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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2016
17. Jahrgang
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1. Das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person vorbehaltlich der Wiedereröffnung des Strafverfahrens oder der Aufhebung des Beschlusses ohne die Auferlegung von
Sanktionen endgültig eingestellt wird, nicht als rechtskräftige Entscheidung im Sinne dieser Vorschriften eingestuft werden kann, wenn aus der Begründung dieses Beschlusses hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären, wobei die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen ein Indiz für das Fehlen solcher Ermittlungen darstellt. (EuGH) 2. Der Betroffene ist wegen der ihm vorgeworfenen Tat als „rechtskräftig abgeurteilt“ im Sinne des Art. 54 SDÜ anzusehen, wenn als Erstes die Strafklage endgültig verbraucht ist. Die Beurteilung dieser ersten Voraussetzung ist auf der Grundlage des Rechts des Mitgliedstaats vorzunehmen, der die in Rede stehende strafrechtliche Entscheidung erlassen hat. Eine Entscheidung, die nach dem Recht des Vertragsstaats, der die Strafverfolgung gegen einen Betroffenen einleitet, die Strafklage auf nationaler Ebene nicht endgültig verbraucht, kann nämlich grundsätzlich nicht als ein Verfahrenshindernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Tat gegen diesen Betroffenen in einem anderen Vertragsstaat angesehen werden. Für die Rechtskraft kann auch ein Beschluss der Staatsanwaltschaft ausreichen, der nicht mit einer Sanktionsvollstreckung verbunden sein muss. (Bearbeiter)
3. Um zu bestimmen, ob ein Beschluss wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine Entscheidung darstellt, mit der eine Person im Sinne des Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeurteilt wurde, muss man sich als Zweites vergewissern, dass diese Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache erfolgt ist. (Bearbeiter)
4. Der in Art. 54 SDÜ aufgestellte Grundsatz ne bis in idem soll zum einen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verhindern, dass eine rechtskräftig abgeurteilte Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten, indem bei fehlender Harmonisierung oder Angleichung der strafrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten unanfechtbar gewordene Entscheidungen staatlicher Stellen beachtet werden. Zum anderen wird mit Art. 54 SDÜ zwar das Ziel verfolgt, einem Betroffenen zu garantieren, dass er sich, wenn er in einem Vertragsstaat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Vertragsstaat wegen derselben Tat verfolgt wird, nicht aber das Ziel, einen Verdächtigen dagegen zu schützen, dass er möglicherweise wegen derselben Tat in mehreren Vertragsstaaten aufeinanderfolgenden Ermittlungen ausgesetzt ist. (Bearbeiter)
5. In diesem Zusammenhang ist Art. 54 SDÜ nämlich im Licht von Art. 3 Abs. 2 EUV auszulegen, wonach die Union ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen bietet, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen u. a. in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Daher hat die Auslegung der Rechtskraft einer strafrechtlichen Entscheidung eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 54 SDÜ im Licht nicht nur der Notwendigkeit, die Personenfreizügigkeit zu gewährleisten, sondern auch im Licht der Notwendigkeit zu erfolgen, die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu fördern. (Bearbeiter)
6. Art. 54 SDÜ darf nicht die Wirkung haben, dass die konkrete Möglichkeit, das dem Angeschuldigten angelastete rechtswidrige Verhalten in den betroffenen Mitgliedstaaten zu ahnden, erschwert oder gar ausgeschlossen würde. (Bearbeiter)
7. Art. 54 SDÜ impliziert zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Vertragsstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder von ihnen die Anwendung des in den anderen Vertragsstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Durchführung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde. Das gegenseitige Vertrauen kann jedoch nur gedeihen, wenn der zweite Vertragsstaat in der Lage ist, sich auf der Grundlage der vom ersten Vertragsstaat übermittelten Unterlagen zu vergewissern, dass die betreffende Entscheidung der zuständigen Behörden des ersten Vertragsstaats tatsächlich eine rechtskräftige Entscheidung darstellt, die eine Prüfung in der Sache enthält. (Bearbeiter)
1. Mit dem grundsätzlichen Auslieferungsverbot des Art. 16 Abs. 2 GG sollen die Rechtssicherheit und das Vertrauen des von einer Auslieferung betroffenen Deutschen in die eigene Rechtsordnung gewahrt werden. Dieses Vertrauen ist vor allem dann in besonderer Weise geschützt, wenn die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Handlung einen maßgeblichen Inlandsbezug aufweist.
2. Ein maßgeblicher Inlandsbezug, der regelmäßig ein Auslieferungshindernis entstehen lässt, ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn Handlungs- und Erfolgsort im Wesentlichen auf deutschem Staatsgebiet liegen. Wer hingegen in einer anderen Rechtsordnung handelt, indem er die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen auf dem Territorium eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union begeht oder dort einen Taterfolg herbeiführt, muss damit rechnen, auch dort zur Verantwortung gezogen zu werden.
3. Einer konkreten Abwägung im Einzelfall bedarf es immer dann, wenn der Beschuldigte ganz oder teilweise in Deutschland gehandelt hat, der Erfolg aber im Ausland
eingetreten ist. In diesen Fällen sind insbesondere das Gewicht des Tatvorwurfs und die praktischen Erfordernisse einer effektiven Strafverfolgung mit den grundrechtlich geschützten Interessen des Verfolgten unter Berücksichtigung der mit der Schaffung eines Europäischen Rechtsraums verbundenen Ziele zu gewichten und zueinander ins Verhältnis zu setzen.
4. Bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl hat der Gesetzgeber, soweit er nicht bereits seine Spielräume für eine tatbestandliche Konkretisierung nutzt, dafür Sorge zu tragen, dass die das Gesetz ausführenden Stellen in einem Auslieferungsfall in die gebotene Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen eintreten.
5. Ein Gericht verkennt Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 16 Abs. 2 GG und verletzt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wenn es ohne die gebotene detaillierte und vollständige Abwägung im Einzelfall die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen nach Polen zulässt, dem ein dort begangenes vorsätzliches Tötungsdelikt vorgeworfen wird, welches allerdings in Deutschland geplant, vorbereitet und möglicherweise auch bereits begonnen worden ist, indem das Tatopfer in Deutschland betäubt und erst dann mit dem Ziel der Tötung nach Polen verbracht worden ist (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 9. März 2016 [= HRRS 2016 Nr. 401]).
6. Gleichwohl kann auch in den Abwägungsfällen eine Auslieferung zulässig sein. Insoweit kann neben dem untergeordneten Charakter der im Inland ausgeführten Handlungen auch die Verfügbarkeit der maßgeblichen Beweismittel für ein Verfahren im Inland Berücksichtigung finden. Dabei dürfen allerdings die grundrechtlich geschützten Interessen des Beschuldigten nicht leichtfertig mit dem Hinweis darauf überspielt werden, dass den deutschen Stellen ein zusätzlicher Arbeits- und Zeitaufwand entstünde, weil die ausländischen Behörden um Rechtshilfe ersucht werden müssten.
1. Das Tragen einer Hose mit dem deutlich lesbaren Aufdruck „ACAB“ (als Abkürzung für die englische Parole „all cops are bastards“) im Gesäßbereich bringt eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck und fällt damit in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.
2. Der in einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Beleidigung liegende Grundrechtseingriff ist nicht gerechtfertigt, wenn die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anwendung und Auslegung des § 185 StGB als Schranke der freien Meinungsäußerung nicht beachtet worden sind.
3. Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte. Gesetze, die in die Meinungsfreiheit eingreifen, müssen dabei jedoch so interpretiert werden, dass der prinzipielle Gehalt dieses Rechts in jedem Fall gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.
4. Eine herabsetzende Äußerung, die nicht erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne Individualisierung ein Kollektiv erfasst, kann unter bestimmten Umständen als Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs gewertet werden. Dabei ist die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds des Kollektivs allerdings umso schwächer, je größer das Kollektiv ist.
5. Für die Annahme, eine alle Angehörigen einer Gruppe – hier: alle Polizeibeamten – erfassende Äußerung beziehe sich tatsächlich nur auf eine abgegrenzte Personengruppe – hier: auf die Parole wahrnehmende Polizeikräfte am Rande eines Fußballspiels – bedarf es konkreter Anhaltspunkte, die auf eine hinreichende Individualisierung des negativen Werturteils schließen lassen. Hierfür reicht der bloße Aufenthalt des Beschuldigten in einem Fußballstadion in dem Bewusstsein, dass dort die Polizei präsent ist, ebensowenig aus wie das Verlassen des Stadions hinter einer von der Polizei überwachten Gruppe.
1. Das Hochhalten eines Transparents mit dem Akronym „ACAB“ (als Abkürzung für die englische Parole „all cops are bastards“) bei einem Fußballspiel bringt eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck und fällt damit in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.
2. Der in einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Beleidigung liegende Grundrechtseingriff ist nicht gerechtfertigt, wenn die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anwendung und Auslegung des § 185 StGB als Schranke der freien Meinungsäußerung nicht beachtet worden sind.
3. Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte. Gesetze, die in die Meinungsfreiheit eingreifen, müssen dabei jedoch so interpretiert werden, dass der prinzipielle Gehalt dieses Rechts in jedem Fall gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.
4. Eine herabsetzende Äußerung, die nicht erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne Individualisierung ein Kollektiv erfasst, kann unter bestimmten Umständen als Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs gewertet werden. Dabei ist die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds des Kollektivs allerdings umso schwächer, je größer das Kollektiv ist.
5. Für die Annahme, eine alle Angehörigen einer Gruppe – hier: alle Polizeibeamten – erfassende Äußerung beziehe sich tatsächlich nur auf eine abgegrenzte Personengruppe – hier: auf die die Parole wahrnehmenden Polizeikräfte im Stadion – bedarf es konkreter Anhaltspunkte, die auf eine hinreichende Individualisierung des negativen Werturteils schließen lassen. Hierfür genügt es nicht, dass sich zur Sicherung des Fußballspiels Polizeikräfte im Stadion befanden, die nach der Vorstellung des Beschuldigten möglicherweise die hochgehaltene Buchstabenfolge wahrnehmen würden.
6. Die personalisierte Zuordnung einer Äußerung ist auch dann nicht entbehrlich, wenn sie als Schmähung zu werten ist, die keine Abwägung mit der Meinungsfreiheit mehr verlangt. Der Begriff der Schmähung erfasst außerdem nur Fälle, in denen es nicht mehr um die Auseinandersetzung in der Sache geht, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Eine Schmähung liegt daher fern, wenn unmittelbar vor der fraglichen Äußerung Kritik an den Polizeieinsätzen im Rahmen des Projekts „Stuttgart 21“ geäußert und damit eine in der Öffentlichkeit viel diskutierte Frage aufgenommen worden war.