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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2016
17. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Jasper Finke, Bucerius Law School Hamburg
Der Beschluss des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl vom 15. Dezember 2015[1] ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Er nimmt ein im Grunde alltägliches Rechtsproblem (I.) zum Anlass, um mit der herkömmlichen Systematik (II.) zu brechen. Die damit einhergehende Neuausrichtung des BVerfG, für die es die Identitätskontrolle instrumentalisiert (III.), wird ein neues Kapitel im Grundrechtsschutz aufschlagen. Das Urteil skizziert jedoch allenfalls die Grundzüge dieses neuen Kapitels, dessen genauer Inhalt sich erst durch nachfolgende Entscheidungen herauskristallisieren wird. Urteile des BVerfG sind mithin nicht nur einfache Fallentscheidungen oder Ausdruck eines Kompromisses des jeweiligen Senats. Sie müssen vielfach auch als Fortsetzungsgeschichte gelesen werden, wobei es wohl eher dem momentanen Zeitgeist entsprechen würde, einen Vergleich mit dem Format der Serie zu bemühen. Beide – Fortsetzungsgeschichten und Serien – weisen jedoch die Gemeinsamkeit auf, dass es am Ende entweder ausdrücklich oder unausgesprochen heißt: to be continued.
Die Auseinandersetzung um italienische Auslieferungsersuchen, die auf Verurteilungen in Abwesenheit basieren, ist nicht neu. Sowohl deutsche Gerichte als auch der EGMR haben sich mit den grund- bzw. menschenrechtlichen Implikationen solcher Fälle auseinandergesetzt.[2] Mit Einführung des Europäischen Haftbefehls[3] gewann dieses Problem erneut an Aktualität. Schließlich sollte dieser ohne Angleichung strafprozessualer Standards die Auslieferung innerhalb der Union ohne umfangreiche Prüfungen seitens des um die Auslieferung ersuchten Staates ermöglichen. Der dadurch entstandene latente Konflikt im Umgang mit Verurteilungen in Abwesenheit wurde durch Einführung des Art. 4a Abs. 1 im Rahmenbeschluss 2002/584/JI jedoch entschärft. Die Regelung erlaubt bei Verurteilung in Abwesenheit die Verweigerung der Auslieferung, listet in lit. a) bis d) jedoch vier Ausnahmen auf, von denen in Bezug auf den Sachverhalt, der zur Entscheidung anstand, allein die Art. 4a Abs. 1 lit. d) von Bedeutung war. Danach besteht auch im Fall persönlich nicht zugestellter Entscheidungen kein Auslieferungsverweigerungsrecht gegenüber dem ersuchenden Staat, wenn, erstens, der Person nach Übergabe die Entscheidung persönlich zugestellt wird, sie, zweitens, ausdrücklich auf ihr Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder ein Berufungsverfahren hingewiesen wird, wobei in dem jeweiligen Verfahren gewährleistet sein muss, dass der ursprüngliche Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden kann, und, drittens, die Person über die Frist, innerhalb derer die Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. eine Berufung beantragt werden kann, informiert wird.
Der Rahmenbeschluss erlaubt den Mitgliedstaaten, die Auslieferung zu verweigern, sofern einer der Ausnahmetatbestände nicht einschlägig ist, ohne dass er diese zur Verweigerung der Auslieferung verpflichtet. Dementsprechend wäre es nach dem Rahmenbeschluss prinzipiell zulässig, der Auslieferung stattzugeben, auch wenn keine der Ausnahmen, wie z.B. Art. 4 Abs. 1 lit. d) des Rahmenbeschlusses, einschlägig sind. Der deutschen Regelung, die den Rahmenbeschluss umsetzt, liegt wiederum eine andere Systematik zu Grunde. Wenn bestimmte Ausnahmetatbestände, die unter der Überschrift "Ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzungen" in § 83 IRG aufgeführt werden, nicht einschlägig sind, ist die Auslieferung unzulässig. Zu diesen Ausnahmen gehört in § 83 Nr. 3 IRG eine dem Art. 4a Abs. 1 lit. d) entsprechende Regelung. Nach Nr. 3 ist die Auslieferung auch bei Verurteilungen in Abwesenheit zulässig, "wenn die verurteilte Person nach Zustellung des Urteils ausdrücklich erklärt hat, das ergangene Urteil nicht anzufechten, oder innerhalb geltender Fristen keine Wiederaufnahme des Verfahrens oder kein Berufungsverfahren beantragt hat." Dabei muss sichergestellt sein, dass "die verurteilte Person ... zuvor ausdrücklich über ihr Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren" belehrt worden ist. Im Rahmen der Wiederaufnahme und des Berufungsverfahrens muss "der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und das ursprüngliche Urteil aufgehoben werden" können.
