HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2016
17. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

671. BGH 2 StR 523/15 – Beschluss vom 12. April 2016 (LG Frankfurt a. M.)

Notwehr (Erforderlichkeit der Notwehrhandlung bei mehreren möglichen Abwehrmitteln: vorherige Androhung lebensgefährlicher Handlungen, Flucht kein gleich geeignetes Mittel; Gebotenheit der Notwehrhandlung: keine grundsätzlichen Einschränkungen wegen bestehendem sozialen Näheverhältnis, keine Güterproportionalität).

§ 32 StGB

1. Ein soziales Näheverhältnis, wie eine Wohngemeinschaft, führt nicht allgemein zu einer Beschränkung des Notwehrrechts im Rahmen der Gebotenheit. Selbst eine Garantenstellung aufgrund einer rasch auflösbaren Gemeinschaft verpflichtet jedenfalls sowohl den Angreifer als auch den Verteidiger zur Rücksichtnahme. Sie kann daher das dem Notwehrrecht zu Grunde liegende Prinzip der Rechtsbewährung nicht durchbrechen. Die Fallgruppe der besonderen persönlichen Beziehungen, die zu einer sozialethischen Einschränkung des Notwehrrechts führen, ist daher auf Fälle einer engen familiären Verbundenheit oder eheähnlichen Lebensgemeinschaft zu beschränken.

2. Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, ist sie grundsätzlich berechtigt, das Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Der Angegriffene muss sich nicht mit der Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel begnügen, wenn deren Abwehrwirkung zweifelhaft ist; auf Risiken braucht er sich nicht einzulassen. Nur wenn mehrere wirksame Mittel zur Verfügung stehen, hat der Verteidigende dasjenige Mittel zu wählen, das für den Angreifer am wenigsten gefährlich ist. Wann eine weniger gefährliche Abwehrhandlung geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig zu beseitigen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BGH NJW 1991, 503, 504). Unter mehreren Verteidigungsmöglichkeiten ist der Angegriffene zudem nur dann auf eine für den Angreifer weniger gefährliche Alternative zu verweisen, wenn ihm genügend Zeit zur Wahl des Mittels sowie zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht.

3. Nach dem Rechtsbewährungsprinzip des Notwehrrechts entfällt dieses Recht im Allgemeinen nicht wegen der Möglichkeit einer Flucht vor dem Angreifer.

4. Das Notwehrrecht setzt keine Güterproportionalität voraus; eine Abwägung der Bedeutung des angegriffenen Rechtsguts mit dem verteidigten Rechtsgut ist danach im Allgemeinen nicht erforderlich. Nur wenn die Rechtsgutbeeinträchtigung durch die Verteidigungshandlung gegenüber einem unerheblichen Angriff eindeutig unverhältnismäßig ist, kann ein solches Missverhältnis angenommen werden, das zur Einschränkung des Notwehrrechts führt.


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

681. BGH 4 StR 133/16 – Beschluss vom 2. Mai 2016 (LG Bochum)

Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (Begriff des Anvertrautseins: Entgegennahme fürsorgerischer Tätigkeit ausreichend; keine Erstreckung auf Erziehungsberechtigte eines behandelten Minderjährigen).

§ 174c Abs. 1 StGB

1. Zwar setzt ein Anvertrautsein im Sinne des § 174c Abs. 1 StGB das Zustandekommen einer rechtsgeschäftlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer nicht voraus. Es kommt auch nicht darauf an, ob das Verhältnis auf Initiative des Patienten, Täters oder eines Dritten begründet wurde. Ohne Belang ist zudem, ob tatsächlich eine behandlungsbedürftige Krankheit oder eine Behinderung vorliegt, sofern nur die betroffene Person subjektiv eine Behandlungs- oder Beratungsbedürftigkeit empfindet. Das Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis muss auch nicht von einer solchen – zumindest beabsichtigten – Intensität und Dauer sein, dass eine Abhängigkeit entstehen kann, die es dem Opfer zusätzlich, d.h. über die mit einem derartigen Verhältnis allgemein verbundene Unterordnung unter die Autorität des Täters und die damit einhergehende psychische Hemmung hinaus, erschwert, einen Abwehrwillen gegenüber dem Täter zu entwickeln und zu betätigen. Es ist ausreichend, wenn das Opfer eine fürsorgerische Tätigkeit des Täters entgegennimmt (vgl. BGH NStZ 2012, 440 f.).

