HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2015
16. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

629. BGH 4 StR 577/14 - Urteil vom 21. Mai 2015 (LG Bielefeld)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit eines Freispruchs; in dubio pro reo); Änderung des Geschäftsverteilungsplans im Laufe des Geschäftsjahres (Recht auf den gesetzlichen Richter; Dokumentationspflichten; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 261 StPO; § 21e Abs. 3 GVG

1. Gemäß § 21e Abs. 3 GVG kann die Geschäftsverteilung im Laufe des Geschäftsjahres u.a. wegen dauernder Verhinderung einzelner Richter geändert werden (vgl. BGHSt 27, 209, 210). Da jede Umverteilung von Geschäftsaufgaben während des laufenden Geschäftsjahres mit Gefahren für das verfassungsrechtliche Gebot der Gewährleistung des gesetzlichen Richters verbunden ist (vgl. BGHSt 53, 268, 273), ist es geboten, die Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern, zu dokumentieren. Um dem Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung entgegenzuwirken (vgl. BVerfG, NJW 2009, 1734, 1735), muss diese Dokumentation umfassend und nachvollziehbar sein.

2. Die revisionsgerichtliche Kontrolle ist diesbezüglich nicht auf eine reine Willkürprüfung beschränkt, sondern erstreckt sich auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Änderung des Geschäftsverteilungsplans (BVerfG, NJW 2005, 2689, 2690). Auch deshalb muss die Dokumentation der Gründe für die Änderung des Geschäftsverteilungsplans so detailliert ausgestaltet sein, dass dem Revisionsgericht eine Prüfung der Rechtmäßigkeit möglich ist. Die Dokumentation muss im erforderlichen Umfang grundsätzlich schon im Zeitpunkt der Präsidiumsentscheidung, spätestens aber in dem Zeitpunkt vorhanden sein, in dem über einen Besetzungseinwand zu entscheiden ist (vgl. BGHSt 53, 268, 276 f.).

3. Spricht der Tatrichter den Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist das durch das Revisionsgericht hinzunehmen, denn die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder an die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten überzogene Anforderungen stellt (st. Rspr).

4. Sind mehrere einzelne Erkenntnisse angefallen, so ist eine Gesamtwürdigung aller Beweise vorzunehmen. In deren Rahmen darf ein auf einen feststehenden Kern gestütztes Beweisanzeichen, dessen Bedeutung für sich genommen unklar bleibt, nicht vorab isoliert nach dem Zweifelssatz beurteilt werden. Beweisanzeichen können nämlich in einer Gesamtschau wegen ihrer Häufung und gegenseitigen Durchdringung die Überzeugung von der Richtigkeit eines Vorwurfs begründen (st. Rspr).

5. Hat der Angeklagte Angaben gemacht, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine (ausreichenden) Beweise gibt, sind diese in die Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses einzubeziehen und nicht ohne weiteres als unwiderlegt dem Urteil zu Grunde zu legen. Ihre Zurückweisung erfordert nicht, dass sich das Gegenteil der Behauptung positiv feststellen ließe (st. Rspr). Auch im Übrigen gebietet es der Zweifelssatz nicht, zugunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.).

6. Der Tatrichter ist ferner gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist rechtsfehlerhaft (vgl. BGH NStZ 2002, 656, 657).

7. Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil oder andere Möglichkeiten denknotwendig – „zwingend“ – ausschließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt.


Entscheidung

678. BGH 5 StR 91/15 - Beschluss vom 20. Mai 2015 (LG Hamburg)

Besetzungsrüge (gesetzlicher Richter; strenger Maßstab; Bestellung eines „zeitweiligen Vertreters“; „ad hoc-Bestellung“; bei Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans absehbar nicht hinreichende Vertretungs-

regelung; auf Dauer angelegte Erweiterung der Vertreterreihe; „Ringvertretung“).