Das OLG Düsseldorf, dessen Beschluss Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war,[4] musste sich zunächst nur mit der Frage auseinandersetzen, ob das italienische Strafprozessrecht die Voraussetzungen des § 83 Nr. 3 IRG erfüllt. Dies war u.a. deshalb erforderlich geworden, weil der Betroffene, der in Florenz 1992 in Abwesenheit zu 30 Jahren Haft verurteilt und 2014 in Deutschland festgenommen worden war, Zweifel an der Vereinbarkeit substantiiert dargelegt hatte. Das OLG Düsseldorf reagierte auf das Vorbringen in der Form, dass es von der Generalstaatsanwaltschaft in Florenz Aufklärung über die Rechtslage verlangte. Diese versicherte in ihrer Antwort, der Betroffene werde im Einklang mit den Anforderungen des Rahmenbeschlusses behandelt, ohne allerdings zu begründen, wieso die rechtliche Situation in Italien den in § 83 Nr. 3 IRG aufgestellten Anforderungen entspricht. Das OLG ging nach einer eher kursorischen eigenen Prüfung der italienischen Rechtslage und unter Berücksichtigung der Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz davon aus, dass dem Betroffenen in Italien ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stehe, in dessen Rahmen eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen sei".[5]
Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen ist damit zunächst die Frage, ob das OLG Düsseldorf tatsächlich davon ausgehen durfte, dass die Voraussetzungen des § 83 Nr. 3 IRG erfüllt sind. Dabei handelt es sich einerseits um eine einfache Subsumtionsfrage. Andererseits ist Voraussetzung für die Subsumtion im engeren Sinne die Konkretisierung des anzuwendenden Maßstabs, bei dem natürlich auch grundrechtliche Überlegungen eine maßgebliche Rolle spielen. Die Bedeutung der Grundrechte bei der Auslegung einfachen Rechts ist jedoch schon lange kein Grundsatzproblem mehr. Vorliegend ging es allenfalls darum, welches Gericht anhand welcher Grundrechte diese Frage zu beantworten hatte.
Das BVerfG unterschied bisher zwischen Rechtsakten, die unionsrechtlich determiniert sind, und solchen, bei denen die Mitgliedstaaten über einen Umsetzungsspielraum verfügen. Bei unionsrechtlich determinierten Rechtsakten nahm das Gericht entsprechend der Solange II-Systematik seine Kontrollbefugnis zurück, solange auf Unionsebene ein strukturell gleichwertiger Grundrechtsschutz gewährleistet wird – ein Maßstab der positiv-rechtlich als Anforderung an die Europäische Integration in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verankert worden ist.[6] Die Differenzierung zwischen unionsrechtlich determinierten Rechtsakten und solchen mit Umsetzungsspielraum für die Mitgliedstaaten führt dazu, dass im Fall der Determinierung auch der nationale Umsetzungsakt bzw. darauf basierende nationale Entscheidungen an Unionsrecht zu messen sind, was auch die Unionsgrundrechte miteinschließt. Die mitgliedstaatlichen Gerichte können bzw. müssen etwaige Fragen im Wege des Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV dem EuGH vorlegen.[7] Kommen sie der Vorlagepflicht nicht nach, kann dagegen Grundrechtsschutz vor dem BVerfG wegen Entzug des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gesucht werden. Das Gericht gewährt diesen jedoch nur in Fällen, in denen dem Fachgericht Willkür vorgeworfen werden kann. Auch wenn die Einzelheiten des Willkürmaßstabs umstritten sind,[8] ist zumindest erforderlich, dass sich das jeweilige Gericht ausreichend mit den unionsrechtlichen Implikationen auseinandergesetzt und entsprechend kundig gemacht hat, so dass die Entscheidung in Bezug auf eine etwaige Vorlagepflicht vertretbar entschieden wurde.[9]
