozialgericht stellt in ständiger Rechtsprechung darauf ab, ob eine persönliche Abhängigkeit des Beschäftigten besteht. Diese soll vorliegen, wenn eine Eingliederung in den Betrieb gegeben ist; namentlich sofern ein Weisungsrecht bezüglich Zeit, Dauer, Art und Umfang der Tätigkeit besteht.[15] In der sozialrechtlichen Rechtsprechung finden sich eine Vielzahl von Einzelkriterien, von denen für sich genommen aber keines eine zwingende Bewertung erlaubt und denen im Einzelfall unterschiedlich starkes Gewicht zukommen soll. Da in der Regel anhand einer "wertenden Gesamtbetrachtung" verschiedener Indizien entschieden wird, lassen sich Ergebnisse kaum rechtssicher vorhersagen.

Angesichts der Komplexität akzessorisch in Bezug genommener Wertungen im Wirtschaftsstrafrecht ist ein Irrtum des Rechtsanwenders naheliegend und eine Appellfunktion durch bloße Kenntnis des Sachverhalts demgegenüber schwerlich zu erreichen. Die untergeordnete Bedeutung, die einem Subsumtionsirrtum im Rahmen der strafrechtlichen Bewertung oftmals zugemessen wird, ist mit der praktischen Relevanz und Schwierigkeit entsprechender Subsumtionsleistungen im wirtschaftsstrafrechtlichen Bereich kaum vereinbar.

IV. Lösung im Steuerstrafrecht - Steueranspruchstheorie

Vor dem Hintergrund des aufgezeigten Problems hat die Rechtsprechung im Bereich des Steuerstrafrechts bereits seit vielen Jahren einen Lösungsansatz etabliert.

Dort ist anerkannt, dass der Täter einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung den Steueranspruch dem Grunde und der Höhe nach kennen oder zumindest für möglich halten muss und auch verkürzen will (sog. Steueranspruchstheorie[16]). Dies wird als notwendiger Teil seines Vorsatzes erachtet. Nimmt derjenige, der objektiv eine Steuerhinterziehung begeht, trotz Kenntnis der zu Grunde liegenden Sachverhaltsumstände irrig an, es sei kein Steueranspruch entstanden, unterliegt er mithin einem Tatumstandsirrtum, der gemäß § 16 StGB zu einem Vorsatzausschluss führt. Im Steuerrecht wird also eine Ausnahme von der oben erläuterten Irrtumsdogmatik gemacht: Grundsätzlich würde der Irrtum über die Steuerpflicht bei Kenntnis der objektiven (steuerbegründenden) Umstände zu einem bloßen Verbotsirrtum nach § 17 StGB führen. Nach der Steueranspruchstheorie bleibt es hier dennoch bei einem Tatbestandsirrtum gemäß § 16 StGB; in entsprechenden Fällen kommt allenfalls noch die Annahme einer Ordnungswidrigkeit in Form einer leichtfertigen Steuerverkürzung i.S.d. § 378 AO oder eines Organisationsverschuldens i.S.d. § 130 OWiG in Betracht.

V. Diskrepanz zwischen Steuer- und sonstigem Wirtschaftsstrafrecht sowie angedeutete Lösung

Die vorangegangene Darstellung führt indes zu einer nur schwer nachvollziehbaren unterschiedlichen Bewertung von Irrtümern im Steuerstrafrecht zu solchen anderer wirtschaftsstrafrechtlicher Bereiche.

Besonders augenscheinlich wird diese Diskrepanz dann, wenn – wie im gegenständlichen Fall – sowohl ein vorsätzliches Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen gemäß § 266a StGB als auch eine (Lohn‑)Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO i.V.m. § 41a EStG in Rede steht, da die unterschiedlichen Vorsatzanforderungen in Bezug auf die verschiedenen Tatbestände zu divergierenden Ergebnissen führen können. Während derselbe Irrtum zu einem (meist als vermeidbar eingestuften) Verbotsirrtum über die Arbeitgebereigenschaft bei § 266a StGB und damit zu einer strafrechtlichen Verurteilung führt, scheidet eine solche im Hinblick auf die Steuerhinterziehung nach der Steueranspruchstheorie mangels Vorsatzes aus.