2. Schon seinem Wortlaut nach erstreckt sich der Schutz des § 174c StGB nicht auf bloße Informationsgespräche mit einem Dritten über den Behandlungsverlauf eines Patienten. Denn die Vorschrift setzt voraus, dass das Opfer dem Täter wegen einer Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist. Somit ist tatbestandlich nicht erfasst, wer sich aus einem anderen Grund als einer eigenen Krankheit oder Behinderung beraten oder betreuen lässt (vgl. BGH StV 2012, 663, 664 f.).

3. Der Schutzzweck des § 174c Abs. 1 StGB gebietet es auch nicht, den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Fälle zu erstrecken, in denen ein Arzt oder Psychologe, der einen minderjährigen Patienten behandelt und die Erziehungsberechtigten über den Therapiefortgang informiert, mit einem Elternteil ein einverständliches sexuelles Verhältnis eingeht.


Entscheidung

691. BGH 4 StR 317/15 – Beschluss vom 28. April 2016 (LG Essen)

Betrug (Vermögensschaden: Prinzip der Gesamtsaldierung, Schadenseintritt bei Eingehungs- und Erfüllungsbetrug).

§ 263 Abs. 1 StGB

1. Beim Betrug tritt ein Vermögensschaden ein, wenn die Vermögensverfügung des Getäuschten bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des Gesamtwerts seines Vermögens führt (Prinzip der Gesamtsaldierung; st. Rspr). Welche Vermögenspositionen im Einzelnen in diese Gesamtsaldierung einzustellen sind, bestimmt sich

auch danach, auf welches unmittelbar vermögensmindernde Verhalten des im Irrtum befindlichen Täuschungsopfers (Vermögensverfügung) abgestellt wird (vgl. BGH NStZ 2016, 283, 284).

2. Beim Betrug durch Abschluss eines Vertrages ergibt ein Vergleich der Vermögenslage vor und nach dem Vertragsabschluss, ob ein Vermögensschaden eingetreten ist. Dabei sind die beiderseitigen Vertragsverpflichtungen zu vergleichen (Eingehungsbetrug; st. Rspr). Wird im Rahmen eines bereits bestehenden Vertragsverhältnisses über den Umfang einer nach dem Vertrag zu erbringenden Leistung getäuscht und wird daraufhin von dem Getäuschten in vermeintlicher Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen eine Leistung erbracht, auf die der Täuschende nach dem Vertragsinhalt keinen Anspruch hatte, so erleidet der Getäuschte in dieser Höhe einen Vermögensschaden (Erfüllungsbetrug; vgl. BGHSt 32, 211, 213).


Entscheidung

692. BGH 4 StR 317/15 – Beschluss vom 28. April 2016 (LG Essen)

Betrug (Vermögensschaden: Prinzip der Gesamtsaldierung, Schadenseintritt bei Eingehungs- und Erfüllungsbetrug, Vorsatz bezüglich einer Vermögensschädigung).

§ 263 Abs. 1 StGB; § 15 StGB; § 16 Abs. 1 StGB

1. Beim Betrug tritt ein Vermögensschaden ein, wenn die Vermögensverfügung des Getäuschten bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des Gesamtwerts seines Vermögens führt (Prinzip der Gesamtsaldierung; st. Rspr). Welche Vermögenspositionen im Einzelnen in diese Gesamtsaldierung einzustellen sind, bestimmt sich auch danach, auf welches unmittelbar vermögensmindernde Verhalten des im Irrtum befindlichen Täuschungsopfers (Vermögensverfügung) abgestellt wird (vgl. BGH NStZ 2016, 283, 284).

2. Beim Betrug durch Abschluss eines Vertrages ergibt ein Vergleich der Vermögenslage vor und nach dem Vertragsabschluss, ob ein Vermögensschaden eingetreten ist. Dabei sind die beiderseitigen Vertragsverpflichtungen zu vergleichen (Eingehungsbetrug; st. Rspr). Wird im Rahmen eines bereits bestehenden Vertragsverhältnisses über den Umfang einer nach dem Vertrag zu erbringenden Leistung getäuscht und wird daraufhin von dem Getäuschten in vermeintlicher Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen eine Leistung erbracht, auf die der Täuschende nach dem Vertragsinhalt keinen Anspruch hatte, so erleidet der Getäuschte in dieser Höhe einen Vermögensschaden (Erfüllungsbetrug; vgl. BGHSt 32, 211, 213).