Das OLG Düsseldorf begründet in seiner Entscheidung zwar, warum es davon ausgeht, dass das italienische Strafprozessrecht den Anforderungen nach § 83 Nr. 3 IRG genügt. Es setzt sich allerdings nicht mit unionsrechtlichen bzw. unionsgrundrechtlichen Aspekten auseinander, sondern prüft allein anhand des in § 83 Nr. 3 IRG formulierten Maßstabs die italienische Rechtslage. Geht man aber, wie das BVerfG es ganz offensichtlich tut, davon aus, dass unter Berücksichtigung grundrechtlicher Wertungen erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit bestehen,[10] so wäre es naheliegend gewesen, die Sache wegen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG an das OLG zurückzuverweisen. Schließlich lässt sich nach den vom BVerfG aufgestellten Kriterien die Entscheidung des OLG insoweit als willkürlich bezeichnen, als dass es sich überhaupt nicht mit der Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH auseinandergesetzt und die Bedeutung der Unionsgrundrechte verkannt hat. Es wäre dann am EuGH gewesen zu entscheiden, ob Art. 4a Abs. 1 lit. d) des Rahmenbeschlusses so ausgelegt werden muss, dass in Fällen wie dem vorliegenden unter Berücksichtigung der Unionsgrundrechte die Mitgliedstaaten die Auslieferung verweigern dürfen. Hätte der EuGH dies verneint, hätte sich das BVerfG im Anschluss immer noch mit der Frage auseinandersetzen können, ob eine zusätzliche Kontrolle anhand der deutschen Grundrechte angezeigt ist – entweder, weil die Rechtsprechung ein strukturelles Defizit im Bereich des Grundrechtsschutzes offenbart (zumindest in Bezug auf den Schutz vor Auslieferung bei Verurteilungen in Abwesenheit) oder auf Grundlage der Systematik, die es nun mehr oder minder anlasslos[11]
entwickelt hat und die auf dem Konzept der Identitätskontrolle basiert.
Ausgehend vom Maastricht-Urteil[12] hat das BVerfG mit dem Lissabon-Urteil[13] drei Konzepte etabliert, mit denen die Europäische Integration rechtlich eingehegt und einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen wird. Zum Grundrechtsschutz, dessen Voraussetzungen das BVerfG ausgehend von seiner Solange II-Rechtsprechung konkretisiert hat, treten seitdem einerseits die Ultra-vires-Kontrolle und andererseits die Identitätskontrolle.[14] Während die Ultra-vires-Kontrolle ihre Rechtfertigung im Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und damit im Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG findet, basiert der Schutz der grundgesetzlich garantierten Verfassungsidentität auf dem Zusammenspiel von Art. 23 Abs. 1 S. 3 und Art. 79 Abs. 3 GG.[15] Die Verfassungsidentität wird allerdings nicht um ihrer selbst willen geschützt, sondern weil Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG den Gesetzgeber verpflichtet, bei Gründung der EU und den Veränderungen der vertraglichen Grundlagen die in Art. 79 Abs. 3 GG statuierten Grenzen zu beachten. Die sog. Ewigkeitsklausel begrenzt die Möglichkeiten der Verfassungsänderung, d.h. die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung dieser an der Gesetzgebung und die in Artikel 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze dürfen nicht Gegenstand von Verfassungsänderungen sein.[16] Diese Grenzen gelten auch für die Gründungsverträge der EU und deren Änderungen.[17] Weil nach verbreiteter, wenn auch nicht unwidersprochener Lesart Art. 79 Abs. 3 GG in diesem Kontext auch die Staatlichkeit der Bundesrepublik schützt,[18] hat das BVerfG im Lissabon-Urteil unter dem Stichwort der Verfassungsidentität einen Kern integrationsfester Bereiche genannt, die für die Staatlichkeit Deutschlands und damit die Verfassungsidentität maßgeblich sind.[19]