Völlig zu Recht schlussfolgert der BGH in der gegenständlichen Entscheidung daher:

"Da für die Differenzierung kein sachlicher Grund erkennbar ist und es sich jeweils um (normative) Tatbestandsmerkmale handelt, erwägt der Senat – insoweit entgegen den Überlegungen im Beschluss des Senats vom 8. September 2011 – 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160, 161 Rn. 23 ff. –, zukünftig auch die Fehlvorstellung über die Arbeitgebereigenschaft in § 266a StGB und die daraus folgende Abführungspflicht insgesamt als (vorsatzausschließenden) Tatbestandsirrtum zu behandeln."

Der BGH deutet somit an, die Diskrepanz zu Gunsten einer allgemeinen Anwendung des § 16 StGB aufzulösen. Wohin aber werden diese Erwägungen des BGH führen?

VI. Systematische Kohärenz durch Umsetzung des obiter dictums des BGH

Zu begrüßen sind diese Erwägungen nicht nur, weil sie die benannte offensichtliche Diskrepanz zwischen der Bewertung der Arbeitgebereigenschaft bei § 266a StGB und § 370 AO i.V.m. § 41a EStG auflösen, sondern auch, weil der Senat damit ausdrücklich von seinem im obiter dictum genannten Beschluss aus dem Jahr 2011[17] abweicht. In diesem hatte der Senat noch erwogen, auch Irrtümer betreffend eines Steueranspruchs als bloße Verbotsirrtümer zu bewerten und somit die abweichende Bewertung gerade gegensätzlich – zu Lasten der Beschuldigten – aufzulösen. Auch damals war die Diskrepanz zur Bewertung in § 266a StGB für eine mögliche Änderung der Rechtsprechung im Steuerstrafrecht zu Felde geführt worden.[18] Dieser Ansatz war und ist im Gegensatz zur nunmehr erwogenen Lösung jedoch nicht überzeugend. Die nunmehr erwogene Lösung würde auch bei der isolierten Betrachtung des § 266a StGB zu systematisch schlüssigen Ergebnissen führen. Bei richtiger Betrachtung handelt es sich beim Arbeitgeberbegriff in § 266a StGB nämlich um ein normatives Tatbestandsmerkmal.[19] Nach überwiegender Ansicht sind Irrtümer über solche normativen Tatbestandsmerkmale als vorsatzausschließend zu bewerten.[20] Der Täter kennt hier nämlich einen zum Straftatbestand gehörenden Umstand nicht, sodass ihn entsprechend auch der spezifische strafrechtliche Normappell nicht erreichen kann.[21]

VII. Vermeidung von Fehlbewertungen durch Umsetzung des obiter dictums des BGH

Aber nicht nur die systemische Kohärenz spricht für die angestrebte Rechtsprechungsänderung. Vielmehr führt auch eine gebotene wertende Betrachtung dazu, dass mit Hilfe der vorgeschlagenen Einordnung angemessenere Ergebnisse erzielt werden.

Auch hier bietet sich zur Begründung ein Vergleich zur steuerstrafrechtlichen Bewertung an. Zwar hat die o.g. Steueranspruchstheorie ihren historischen Hintergrund in nicht mehr geltenden steuerstrafrechtlichen Sonderregelungen (§§ 358, 395 RAbgO).[22] Jedoch steht hinter der im Steuerstrafrecht erfolgenden Abgrenzung zwischen den verschiedenen Irrtümern auch eine konsistente Unrechtswertung.

