HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2015
16. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

1117. BGH 3 StR 63/15 – Beschluss vom 15. Oktober 2015

Strafrahmenverschiebung bei selbst verschuldeter Trunkenheit (erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit; schuldhaftes Sich-Berauschen; tatrichterliche Ermessensausübung); Anfrageverfahren.

§ 21 StGB; § 49 StGB; § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG

1. Hat der Tatrichter bei der Strafrahmenwahl neben der alkoholbedingten erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit alle relevanten weiteren schuldmildernden Gesichtspunkte berücksichtigt, so liegt nach Ansicht des Senats grundsätzlich kein Ermessensfehlgebrauch darin, dass er dem Angeklagten die fakultative Strafmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB (oder die Annahme eines minder schweren Falles) allein deswegen versagt, weil dieser sich schuldhaft durch Alkoholgenuss in den Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit versetzt hat.

2. In der verschuldeten Herbeiführung eines Rausches liegt – wie sich auch der Wertung der §§ 323a StGB, 122 OWiG, 7 WStG entnehmen lässt – keine wertneutrale, sozialübliche Erscheinung, sondern im Hinblick auf die allgemeine Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit des Berauschten ein selbstständiges, rechtlich fassbares, strafwürdiges Unrecht. Denn durch die zu verantwortende Berauschung versetzt sich der Täter in einen Zustand der – was allgemein bekannt ist – durch Enthemmung, Verminderung von Einsichts- und Unterscheidungsvermögen und Verschlechterung von Reaktionsfähigkeit und Körperbeherrschung und die damit einhergehende gesteigerte Gefährlichkeit gekennzeichnet ist.

3. Es ist nach Ansicht des Senats nicht zweifelhaft, dass allein das verantwortliche Sich-Berauschen des Täters vor der Tat für sich ein schulderhöhender Umstand ist, der im Rahmen der Ermessensausübung nach § 21 StGB Berücksichtigung zu finden hat. Die sich daran anschließende Frage, ob dieser Umstand geeignet ist, im konkreten Fall die erhebliche alkoholbedingte Minderung der Schuldfähigkeit im Tatzeitpunkt so weit auszugleichen, dass das Absehen von der Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB gerechtfertigt ist, betrifft indes Wertungen, die, wie die Strafzumessung generell, Sache des Tatrichters ist und vom Revisionsgericht nur auf Rechtsfehler überprüft werden kann.

4. Einen gesetzlichen Wertungsmaßstab dahin, dass eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB dem infolge schuldhaften Sich-Berauschens in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkten Täter nur dann versagt werden darf, wenn ihm zumindest bewusst sein konnte, dass sich infolge seiner Alkoholisierung das Risiko strafbaren oder ordnungswidrigen Verhaltens signifikant erhöhen werde, vermag der Senat nicht zu erkennen.


Entscheidung

1164. BGH 2 StR 423/14 – Urteil vom 11. März 2015 (LG Aachen)

Anordnung des Berufsverbots (Missbrauch des Berufs: nicht bereits, wenn Tatbegehung nur durch Beruf ermöglicht); Betäubungsmittelverabreichung mit Todesfolge (Verhältnis zum Totschlag: Tateinheit); Mord (Heimtücke); Totschlag (sonstiger minderschwerer Fall: Gesamtwürdigung).

§ 70 Abs. 1 StGB; § 30 Abs. 1 Nr. BtMG; § 211 StGB; § 212 Abs. 1 StGB; § 213 StGB

1. Für die Anordnung eines Berufsverbots ist zu prüfen, ob die Anlasstat in symptomatischer Weise die Unzuverlässigkeit des Täters in seinem Beruf erkennen lässt. Ein Missbrauch des Berufs liegt nur vor, wenn die Tat in einem inneren Zusammenhang mit der Berufsausübung steht. Es genügt nicht, dass der Beruf rein äußerlich die Möglichkeit gibt, bestimmte strafbare Handlungen zu begehen (vgl. BGH NJW 1983, 2099).

2. Der Tatbestand des § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG wird nicht vom Totschlagstatbestand verdrängt. Vielmehr liegt Tateinheit vor.

3. Für das unerlaubte Verabreichen von Betäubungsmitteln mit Todesfolge scheidet eine teleologische Reduktion, wie sie nach dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit bei Überlassung von Betäubungsmitteln an Suizidenten angenommen wird, aus.