Der Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 GG legt deshalb folgende Systematisierung der unterschiedlichen Konzepte nahe: Die Verfassungsidentität kann nur durch die Übertragung weiterer Kompetenzen im Rahmen der Änderung der Unionsverträge betroffen sein. Als Auffangtatbestand nennt Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG zwar noch "vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird". Damit soll jedoch lediglich sichergestellt werden, dass auch Kompetenzübertragungen auf Einheiten, die formal außerhalb des institutionellen Gefüges der Union stehen, obwohl sie der Sache nach Teil des Europäischen Integrationsprozesses sind, erfasst sind. Die Identitätskontrolle soll mit anderen Worten vor Entstaatlichung schützen.[20] Dies führt jedoch dazu, dass sie auf Sekundärrechtsakte keine Anwendung findet.[21] Für diese greifen, sofern die Voraussetzungen vorliegen, allenfalls die Ultra-vires- oder die Grundrechtskontrolle. Für letztere bleibt es jedoch beim Solange II-Standard, und auch nicht jede Verletzung der Kompetenzen durch Unionsorgane ist für ein Ultra-vires-Verfahren ausreichend. Vielmehr muss das "kompetenzwidrige Handeln offensichtlich (sein) und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union ... erheblich ins Gewicht fallen.[22]
Diese auf dem Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 GG basierende Systematik hat das BVerfG mit seinem Beschluss zum Europäischen Haftbefehl grundlegend verändert. Statt zwischen den drei Konzepten der Identitäts-, der Ultra-vires- und der Grundrechtskontrolle zu unterscheiden, hat das Gericht erstere und letztere zu einer neuen Kategorie verschmolzen, die in Zukunft eigenständig neben
die bisherigen treten wird.[23] Die Argumentationsstruktur des Gerichts lässt sich mit seinen eigenen Worten wie folgt zusammenfassen: Die "Grenzen für die Öffnung deutscher Staatlichkeit ergeben sich ... aus der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes."[24] Die Verfassungsidentität erfasst die in Art. 1 GG statuierten Grundsätze, mithin die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.[25] Das Schuldprinzip, d.h. der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat das BVerfG bereits in seiner früheren Rechtsprechung an Art. 1 Abs. 1 GG rückgekoppelt.[26] Da nach der Auffassung des Gerichts nicht gewährleistet ist, dass das italienische Strafprozessrecht die Voraussetzungen des Art. 4a Abs. 1 lit. d) des Rahmenbeschlusses bzw. § 83 Nr. 3 IRG erfüllt, war das Schuldprinzip betroffen, so dass die Auslieferung, bei der die deutschen Grundrechte zu beachten sind, Art. 1 I GG verletzt hätte. Da Art. 79 Abs. 3 GG nur auf die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze verweist, werden auch nur Verstöße gegen die Menschenwürde erfasst. Der entscheidende Unterschied zur Solange II-Systematik besteht darin, dass es keines Nachweises eines strukturellen Grundrechtsdefizits auf Unionsebene mehr bedarf. Stattdessen kann nunmehr jeder Verstoß gegen die Menschenwürde unter Verweis auf den Schutz der Verfassungsidentität vor dem BVerfG geltend gemacht werden und zwar auch dann, wenn es sich um unionsrechtlich determinierte Rechtsakte handelt. Der Bruch mit der Solange II-Systematik und die Schaffung einer vierten Kategorie ist insoweit offensichtlich.