Im Gegensatz zu bspw. dem Tötungsverbot aus §§ 211 ff. StGB handelt es sich bei steuerrechtlichen Tatbeständen stets um zunächst wertfreie Normen, die einer ethischen Ergründung auch im Wege einer Parallelwertung in der Laiensphäre verschlossen bleiben. Ohne Kenntnis einer Steuernorm ist auch die Kenntnis der Umstände, welche die Anwendbarkeit dieser Steuernorm begründen, nicht geeignet, einen Appell an den Rechtsanwender zu richten, dem er sich durch Nichtbefolgung widersetzen kann. Es kann bei einem diesbezüglichen Irrtum folglich gar nicht erst dazu kommen, dass der Rechtsanwender i.S.d. § 17 StGB trotz Appells von der gesellschaftlichen Norm abweicht; vielmehr fehlt es mangels Appell i.S.d. § 16 StGB an der Kenntnis aller erforderlichen Umstände zur Begehung einer Vorsatztat.  

Thomas konkretisiert diese Wertung im Hinblick auf das Steuerstrafrecht beispielhaft anhand des Spekulationsgewinns bei der Weiterveräußerung von Grundstücken. Während entsprechende Spekulationsgewinne zunächst in Gänze steuerfrei waren, wurden sie später – allein aus fiskalischen und konjunkturpolitischen Gründen – besteuert.[23] Auch die Kenntnis des Rechtsanwenders von allen tatsächlichen Umständen – mithin eines Gewinns durch die Weiterveräußerung eines Grundstücks – kann allein bei gleichzeitiger Kenntnis der steuerlichen Bewertung dazu führen, dass der Steuerpflichtige entscheidet, i.S.d. § 370 AO Steuern zu hinterziehen. In die gleiche Richtung argumentiert Bülte[24], der ausführt, dass etwa die Steuerfreiheit eines Lotteriegewinns oder die Gewerbesteuerfreiheit von Ärzten und Anwälten sich nicht mit ethischen Überlegungen erschließen lassen, sondern letztlich faktische Kenntnis der fraglichen Ausnahmetatbestände zwingend erforderlich machen, um den Rechtsappell zu erkennen.

Das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Unrechtseinsicht lässt sich anhand der Kenntnis von den bloßen tatsächlichen Umständen der Besteuerungsgrundlage mithin nicht abschließend beantworten. Erst die Kenntnis des Steueranspruchs zumindest dem Grunde nach führt zu einem vorsätzlichen Verstoß gegen den steuerstrafrechtlichen Appell. Die Einordnung eines Irrtums über das Bestehen einer Steuerschuld dem Grunde nach als vorsatzausschließender Tatumstandsirrtum i.S.d. § 16 StGB ist vor diesem Hintergrund überzeugend.

VIII. Anwendung auf das Veruntreuen und Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen gemäß § 266a StGB

Nichts anderes gilt richtigerweise aber auch für die Frage der Arbeitgebereigenschaft aus § 266a StGB. Erst die Kenntnis der Arbeitgebereigenschaft zumindest dem Grunde nach führt zur Kenntnis der daran anknüpfenden Anmelde- und Abführungspflichten und schließlich – bei

Nichtbefolgung – zum vorsätzlichen Verstoß gegen die Strafnorm.

Sollte sich der vom BGH angedeutete Rechtsprechungswandel diesbezüglich durchsetzen, wird zukünftig dementsprechend häufiger die Frage im Raum stehen, wann der potentielle Arbeitgeber dem Grunde nach Kenntnis über seine Arbeitgebereigenschaft erlangt hat. So hatte etwa das Landgericht Wiesbaden laut BGH ebendiese Kenntnis bzw. Nichtkenntnis des Angeklagten im zu Grunde liegenden Fall nicht hinreichend festgestellt.[25]