§ 21e Abs. 3 GVG; Art. 101 Abs. 1 GG; § 338 Nr. 1b StPO

Die Bestellung eines „zeitweiligen Vertreters“/einer „ad hoc-Vertretung“ kann vor dem Hintergrund des durch Art. 101 Abs. 1 GG gebotenen strengen Maßstabs nur zulässig sein, wenn die anlassgebende Entwicklung bei Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans nicht voraussehbar gewesen ist. Anderenfalls muss eine auf Dauer angelegte Erweiterung der Vertreterreihe nach abstrakten Grundsätzen erfolgen.


Entscheidung

628. BGH 4 StR 21/15 - Beschluss vom 1. Juni 2015 (LG Magdeburg)

Revisionsbegründungsfrist (Beginn der Frist bei Zustellung an mehrere Empfangsberechtigte); gewerbsmäßiger Betrug (Begriff der Gewerbsmäßigkeit: mittelbarer Vorteil des Täters); rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (Darstellung im Urteil).

§ 345 Abs. 1 StPO; § 263 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 StGB; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO

1. Hat ein Angeklagter mehrere Verteidiger, genügt zwar die Zustellung des Urteils an einen von ihnen. Wird das Urteil aber mehreren Empfangsberechtigten zugestellt, beginnt die Revisionsbegründungsfrist grundsätzlich nicht vor dem Zeitpunkt, zu dem eine wirksame Zustellung an den letzten Zustellungsempfänger vollzogen wurde. Stellt das Gericht das Urteil daher mehreren Verteidigern zu, so läuft die Revisionsbegründungsfrist für jeden dieser Verteidiger ab der letzten Zustellung, sofern diese innerhalb der bereits zuvor in Lauf gesetzten Frist erfolgt ist. Nur wenn die Revisionsbegründungsfrist aufgrund der ersten Zustellung(en) bei einer der weiteren Zustellungen bereits abgelaufen war, wird durch diese keine neue Frist in Gang gesetzt (vgl. BGH wistra 2012, 435, 436 mwN).

2. Ein mittelbarer Vorteil des Täters reicht zur Begründung der Gewerbsmäßigkeit nur aus, wenn er ohne Weiteres darauf zugreifen kann oder sich selbst geldwerte Vorteile aus den Taten über Dritte verspricht (vgl. BGH StV 2012, 339). Für die Annahme von Gewerbsmäßigkeit ist aber weder erforderlich, dass der Täter seinen Lebensunterhalt allein oder auch nur überwiegend durch die Begehung von Straftaten bestreiten will, noch dass er tatsächlich auf die betrügerisch erlangten Vermögenswerte zugegriffen hat; denn maßgeblich und ausreichend ist eine dahingehende Absicht (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 373).

3. Der Tatrichter hat zwar im Falle einer möglichen rechtstaatswidrigen Verfahrensverzögerung Art und Ausmaß einer Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen (vgl. BGHSt 52, 124, 146). Der sachlich-rechtlich zu fordernde Erörterungsbedarf darf aber mit Rücksicht auf die vielen denkbaren Verfahrensvorgänge, die für die Entscheidung eine Rolle spielen können, nicht überspannt werden. Es reicht deshalb aus, wenn das Revisionsgericht anhand der Ausführungen im Urteil im Sinne einer Schlüssigkeitsprüfung nachvollziehen kann, ob die festgestellten Umstände die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK tragen und sich die Kompensationsentscheidung innerhalb des dem Tatrichter insoweit eingeräumten Bewertungsspielraums hält.


Entscheidung

625. BGH 2 StR 518/14 - Beschluss vom 16. April 2015 (LG Köln)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Bewertung des partiellen Schweigens des Angeklagten).

§ 261 StPO

Macht ein Angeklagter zu einem bestimmten Punkt eines einheitlichen Geschehens keine Angaben, dürfen daraus für ihn nachteilige Schlüsse nur gezogen werden, wenn nach den Umständen Äußerungen zu diesem Punkt zu erwarten gewesen wären, andere mögliche Ursachen des Verschweigens ausgeschlossen werden können und die gemachten Angaben nicht ersichtlich fragmentarischer Natur sind (vgl. BGH NStZ 2003, 45).


Entscheidung

609. BGH 1 StR 135/15 - Beschluss vom 30. April 2015 (LG München I)

Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand (Frist zum Vortrag der Zulässigkeitsvoraussetzungen).