Natürlich ist das auf der Solange II-Rechtsprechung basierende Konzept nicht sakrosankt. Es ist in Reaktion auf die Europäische Integration entwickelt worden, so dass Veränderungen in diesem Bereich eine entsprechende Anpassung erfordern können. Dennoch sind der konzeptionelle Aufhänger und die systematische Herleitung, die das BVerfG gewählt hat, nur eingeschränkt überzeugend. Art. 79 Abs. 3 GG schützt die Verfassungsidentität nur im Fall von Verfassungsänderungen. Dasselbe gilt für die Bezugnahme auf die Ewigkeitsklausel in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG. Das BVerfG erweitert den Schutzbereich jedoch auf die Europäische Integration insgesamt. Diese Erweiterung hat allerdings keine Grundlage im Wortlaut des Grundgesetzes. Auch eine teleologische Herleitung ist angesichts der Eindeutigkeit des Wortlauts wenig erfolgsversprechend. Der Schutz der Verfassungsidentität ist kein Meta-Zweck des Grundgesetzes, sondern findet seine Grundlage in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG. Liegen deren tatbestandliche Voraussetzungen nicht vor, verliert das auf den Vorschriften basierende Konzept seine Überzeugungskraft. Die Verfassungsidentität ist damit ein weiteres Beispiel für abstrakte Konzepte, die sich von ihrer ursprünglichen Grundlage lösen und ein dogmatisches Eigenleben entwickeln, weil sie Bestand des Kanons akzeptierter Argumente werden. Statt die Verfassungsidentität zu instrumentalisieren wäre es aus systematischer Perspektive naheliegender gewesen, sich entweder auf die herausgehobene Stellung der Menschenwürde zu berufen und die Kriterien der Solange II-Systematik in Bezug darauf zu relativieren. Das Ergebnis wäre dasselbe gewesen, allerdings deutlich gradliniger und ohne Überdehnung des Konzepts der Verfassungsidentität.
Alternativ hätte das BVerfG natürlich auch den gesamten Grundrechtsschutz im Fall durch das Unionsrecht determinierter Rechtsakte neu konzeptualisieren können, statt sich auf den Schutz der Menschenwürde zu beschränken.[27] Dafür bot der Fall allerdings wenig Anlass. Schließlich vermittelt der Beschluss in seiner jetzigen Form bereits den Eindruck, dass das BVerfG nach einem Anlass für eine Neuausrichtung der Grundrechtskontrolle und damit einer Neupositionierung im Verhältnis zum EuGH gesucht hat. So betont das Gericht, dass auch die Anwendung der Unionsgrundrechte zu keinem anderen Ergebnis führte, da diese, erstens, durch entsprechende Verweise im Rahmenbeschluss bei dessen Auslegung zu berücksichtigen seien[28] und, zweitens, die über Art. 53 Abs. 3 GRC zu berücksichtigende Rechtsprechung des EGMR zur EMRK zum Ergebnis habe, dass eine Anwendung der Unionsgrundrechte zu demselben Auslegungsergebnis des Art. 4a Abs. 1 lit. d) des Rahmenbeschlusses führe, zu dem das BVerfG unter Anwendung von Art. 1 Abs. 1 GG gelangt sei.[29] Diese Auslegung sei auch derart evident (acte clair), dass es keiner Vorlage nach Art. 267 AEUV bedurfte.[30]
Der Beschluss schlägt zwar ein neues Kapitel im Grundrechtsschutz auf, skizziert dessen Inhalt aber nur grob, so dass einige offene Fragen bleiben. Eine von ihnen bezieht sich darauf, in welchem Umfang sich das BVerfG im Bereich des Art. 1 Abs. 1 GG von der Solange II-Systematik verabschiedet. Letztere basiert schließlich auf einem Konflikt zwischen Grundrechtsgewährung auf Unionsebene und Grundrechtsgewährleistung nach dem GG. Wie bereits ausgeführt liegt ein solcher nach Auffassung des BVerfG im vorliegenden Fall jedoch gar nicht vor. Wird das Gericht also nun in Zukunft in Konstellationen, in denen bei durch das Unionsrecht determinierten Rechtsakten eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG geltend gemacht wird, immer parallelen Grundrechtsschutz gewähren?