Entscheidung

1188. BGH 4 ARs 29/14 – Beschluss vom 19. November 2015 (BGH)

Bemessung von Schmerzensgeld (Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten).

§ 253 Abs. 2 BGB

Der 4. Strafsenat schließt sich der Rechtsauffassung des Großen Senats für Zivilsachen in den Beschlüssen vom 6. Juli 1955 und vom 12. Oktober 2015 an, wonach bei der Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld nach § 253 Abs. 2 BGB alle Umstände des Falles berücksichtigt werden können. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten können dabei nicht von vornherein ausgeschlossen werden. An seiner eigenen, weiter gehenden Rechtsprechung hält er nicht fest.


Entscheidung

1137. BGH 1 StR 287/15 – Urteil vom 29. September 2015 (LG Traunstein)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Zustand der Schuldunfähigkeit: Alkoholrausch als Defektzustand, Anforderungen an die Darlegung im Urteil; Gefährlichkeitsprognose: Anordnung bei zu erwarteten Taten nur leichter Kriminalität, Bedrohung); tatrichterliche Beweiswürdigung (Abweichung von einem Sachverständigengutachten: Anforderungen an die Darlegung im Urteil).

§ 63 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 241 Abs. 1 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO

1. Bei der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus muss das Urteil mitteilen, welches Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB erfüllt ist und ob es sich dabei nur um eine vorübergehende Störung oder einen länger andauernden Defektzustand gehandelt hat. Dabei muss vom Tatgericht im Einzelnen dargelegt werden, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 75, 76 mwN).

2. Auch bei Zusammenwirken von Persönlichkeitsstörung und Alkoholkonsum kann eine Unterbringung nach § 63 StGB angebracht sein, wenn der Beschuldigte an einer krankhaften Alkoholsucht leidet, in krankhafter Weise alkoholüberempfindlich ist oder an einer länger andauernden geistig-seelischen Störung leidet, bei der bereits geringer Alkoholkonsum oder andere alltägliche Ereignisse die erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit auslösen können und dies getan haben (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 207).

3. Für eine Unterbringung muss die Anlasstat selber nicht erheblich im Sinne des § 63 StGB sein muss. Maßgeblich ist vielmehr, welche Taten künftig von dem Täter infolge seines Zustands zu erwarten sind und ob diese erheblich sind

4. Zwar müssen die zu erwartenden Taten grundsätzlich im Bereich mittlerer Kriminalität liegen, jedoch ist eine Unterbringung nach § 63 StGB auch unter dieser Schwelle nicht völlig ausgeschlossen. Dann ist allerdings eine besonders sorgfältige Darlegung der Gefährlichkeitsprognose und der konkreten Ausgestaltung der Taten erforderlich (vgl. BGH NStZ 2014, 571, 573).

5. Auch Todesdrohungen können eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Rechtsfriedens darstellen, insbesondere wenn diese unter Einsatz gefährlicher Gegenstände ausgesprochen werden (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 75, 77) und den Bedrohten nachhaltig und massiv in seinem elementaren Sicherheitsempfinden beeinträchtigen, da die Bedrohung aus Sicht des Betroffenen die nahe liegende Gefahr ihrer Verwirklichung in sich trägt (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 337, 338).

6. Zwar darf das Tatgericht von der Einschätzung eines Sachverständigen abweichen. Dafür muss es sich aber erschöpfend mit dessen Ausführungen auseinandersetzen und diese im Einzelnen darlegen, da andernfalls dem Revisionsgericht eine Prüfung nicht möglich ist, ob der Tatrichter das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat sowie woher sich sein besseres Fachwissen ergibt, nachdem er zuvor glaubte, sachverständiger Beratung zu bedürfen (vgl. BGH NStZ-RR 2010, 105, 106).


Entscheidung

1178. BGH 4 StR 275/15 – Urteil vom 22. Oktober 2015 (LG Detmold)

Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Ermessen des Tatrichters: zu erwartende Wirkung eines erstmals erlebten Strafvollzugs, Anforderungen an die Darstellung im Urteil); Strafzumessung (erlittene Untersuchungshaft als Strafmilderungsgrund).

