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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2019
20. Jahrgang
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1. Den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhandlungsdichte in Haftsachen ist nicht Genüge getan, wenn die Strafkammer (deutlich) seltener als an durchschnittlich einem Hauptverhandlungstag in der Woche verhandelt. Dies gilt erst recht, wenn an zahlreichen Sitzungstagen nur kurze Zeit verhandelt und das Verfahren nicht entscheidend gefördert wurde und wenn die Untersuchungshaft – nach einem durch die Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden bedingten Neubeginn der Hauptverhandlung – bereits über eineinhalb Jahre andauert.
2. Eine Haftfortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht,
wenn sie übergeht, dass die unzureichende Verhandlungsdichte vorrangig nicht auf die Verhinderung einzelner Verfahrensbeteiligter sondern darauf zurückzuführen ist, dass die Strafkammer aufgrund ihrer Belastung mit weiteren Verfahren ohnehin keine freien Verhandlungskapazitäten mehr zur Verfügung hatte.
3. Die Komplexität eines Strafverfahrens, die besondere Schwere der Tatvorwürfe, Verfahrensverzögerungen wegen des Verhaltens eines Verteidigers und die einen Neubeginn der Verhandlung erfordernde Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden sind zwar geeignet, die Untersuchungshaft als solche sowie die Dauer der Hauptverhandlung zu rechtfertigen, nicht jedoch eine durchgehend zu geringe Termindichte.
4. Trotz ungenügender Verhandlungsdichte kann die Fortdauer der Untersuchungshaft allerdings verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sein, wenn die Belastung der zuständigen Strafkammer – etwa wegen einer außergewöhnlich hohen Zahl von Verfahrenseingängen, insbesondere umfangreicher Haftsachen – unvorhersehbar und damit unvermeidbar war und nicht auf eine unzureichende Personalausstattung oder -verwaltung zurückzuführen ist. In diesem Zusammenhang ist es auch von Bedeutung, inwieweit die von der Justizverwaltung getroffenen Maßnahmen nach Art, Zielrichtung und Umfang rechtzeitig, geeignet und hinreichend wirksam waren, um die Voraussetzungen für eine dem Beschleunigungsgebot genügende Verfahrensgestaltung (wieder)herzustellen.
5. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.
6. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse. Damit steigen die Anforderungen sowohl an die Zügigkeit der Bearbeitung der Haftsache als auch an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund.
7. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um mit der gebotenen Schnelligkeit eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.
8. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.
9. Anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse kann eine nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts die Haftfortdauer niemals rechtfertigen. Dies gilt selbst dann, wenn die Überlastung auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt.
10. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.
1. Der Anbieter eines E-Mail-Dienstes ist verpflichtet, den Ermittlungsbehörden im Rahmen einer strafprozessualen Telekommunikationsüberwachung die IP-Adressen der auf ihren Account zugreifenden Kunden auch dann zu übermitteln, wenn er seinen Dienst aus Datenschutzgründen so organisiert hat, dass er diese nicht protokolliert (Hauptsacheentscheidung zur Ablehnung einer einstweiligen Anordnung vom 12. Dezember 2016 [= HRRS 2017 Nr. 133]).
2. Die Festsetzung eines Ordnungsgeldes gegen den Anbieter eines E-Mail-Dienstes, der sein internes Netzwerk mittels eines sogenannten NAT-Verfahrens (Network Adress Translation) vom Internet abtrennt und deshalb den Ermittlungsbehörden die – von ihm nicht geloggten – IP-Adressen der E-Mail-Nutzer nicht herausgibt, greift in die Berufsausübungsfreiheit des Anbieters ein, weil sie diesem technische und organisatorische Vorgaben für die Einrichtung seines Betriebes macht.
3. Eingriffe in die Berufsfreiheit sind nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung zulässig, die Umfang und Grenzen des Eingriffs erkennen lässt und mit welcher der Gesetzgeber – soweit möglich – alle wesentlichen Entscheidungen selbst trifft.
4. Nach den gesetzlichen Mitwirkungs- und Vorhaltungsvorschriften sind Telekommunikationsdienstanbieter verpflichtet, ihren Betrieb so zu gestalten, dass sie die im Rahmen einer rechtmäßig angeordneten Überwachung der Telekommunikation bei ihnen anfallenden IP-Adressen bereitstellen können.
5. Der Begriff der Telekommunikation im Sinne des § 100a StPO ist – orientiert am Schutzbereich des Art. 10 GG – weit auszulegen und umfasst nicht nur Kommunikationsinhalte, sondern auch die näheren Umstände der Telekommunikation. Zu den hiervon betroffenen Verkehrsdaten gehören auch und gerade die anfallenden (dynamischen oder statischen) IP-Adressen, mit denen die Kunden eines E-Mail-Dienstes mit ihren internetfähigen Endgeräten auf ihren E-Mail-Account zugreifen.