Für ein solches Verständnis sprechen die Aussagen des Gerichts selbst. So stellt es fest, dass es in Zukunft, sofern "die Verletzung der Menschenwürdegarantie geltend gemacht (wird), ... einen solchen schwerwiegenden
Grundrechtsverstoß im Rahmen der Identitätskontrolle" prüfen wird.[31] Zwar kündigt das Gericht erhöhte Zulässigkeitsanforderungen in Form von Substantiierungspflichten an, so dass Betroffene im Einzelnen darlegen müssen, dass Art. 1 Abs. 1 GG verletzt ist.[32] Diese beziehen sich aber nur auf den Menschenwürdeverstoß und nicht darauf, dass es im konkreten Fall zu einem Konflikt mit dem Grundrechtsschutz auf Unionsrechtsebene gekommen ist. Auch die jüngste Entscheidung des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes deutet auf eine parallele Grundrechtsprüfung hin.[33]
Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass das BVerfG in Zukunft zumindest insoweit der Solange II-Systematik treu bleibt, als dass es am Vorliegen eines Konflikts festhält. So könnte der Verzicht auf einen solchen nämlich auch den Besonderheiten der konkreten Fallkonstellation geschuldet sein. Außerdem hätte das Gericht andernfalls gar keinen Anlass gehabt, sich so grundsätzlich zu äußern. Sofern das Urteil also vor allem eine Neupositionierung des BVerfG in Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH in Åckerberg Fransson[34] und Melloni[35] bezweckt, sprächen mithin gute Gründe dafür, dass das BVerfG auch in Zukunft nur dann Grundrechtsschutz gewährleistet, wenn ein Konflikt mit der Grundrechtsgewährleistung auf Unionsebene entsteht. Der Unterschied zu Solange II bestünde dann darin, dass ein Einzelverstoß ausreicht. Damit hätte das BVerfG möglicherweise auch ein weiteres Ziel erreicht: Es muss nicht mehr selbst Fragen zur Auslegung des Unionsrechts dem EuGH vorlegen, sondern zwingt die Fachgerichte dies zu tun. Auf Grundlage der EuGH-Rechtsprechung kann es dann im Einzelfall entscheiden, ob es selbst auf Grundlage der neu eingeführten Kategorie im Einzelfall ergänzenden Grundrechtsschutz gewähreistet, um konkrete Entscheidungen des EuGH zur Grundrechtsgewährleistung zu revidieren.
Das leitet über zu einer weiteren offenen Frage. Es geht um die Abgrenzung der "neuen" Grundrechtskontrolle bei geltend gemachten Menschenwürdeverletzungen unter Bemühung der Verfassungsidentität von allen anderen vorgetragenen Grundrechtsverletzungen, für die nach wie vor der Nachweis eines strukturellen Grundrechtsdefizits erforderlich ist, da für alle Grundrechte außer Art. 1 GG die Solange II-Systematik nach wie vor Bestand hat. Diese Frage ist deshalb besonders drängend, weil sich argumentieren lässt, dass alle Grundrechte auf Art. 1 Abs. 1 GG basieren, mithin jedes Grundrecht einen Menschenwürdekern aufweist.[36] Dieser ist regelmäßig dann betroffen, wenn die Grundrechtsverletzung besonders schwerwiegend ist. Dementsprechend ließe sich in solchen Fällen plausibel begründen, dass das BVerfG auch im Einzelfall eine Grundrechtskontrolle ausüben müsse, weil auch Art. 1 Abs. 1 GG betroffen sei. Betroffene müssten gerade nicht nachweisen, dass der Grundrechtsschutz auf Unionsebene strukturell hinter dem durch das GG gewährten zurückbleibt. Das führt zwangsläufig zu der Frage, anhand welcher Kriterien sich ein "normaler" Grundrechtsverstoß von einem "schwerwiegenden" Grundrechtsverstoß abgrenzen lässt. Es dürfte außerordentlich schwierig sein, hierfür einen zuverlässigen Maßstab zu entwickeln, der darüber hinaus auch noch im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung operabel ist. In der Praxis wird das BVerfG das Problem wahrscheinlich durch das ebenfalls im Urteil aufgestellte Erfordernis einer Substantiierungspflicht im Einzelnen lösen.[37] Diese ist mangels Bestimmtheit als Maßstab allerdings ebenso ungeeignet. Ohne Konkretisierung drohen jedoch maßstabslose und damit willkürliche Entscheidungen.