§ 66 Abs. 2, Abs. 3 StGB; § 46 StGB; § 112 Abs. 1 StPO

1. Die Wirkungen eines erstmals erlebten längeren Strafvollzugs und von in diesem Rahmen (möglicherweise) wahrgenommenen Therapieangeboten können zwar im Einzelfall wesentliche gegen die Anordnung der Maßregel sprechende Gesichtspunkte darstellen (vgl. BGH StV 2011, 276). Ein Absehen von der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung trotz bestehender hangbedingter Gefährlichkeit kommt in Ausübung des in § 66 Abs. 2 (und Abs. 3) StGB eingeräumten Ermessens aber nur dann in Betracht, wenn bereits zum Zeitpunkt des Urteilserlasses die Erwartung begründet ist, der Täter werde hierdurch eine Haltungsänderung erfahren, so dass für das Ende des Strafvollzugs eine günstige Prognose gestellt werden kann (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 272).

2. Im Zeitpunkt des Urteilserlasses noch ungewisse positive Veränderungen und lediglich mögliche Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug können indes nicht genügen (vgl. BGH NStZ 2015, 510, 511). Solche möglichen Veränderungen sind, sofern sie eingetreten sind, erst im Rahmen der obligatorischen Entscheidung gemäß § 67c Abs. 1 StGB vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe zu berücksichtigen.

3. Das Gericht muss prüfen, ob zumindest konkrete Anhaltspunkte für einen Behandlungserfolg vorliegen (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 172). Es gibt keine gesicherte Vermutung dahingehend, dass eine langjährige, erstmalige Strafverbüßung stets zu einer Verhaltensänderung führen wird (vgl. BGH NStZ 2010, 270, 272).


Entscheidung

1173. BGH 4 StR 86/15 – Urteil vom 8. Oktober 2015 (LG Essen)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: Gesamtwürdigung der Person des Täters, Anforderungen an die Darstellung im Urteil, Umgang mit einem Sachverständigengutachten, dem nicht gefolgt wird).

§ 63 StGB; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darf nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für neuerliche schwere Störungen des Rechtsfriedens besteht. Dass der Täter trotz bestehenden Defekts lange Zeit keine Straftaten begangen hat, ist regelmäßig ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten. Andererseits kann aber auch schon eine erste Straftat belegen, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist. Ob dies der Fall ist, muss aufgrund einer umfassenden Würdigung der Person des Täters, seines Vorlebens und der Symptomtat unter Ausschöpfung der erreichbaren Beweismittel geprüft werden.

2. Der Tatrichter, der in einer schwierigen Frage den Rat eines Sachverständigen in Anspruch genommen hat und der diese Frage im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss die Darlegungen des Sachverständigen im Einzelnen wiedergeben, insbesondere dessen Stellungnahme zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (st. Rspr.).


Entscheidung

1134. BGH 1 StR 142/15 – Urteil vom 28. Oktober 2015 (LG München I)

Anordnung der Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik (Gefährlichkeitsprognose: Straftaten von erheblicher Bedeutung)

§ 63 StGB

Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird, also solche, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben. Die Annahme einer gravierenden Störung des Rechtsfriedens setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs voraus, dass die zu erwartenden Delikte wenigstens in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Ergibt sich die Erheblichkeit drohender Taten nicht aus dem Delikt selbst, wie etwa bei Verbrechen, kommt der zu befürchtenden konkreten Ausgestaltung der Taten maßgebliche Bedeutung zu (vgl. BGH NStZ 2014, 571).


Entscheidung

1140. BGH 1 StR 416/15 – Beschluss vom 13. Oktober 2015 (LG Essen)

Aussetzung einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr zur Bewährung (besondere Umstände: Begriff, Kumulation mehrerer einfacher Milderungsgründe).

§ 56 Abs. 2 Satz 1 StGB

Besondere Umstände im Sinne von § 56 Abs. 2 Satz 1 StGB sind Milderungsgründe von besonderem Gewicht, die eine Strafaussetzung trotz des erheblichen Unrechts- und Schuldgehalts, der sich in der Strafhöhe widerspiegelt, als nicht unangebracht und als den allgemeinen vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderlaufend erscheinen lassen (vgl. BGHSt 29, 370). Aus der Anforderung, dass Umstände im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB besondere sein müssen, ergibt sich, dass einzelne durchschnittliche Gründe eine Aussetzung nicht rechtfertigten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt es, dass Umstände, die bei ihrer Einzelbewertung nur durchschnittliche oder einfache Milderungsgründe wären, durch ihr Zusammentreffen das Gewicht besonderer Umstände erlangen.