6. Diese externen IP-Adressen sind auch bei Verwendung eines NAT-Verfahrens zumindest für die Dauer der Verbindung bei dem Anbieter gespeichert und müssen daher von diesem auf Anforderung herausgegeben werden; denn die gesetzliche Verpflichtung zur Bereitstellung erstreckt sich auf alle Telekommunikationsdaten, die über die Anlage des Anbieters abgewickelt werden und die bei ihm – wenngleich möglicherweise nur vorübergehend – vorhanden sind. Der im Jahre 2017 neu eingefügten Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 TKÜV kommt insoweit eine rein klarstellende Funktion zu.
7. Wenngleich das Geschäftsmodell eines E-Mail-Anbieters, die IP-Adressen seiner Kunden aus Datenschutzgründen nicht zu protokollieren, unter dem Gesichtspunkt der Berufsfreiheit durchaus schützenswert erscheint, entbindet ihn dies nicht von der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben, die dem verfassungsrechtlichen Erfordernis einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege Rechnung tragen. Dies gilt auch dann, wenn eine Systemumstellung ihm einen nicht unerheblichen technischen und finanziellen Aufwand abverlangt.
8. Die Vorschrift des § 100g Abs. 1 StPO schafft lediglich eine erleichterte Zugriffsmöglichkeit auf Verkehrsdaten und schränkt den Anwendungsbereich des § 100a StPO bei der (Echtzeit-)Überwachung künftiger Telekommunikation nicht ein.
9. Strafprozessualen Ordnungsmitteln kommt sowohl eine präventive als auch eine repressive Funktion zu. Der Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen den Anbieter eines E-Mail-Dienstes steht daher nicht entgegen, dass dieser nach der von ihm gewählten Gestaltung seines Dienstes seine strafprozessualen Mitwirkungspflichten erst nach einem Umbau seines EDV-Systems erfüllen kann, bei dessen Abschluss die konkrete Überwachungsmaßnahme bereits überholt wäre.
1. Eine Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist hinsichtlich der Gefahr zukünftiger rechtswidriger Taten nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise begründet, wenn das Vollstreckungsgericht nicht darlegt, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen es neue Straftaten des Untergebrachten gegen die körperliche Unversehrtheit befürchtet, ob diese Taten die Erheblichkeitsschwelle überschreiten und wie hoch das Risiko künftigen strafbaren Verhaltens ist.
2. Den Begründungsanforderungen ist auch dann nicht Genüge getan, wenn das Gericht außer Betracht lässt, dass der zeitweise zur Bewährung entlassene Untergebrachte sich währenddessen zwar unter Suchtmitteleinfluss aggressiv gezeigt und seine damalige Ehefrau mit dem Tod bedroht hatte, dass er jedoch trotz Suchtmittelkonsums über mehrere Jahre in Freiheit nicht erneut mit Gewalttaten in Erscheinung getreten war.
3. Eine Fortdauerentscheidung genügt im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit nicht den Darlegungsanforderungen, wenn unerörtert bleibt, dass die Dauer der insgesamt bereits seit rund 18 Jahren vollzogenen Unterbringung die zugleich verhängte Freiheitsstrafe um das Doppelte übersteigt und wenn maßgebliche Einzelfallgesichtspunkte wie insbesondere die Entwicklung des Untergebrachten im Rahmen einer von ihm absolvierten Therapie außer Betracht bleiben.
4. Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts – einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen Krankenhaus.
5. Bei der Entscheidung über die Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit zur Dauer des erlittenen Freiheitsentzugs in Beziehung zu setzen.
6. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist hinreichend zu konkretisieren; Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten sind zu bestimmen. Abzustellen ist dabei auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten und die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände.
7. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.
8. Mit dem Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sind einfachrechtlich weitere Verhältnismäßigkeitsanforderungen festgelegt worden. Dabei sind die materiell-rechtlichen Anforderungen an die Fortdauer der Unterbringung im Hinblick auf die drohenden Rechtsgutsverletzungen abhängig von der Dauer der Unterbringung angehoben worden.
9. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch geeignete Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann.
10. Das Feststellungsinteresse für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn zwischenzeitlich eine weitere Fortdauerentscheidung ergangen ist.
Eine Verfassungsbeschwerde ist nicht hinreichend substantiiert, wenn der Beschwerdeführer zwar den angegriffenen Beschluss, nicht jedoch die darin in Bezug genommenen, unveröffentlichten, ihn selbst betreffenden Beschlüsse desselben Gerichts vorlegt.