Für die Verteidigung ist dabei allerdings zu beachten, dass die Anforderungen an die diesbezüglich hinreichende Vorsatzintensität in Form des dolus eventualis vergleichsweise gering sind.[26] Die pauschale Behauptung eines Irrtums über die Arbeitgebereigenschaft dürfte bei Vorliegen gegenteiliger Indizien kein neues Allheilmittel der Verteidigung entsprechender Sachverhalte werden. Insbesondere ist zu beachten, dass die praxisübliche Einholung etwaiger Rechtsgutachten durch den Mandanten gerade zur Frage der Arbeitgeberstellung zwar geeignet sein kann, die bisher und weiterhin erstrebenswerte Einordung eines entsprechenden Irrtums als "unvermeidbar" i.S.d. § 17 StGB zu erreichen, ein solches Gutachten jedoch gleichermaßen indiziell nahelegen kann, dass der Betroffene eine Arbeitgebereigenschaft zumindest für möglich hielt und somit eventualvorsätzlich handelte. Erste Ansätze zur Bewertung des Vorsatzes finden sich vor dem Hintergrund der aktuellen Entscheidung etwa bei Floeth.[27]  

IX. Übertragbarkeit auf andere Delikte im Wirtschaftsstrafrecht

Ausgehend von der geschilderten Differenzierung zwischen Tatumstands- und Verbotsirrtum bleibt darüber hinaus zu hoffen, dass der BGH diesen ersten Schritt in die richtige Richtung nicht nur im Hinblick auf das Vorenthalten und Veruntreuen von Sozialversicherungsbeiträgen gemäß § 266a StGB konsequent zu Ende geht, sondern ihn auch auf andere Delikte im Wirtschaftsstrafrecht ausweitet, um die eingangs geschilderte Fehlbewertung in diesem Bereich zu korrigieren. Ganz in diesem Sinne hatte auch der Gesetzgeber in einer Gesetzesbegründung zum § 6 WiStG ausgeführt:

"Bei Wirtschaftsvergehen stellt der Irrtum über das Bestehen oder den Umfang einer Rechtspflicht häufig einen Tatbestandsirrtum dar, weil die Umstände, welche die Handlung als unrechtmäßig kennzeichnen, vielfach zu Tatbestandsmerkmalen erhoben sind."[28]

X. Fazit

Bisher hat der derzeit für das Steuerstrafrecht zuständige 1. BGH-Strafsenat  nur obiter dicta eine Rechtsprechungsänderung ausschließlich im Hinblick auf das Vorenthalten und Veruntreuen von Sozialversicherungsbeiträgen gemäß § 266a StGB angedeutet. Im vorliegenden Fall ist es der fehlenden Entscheidungserheblichkeit der konkreten Frage geschuldet, dass der Strafsenat seine Erwägungen im Hinblick auf den § 266a StGB nicht umgehend umsetzen konnte. Davon, dass entsprechende Andeutungen oftmals in der Gerichtspraxis wenig zu ändern vermögen, zeugt das obiter dictum desselben Senats aus dem Jahr 2011, mit dem eine genau entgegengesetzte Rechtsprechungsänderung im Hinblick auf die Steuerhinterziehung erwogen worden war. Alle Betroffenen tun mithin gut daran, ihre Sachverhaltsbewertungen präventiv zunächst weiter an der etablierten Rechtsprechung zu orientieren.

Gleichwohl bleibt zu hoffen, dass sich die Ansicht des 1. BGH-Strafsenats im Hinblick auf die Bewertung der Arbeitgebereigenschaft in § 266a StGB durchsetzt und Grundlage für weitergehende Anpassungen der Irrtumslehre im Wirtschaftsstrafrecht sein wird. Gerade angesichts der stetig zunehmenden Anzahl an Verfahren im Bereich angeblicher Scheinselbständigkeit dürfte sich alsbald zeigen, ob die Strafverfolgungsbehörden und die Instanzgerichte den Andeutungen des BGH bereits vor einer tragenden Entscheidung in die dargestellte Richtung Folge leisten werden.


[*] Die Autoren arbeiten als Strafverteidiger am Hamburger Standort der Kanzlei ROXIN Rechtsanwälte LLP. Sie danken Frau Katharina Funcke für die wertvolle Unterstützung.

[2] BGH NStZ-RR 2018, 180 = HRRS 2018 Nr. 377.

[3] Vgl. BT-Drs. 14/8221, S. 1; MüKo-StGB-Radtke, 3. Aufl. 2019, § 266a Rn. 1.

