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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2015
16. Jahrgang
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1. Das von Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Recht auf effektiven Rechtsschutz verbietet es, einen von der jeweiligen Verfahrensordnung eröffneten Rechtsbehelf durch eine überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften für den Betroffenen leerlaufen zu lassen. Formerfordernisse dürfen nicht weiter gehen, als es durch ihren Zweck geboten ist.
2. Es begegnet im Grundsatz keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so auszulegen, dass der Klageerzwingungsantrag in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit wiedergeben und eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage in materieller und formeller Hinsicht rechtfertigt.
3. Die Darlegungsanforderungen werden jedoch überspannt, wenn von dem Antragsteller verlangt wird, sich mit rechtlich Irrelevantem auseinanderzusetzen, sich ohne Veranlassung Kenntnis von den Akten zu verschaffen oder die staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen oder die Einlassungen des Beschuldigten auch in irrelevanten Abschnitten wiederzugeben, obwohl sich deren wesentlicher Inhalt aus der Antragsschrift ergibt.
4. In einem Verfahren gegen mehrere Ärzte wegen des Todes eines Kindes nach einer Operation kann von dem Antragsteller zwar verlangt werden, die Fragestellungen und wesentlichen Ergebnisse mehrerer Sachverständigengutachten zur Einhaltung von Standards der postoperativen Überwachung nach einer Anästhesie darzulegen. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben sind jedoch verletzt, wenn darüber hinaus gefordert wird, auch die Gründe für die Gutachtenaufträge sowie die Kontexte wiederzugeben, in denen die aus den Gutachten zitierten Passagen im Original stehen, obwohl dies für eine Prüfung der Schlüssigkeit des Klageerzwingungsantrags ohne Relevanz ist.
5. Ebenso kann zwar grundsätzlich gefordert werden, Einlassungen der Beschuldigten ihrem wesentlichen Inhalt nach wiederzugeben. Ist dies jedoch geschehen, so darf der Antrag nicht allein deshalb als unzulässig verworfen werden, weil in der Antragsschrift die Bestätigung fehlt, dass es keine weiteren wesentlichen Einlassungen gibt.
1. Wird ein Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens wegen eines dauerhaften Verfahrenshindernisses eingestellt, kann das Gericht nach dem Gesetz nur dann davon absehen, dem Angeschuldigten dessen notwendige Auslagen zu erstatten, wenn es überzeugt ist, dass der Angeschuldigte ohne das Verfahrenshindernis verurteilt worden wäre.
2. Übt das Gericht bei seiner Auslagenentscheidung nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO in Verkennung des Ausnahmecharakters der Norm und entgegen dem eindeutigen Gesetzeswortlaut kein Ermessen aus, so ist seine Entscheidung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar und daher willkürlich.
3. Ungeachtet der Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit bei der Ausübung des Ermessens auf die Stärke des Tatverdachts abgestellt werden darf, liegt jedenfalls in der bloßen Feststellung, gegen den Angeschuldigten bestehe zumindest weiterhin ein hinreichender Tatverdacht, keine Ermessensausübung.
4. Das Rechtsschutzbedürfnis für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde besteht hinsichtlich einer erstinstanzlichen Entscheidung ausnahmsweise auch nach einer Beschwerdeentscheidung fort, wenn das Beschwerdegericht gesetzlich an die tatsächlichen Feststellungen der erstinstanzlichen Entscheidung gebunden ist, so dass diese mit der Beschwerdeentscheidung nicht prozessual überholt ist.
1. Auch im Auslieferungsverfahren prüft das Bundesverfassungsgericht die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall nur daraufhin nach, ob spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die fachgerichtliche Entscheidung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar und damit willkürlich ist.
2. Behörden und Gerichte müssen sich außerdem vergewissern, dass die Auslieferung mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen vereinbar ist, zu denen das Gebot der Verhältnismäßigkeit zählt. Eine Auslieferung ist unzulässig, wenn die Strafe, die dem Verfolgten im ersuchenden Staat droht, unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen und damit unerträglich hart erscheint oder wenn sie grausam, unmenschlich oder erniedrigend ist.
3. Allerdings geht das Grundgesetz von der Eingliederung Deutschlands in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft aus, so dass es geboten ist, im Rechtshilfeverkehr die Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen grundsätzlich zu achten, auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen.
4. Bei der Prüfung der Vereinbarkeit einer Auslieferung mit den verfassungsrechtlichen Mindeststandards erhöhen sich die Begründungsanforderungen mit dem Ausmaß des drohenden Eingriffs in die persönliche Freiheit des Betroffenen. Daher sind in jedem Fall Ausführungen zu der im Einzelfall zu erwartenden Strafe erforderlich, wobei auch die zu erwartenden Umstände der Strafvoll-
streckung, des Strafvollzuges und einer möglichen Strafaussetzung zu berücksichtigen sind.
5. Auch wenn im Auslieferungsverfahren der Grundsatz der Amtsaufklärung gilt, ist dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Den Verfolgten trifft insoweit eine Darlegungslast dafür, dass gerade im konkreten Fall die genannten Grundsätze mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht eingehalten werden. Anderes gilt nur dann, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte besteht.
6. Die Entscheidung über eine Auslieferung – hier: eines US-amerikanischen Staatsangehörigen an die Vereinigten Staaten unter anderem wegen „Verschwörung“ zum Wertpapierbetrug und zur Geldwäsche – genügt den Begründungsanforderungen, wenn sie sich mit der konkret zu erwartenden Strafe, der Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung sowie damit auseinandergesetzt, ob dies mit dem Gebot des sinn- und maßvollen Strafens vereinbar ist. Dabei verletzt es nicht das Willkürverbot, wenn das Gericht die Mitteilung der amerikanischen Behörden, bei der – innerhalb eines konkret benannten Strafrahmens – festzusetzenden Strafe sei unter anderem die „Vorgeschichte“ des Angeklagten zu berücksichtigen, so interpretiert, dass hiervon auch die Vorstrafen des Angeklagten erfasst sind.
1. Das von Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Recht auf effektiven Rechtsschutz verbietet es, den Rechtsuchenden mit einem unübersehbaren „Annahmerisiko“ und dessen Kostenfolgen zu belasten. Die Rechtsmittelgerichte dürfen ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel außerdem nicht durch die Art und Weise, in der sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leerlaufen lassen.
2. Die Nachprüfung von Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern auf dem Gebiet des Strafvollzugsrechts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung kann auch bei einer fehlerhaften Rechtsanwendung in der angefochtenen Entscheidung ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn nicht zu erwarten ist, dass der Rechtsfehler in weiteren Fällen Bedeutung erlangen wird.
3. Allerdings verlangt Art. 19 Abs. 4 GG in derartigen Fällen, dass konkrete tatsächliche Umstände die Prognose rechtfertigen, die Strafvollstreckungskammer werde den Rechtsfehler künftig vermeiden. Die bloße Vermutung, das Ausgangsgericht werde sich durch die Erwägungen des Beschwerdegerichts in der Beschlussbegründung belehren lassen und diese bei künftigen Entscheidungen berücksichtigen, rechtfertigt eine Verwerfung der Rechtsbeschwerde nicht.