Trotz aller Kritik an der systematischen Herleitung ist die vom BVerfG entwickelte Kategorie einer Grundrechtskontrolle bei geltend gemachter Menschenwürdeverletzung gegen durch das Unionsrecht determinierte Rechtsakte gekommen um zu bleiben. Entscheidend wird deshalb sein, wie das BVerfG die offenen Fragen beantworten bzw. mit den dahinterstehenden Fallkonstellationen umgehen wird. Natürlich ließe sich kritisieren, dass sich das Gericht zu sehr auf die institutionelle Auseinandersetzung mit dem EuGH konzentriert und darüber materielle Fragen nicht beantwortet habe, so dass es nun zu erheblichen Rechtsunsicherheiten hinsichtlich des durch das BVerfG gewährten Grundrechtsschutzes kommt. Letzteres ist richtig, die Forderung nach abschließender Maßstabsbildung in einem Urteil wie dem vorliegenden jedoch unrealistisch. Urteile entscheiden eben doch einen konkreten Fall. Außerdem sind sie Ausdruck eines Kompromisses der daran Beteiligten. Dementsprechend ist es für eine abschließende Bewertung noch zu früh. Erst die weiteren Entscheidungen werden zeigen, wie sich die Neupositionierung des BVerfG auswirken wird. Fortsetzung folgt... und dass es eine Fortsetzung geben wird, dürfte zu den derzeit wenigen Gewissheiten gehören.
[1] BVerfG NJW 2016, 1149 = HRRS 2016 Nr. 100.
[2] Siehe aus der Rechtsprechung des EGMR z.B. EGMR Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 31; EGMR Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 103 ff.; für eine Auflistung der Entscheidungen deutscher Gerichte siehe die Nachweise des BVerfG NJW 2016, 1148 (1160 f.) = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 158.
[3] Rahmenbeschluss 2002/584/JI vom 13. Juni 2002 i.d.F. des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI vom 26. Februar 2009.
[4] OLG Düsseldorf, Beschluss vom 7. November 2014, III – 3 Ausl 108/14, BeckRS 2015, 03446.
[5] OLG Düsseldorf, Beschluss vom 7. November 2014, III – 3 Ausl 108/14, Rn. 25, BeckRS 2015, 03446.
[6] BVerfGE 73, 271, 285; zur Solange II-Systematik gehört insb. die Konkretisierung durch den Bananenmarktbeschluss, wonach das BVerfG seine Kontrollbefugnisse nur ausübt, sofern der als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz auf Unionsebene generell nicht mehr gewährleistet wird; BVerfGE 102, 147, 164.
[7] Gem. Art. 267 AEUV besteht eine Vorlagepflicht nur für letztinstanzliche Gerichte; zur Abgrenzung zwischen letztinstanzlichen und nicht-letztinstanzlichen Gerichten siehe Wegener in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. (2011), Art. 267, Rn. 26 ff. m.w.N.
[8] Siehe hierzu u.a. Kunig in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 2, 6. Aufl. (2012), Art. 101. Rn. 35 m.w.N.
[9] BVerfG NJW 2001, 1267, 1268.
[10] BVerfG NJW 2016, 1149, 1159 f. = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 150 ff.
[11] Der Anlass ist zumindest kein Konflikt zwischen dem durch das GG geforderten Mindestmaß an Grundrechtsschutz und dem vom Unionsrecht gewährleisteten, d.h. eine Konfliktsituation, die im Grunde seit der Solange II-Entscheidung die Perspektive des BVerfG geprägt hat, lag gerade nicht vor. Ganz im Gegenteil: Das BVerfG geht davon aus, dass auch eine Bewertung auf Grundlage des Unionsrechts zu keinem anderen Ergebnis führen würde; vgl. BVerfG NJW 2016, 1157 f. = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 132 ff. Der Anlass könnte vielmehr in einer aus Perspektive des BVerfG ausufernden Anwendung der Unionsgrundrechte durch den EuGH liegen, die ihren Ausdruck in den Entscheidungen Åckerberg Fransson, EuGH EuZW 2013, 302, 303, und Melloni, EuGH NJW 2013, 1215, 1219 gefunden haben. Der Anlass wäre dann eine "wie du mir, so ich dir"-Logik: Weil der EuGH die Unionsgrundrechte extensiv und aus Sicht des BVerfG über die in Art. 52 III GRC gesetzten Grenzen hinweg anwendet, behält sich nun auch das BVerfG eine extensivere Anwendung der deutschen Grundrechte vor; ähnlich auch das Fazit von Sauer NJW 2016, 1134, 1138.