[4] Vgl. BGH NJW 1988, 1800; GJW-Wiedner, 2. Aufl. 2017, § 266a Rn. 117; Lackner/Kühl-Heger, 29. Aufl. 2018, § 266a Rn. 21; Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis-Gaede, Wirtschaftsstrafrecht, Teil 2, Kap. 10, § 370 AO Rn. 390 ff.

[5] Achenbach/Ransiek/Rönnau-Gercke, Hdb. Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2015, Teil 12, Kap. 2, Rn. 6 m.w.N.

[6] Auf den Unternehmenskontext übertragen: Eine Leitungsperson habe sich über den Status des anstellenden Unternehmens im Verhältnis zu Dritten geirrt. Zwar ist – wenn überhaupt – nur das Unternehmen Arbeitgeber, diese Eigenschaft wird aber gemäß § 14 StGB seinen Vertretern zugerechnet.

[7] BGH NStZ 2010, 337 = HRRS 2009 Nr. 1068; BGH NStZ 2014, 321, 323 mwN = HRRS 2013 Nr. 982.

[8] BGH HRRS 2018 Nr. 1015, Rn. 9.

[9] BGH NStZ 2010, 337 = HRRS 2009 Nr. 1068; MüKo-StGB-Radtke, 3. Aufl. 2019, § 266a Rn. 91.

[10] Vgl. BGH NJW 2006, 522, 529 = HRRS 2006 Nr. 100; Bülte NStZ 2013, 65, 66. Selbst bei anwaltlicher Beratung soll ein Irrtum nicht stets unvermeidbar sein, so BGH NJW 2017, 2463, 2465; NStZ 2013, 461 = HRRS 2013 Nr. 445.

[11] Eingehend zur Problematik bei § 370 AO Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis-Gaede, Wirtschaftsstrafrecht, Teil 2, Kap. 10, § 370 AO Rn. 30 ff.

[12] MAH WiStrR-Grunst/Volk, 2. Aufl. 2014, § 1, Rn. 112 ff.; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2017, § 7, Rn. 402 ff; Bülte NStZ 2013, 65.

[13] Bülte NStZ 2013, 65, 66.

[14] Hierzu BGHSt 53, 71, 77 = HRRS 2009 Nr. 127 ; BGH NStZ 2010, 337 = HRRS 2009 Nr. 1068.

[15] BSG NJW 2018, 2663, 2664; Reiserer DStR 2018, 1623, 1624 f.

[16] BGH NStZ 2012, 160, 161 = HRRS 2011 Nr. 1139; BeckOK-AO-Ibold, 6. Ed., Stand 1.10.2018, § 370 Rn. 465 ff.; Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis-Gaede, Wirtschaftsstrafrecht, Teil 2, Kap. 10, § 370 AO Rn. 259 f.

[17] BGH NStZ 2012, 160, 161 = HRRS 2011 Nr. 1139 .

[18] BGH NStZ 2012, 160, 161 = HRRS 2011 Nr. 1139.

[19] BGH NStZ-RR 2018, 180, 181 = HRRS 2018 Nr. 377; Bürger wistra 2016, 169. Zur Begründung, dass auch § 370 AO ein normatives Tatbestandsmerkmal enthält, siehe MüKo-AO-Schmitz/Wulf, 2. Aufl. 2015, § 370 AO Rn. 14 ff.

[20] Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, 29. Aufl. 2014, § 15 Rn. 103.

[21] BeckOK-StGB-Kudlich, 40. Ed., Stand 1.11.2018, § 16 Rn. 14 ff.

[22] Thomas NStZ 1987, 260, 261.

[23] Thomas NStZ 1987, 260, 262.

[24] Bülte NStZ 2013, 65, 69.

[25] BGH NZWiSt 2018, 345, Rn. 8 ff. = HRRS 2018 Nr. 377.

[26] GJW-Allgayer, § 369 AO, Rn. 24, 28.

[27] Floeth NStZ-RR 2018,182, 183 f.

[28] BT-Drs. V/1319, 102.