§ 44 StPO; § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO

Nach den gesetzlichen Vorgaben müssen die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Wiedereinsetzungsgesuchs innerhalb der Wochenfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO vollständig vorgetragen werden. Dazu gehört auch die Mitteilung über den Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses (vgl. BGH NStZ-RR 2015, 145 f. mwN). Nach Fristablauf können bereits rechtzeitig vorgetragene Voraussetzungen der Zulässigkeit lediglich noch ergänzt oder verdeutlicht werden.


Entscheidung

618. BGH 2 StR 19/15 - Beschluss vom 9. April 2015 (LG Hanau)

Bindung des neuen Tatgerichts an die Urteilfeststellung bei Aufhebung des Urteils im Strafausspruch.

§ 353 Abs. 2 StPO

Wird ein Urteil im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, so bleiben lediglich die den Schuldspruch tragenden Feststellungen bestehen. Diese binden den neuen Tatrichter, auch wenn sie als doppelrelevante Tatsachen zugleich für den Strafausspruch Bedeutung haben. Sind durch die Entscheidung des Revisionsgerichts hingegen alle Feststellungen aufgehoben, die sich ausschließlich auf den Strafausspruch beziehen, dürfen solche Feststellungen dem neuen Urteil nicht zugrunde gelegt werden; vielmehr muss der neue Tatrichter insoweit umfassend eigene Feststellungen treffen und diese in den Urteilsgründen mitteilen (vgl. BGHSt 24, 274, 275).


Entscheidung

630. BGH 4 StR 585/14 - Urteil vom 9. April 2015 (LG Essen)

Teilweise Aufhebung der Feststellungen durch das Revisionsgericht (Aufhebung eines Teils der Einzelstrafen: keine Aufhebung der Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und Vorstrafen des Angeklagten).

§ 353 Abs. 2 StPO

1. Das Revisionsgericht muss bei jeder aufhebenden Entscheidung prüfen, ob und inwieweit die gefundene Gesetzesverletzung auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen einwirkt; in diesem Umfange müssen auch die Feststellungen aufgehoben werden (vgl. BGHSt 14, 30, 34). Wird nur ein Teil der Verurteilung mit den diesbezüglichen tatsächlichen Feststellungen aufgehoben, werden die übrigen Teile der Entscheidung bestandskräftig mit der Folge der Bindung des mit der zurückgewiesenen Sache befassten Tatrichters an die ihnen zugrunde liegenden nicht aufgehobenen tatsächlichen Grundlagen.

2. Dies gilt auch, wenn das Revisionsgericht den Schuldspruch und einen Teil der Einzelstrafen bestätigt, weitere Einzelstrafen (sowie die Gesamtstrafe) dagegen mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben hat. Die teilweise Aufhebung erfasste in diesem Fall die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und zu den Vorstrafen des Angeklagten nicht, weil diese Umstände zugleich für die rechtskräftig abgeschlossenen Fälle von Bedeutung waren und eine Aufhebung den rechtskräftigen Einzelstrafen ihre Grundlage entzogen hätte. Bei einer solchen Fallgestaltung sind lediglich ergänzende Feststellungen zugelassen, die mit den bindend gewordenen ein einheitliches und widerspruchsfreies Ganzes bilden müssen.


Entscheidung

637. BGH 1 StR 578/14 - Beschluss vom 20. Mai 2015 (LG Hildesheim)

Eröffnungsbeschluss ohne zugrunde liegende Anklage (Verfahrenshindernis; mangelnde Rechtshängigkeit); gescheiterte Verfahrensverbindung.

§ 203 StPO; § 3 StPO; § 4 StPO; § 13 Abs. 2 Satz 1 StPO

Die Verbindung von Strafsachen, die nicht nur die örtliche, sondern auch die sachliche Zuständigkeit betrifft, kann nicht durch eine Vereinbarung der beteiligten Gerichte nach § 13 Abs. 2 Satz 1 StPO geschehen. Eine solche Verbindung kann vielmehr in den Fällen, in denen die verschiedenen Gerichte nicht alle zu dem Bezirk des ranghöheren gehören, nur durch Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts herbeigeführt werden.