[12] BVerfGE 89, 155 = NJW 1993, 3047.
[13] BVerfGE 123, 267 = NJW 2009, 2267.
[14] Zur Systematik und Entwicklung siehe ausführlich Schwerdtfeger EuR 2015, 290, 292 ff.
[15] So bereits das BVerfG im Lissabon-Urteil; vgl. BVerfG NJW 2009, 2271 f. Auch im Urteil zum Europäischen Haftbefehl führt das Gericht Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG als Grundlage für die Identitätskontrolle an; vgl. BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 74.
[16] Siehe hierzu im Einzelnen Dietlein, in: Epping/Hillgruber, Beck OK GG, Art. 79 Rn. 22 ff.
[17] Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 76. EL (Dezember 2015), Art. 23 Rn. 122 ff.
[18] So z.B. die Auffassung von Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 10 (2012), S. 342 ff.; Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip (1997), S. 415; Gärditz/Hilgruber JZ 2009, 872, 879. Dagegen steht die schlichte Aussage: "Dafür spricht nichts"; Bryde in: v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, 5. Aufl. (2003), Art. 79 Rn. 49a.
[19] Hierzu zählen u.a. das polizeiliche und militärische Gewaltmonopol, das Budgetrecht, das Strafrecht, das Sozialstaatsprinzip und kulturelle Fragen; BVerfG NJW 2009, 2267, 2271.
[20] Scholz , in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 76. EL (Dezember 2015), Art. 23 Rn. 123.
[21] Schwerdtfeger EuR 2015, 290, 295.
[22] So das BVerfG in seinem Honeywell Beschluss aus dem Jahr 2010; BVerfGE 126, 286,304; diesen Maßstab hat das Gericht auch in seinem OMT-Urteil zu Grunde gelegt; BVerfG 2 BvR 2728/13 u.a. – 21. Juni 2016, Rn. 147 ff.
[23] So auch Sauer NJW 2016, 1134, 1135; Classen EuR 2016, 304, 307 f.
[24] BVerfG NJW 2016, 1149, 1150 = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 79.
[25] BVerfG NJW 2016, 1149, 1152 = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 87.
[26] Vgl. u.a. BVerfGE 45, 187, 259 f.; 130, 1, 26; 133, 168, 197.
[27] So haben sich Teile der Literatur in Reaktion auf das Urteil des BVerfG dafür ausgesprochen, das BVerfG möge sich einem neuen Kooperationsmodell zuwenden; vgl. Classen EuR 2016, 304, 308 f.; Sauer NJW 2016, 1134, 1135.
[28] BVerfG NJW 2016, 1149, 1157 f. = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 132 ff.
[29] BVerfG NJW 2016, 1149, 1158 f. = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 137 ff.
[30] BVerfG NJW 2016, 1149, 1162 = HRRS 2016 Nr. 100, Rn 167.
[31] BVerfG NJW 2016, 1149, 1151 = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 74.
[32] BVerfG NJW 2016, 1149, 1152 = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 89.
[33] BVerfG 2 BvR 890/16 – 6. Mai 2016 (KG) = HRRS 2016 Nr. 517.
[34] EuGH EuZW 2013, 302, 303.
[35] EuGH NJW 2013, 1215, 1219.
[36] So auch Sauer NJW 2016, 1134, 1137.
[37] BVerfG NJW 2016, 1149, 1152 = HRRS 2016 Nr. 100, Rn. 89.