HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 678
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 91/15, Beschluss v. 20.05.2015, HRRS 2015 Nr. 678
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 3. September 2014 mit den Feststellungen gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren und sechs Monaten verurteilt, ihn im Übrigen freigesprochen und einen Geldbetrag für verfallen erklärt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten.
Das Rechtsmittel hat mit der nicht präkludierten und den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Rüge vorschriftswidriger Besetzung der Strafkammer Erfolg (§ 338 Nr. 1b StPO i.V.m. § 21e Abs. 3 GVG). Auf die übrigen Einwände gegen das ansonsten nicht zu beanstandende Urteil kommt es somit nicht an.
1. Im Wesentlichen liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
a) Nach Eingang der Anklageschrift am 10. April 2014 richtete die Vorsitzende der Großen Strafkammer 29 (im Folgenden bei der Bezeichnung der Strafkammern: „GS 29“, „GS …“) noch am selben Tag eine Überlastungsanzeige an die Präsidentin des Landgerichts und die Präsidiumsmitglieder, in der sie die Verfahrens-, Terminierungs- sowie Besetzungssituation der GS 29 beschrieb. Die Vorsitzende teilte unter anderem mit, dass sich die Strafkammer außerstande sehe, „weitere Haftsachen, die vor dem 18. August 2014 begonnen werden müssen, zu fördern“, und bat um Abhilfe. Unter dem 11. April 2014 bewirkte sie die Zustellung der Anklageschrift unter Hinweis auf den Hauptverhandlungsbeginn am 3. Juni 2014 mit weiteren vier Hauptverhandlungstagen im Juni und sechs Hauptverhandlungstagen vom 2. bis 10. Juli 2014, an denen „mangels anderer freier Termine“ verhandelt werden müsse.
Durch Präsidiumsbeschluss vom 17. April 2014 wurden der GS 29 mit sofortiger Wirkung bis zum 15. Juni 2014 keine allgemeinen Haftsachen mehr zugewiesen. Einen Tag nach unveränderter Zulassung der Anklageschrift richtete die Vorsitzende der GS 29 unter dem 14. Mai 2014 eine E-Mail an die Vorsitzenden der drei nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Hamburg für 2014 zuständigen Vertreterkammern und erkundigte sich, ob im Hinblick auf die Verhinderung eines ihrer beisitzenden Richter ein Kollege „aus Ihren Reihen für die Vertretung“ zur Verfügung stünde. Sämtliche angefragten Vorsitzenden erklärten, dass kein Mitglied der Vertreterkammern abkömmlich sei. Nachdem die Vorsitzende der GS 29 die Präsidentin des Landgerichts hiervon unterrichtet und um Bestellung eines außerordentlichen Vertreters gebeten hatte, wurde durch Präsidiumsumlauf vom 20. Mai 2014 der Vorsitzende Richter am Landgericht S. für das vorliegende Verfahren zum außerordentlichen Vertreter bestimmt.
In der am 3. Juni 2014 begonnenen Hauptverhandlung erhob die Verteidigung des Angeklagten rechtzeitig eine Besetzungsrüge in Bezug auf den vertretenden Richter. Darin beanstandete sie nicht nur, dass die Vorsitzende keinen Versuch unternommen habe, die Teilnahme eines geschäftsplanmäßigen Vertreters durch eine kurzfristige Veränderung der Terminierung zu ermöglichen, sondern auch, dass für die Bestellung eines außerordentlichen Vertreters die Entscheidungsgrundlage seitens des Präsidiums nicht ersichtlich sei. Zudem rügte sie die unzureichende Vertreterregelung mit drei Vertreterkammern im Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts, weil eine Erschöpfung der Vertreterkette bei dieser Terminierung der Sache vorhersehbar gewesen sei.
In ihrer Stellungnahme zur Besetzungsrüge vom 5. Juni 2014 verwies die Präsidentin des Landgerichts darauf, dass der Geschäftsverteilungsplan zur Bestellung außerplanmäßiger Vertreter zwar keine abstrakte Regelung enthalte, das Präsidium eine solche aber auch nicht für erforderlich gehalten habe und „nur in den seltenen, bei Beginn des Geschäftsjahres nicht absehbaren Fällen ... mit der Bestellung eines außerordentlichen Vertreters befasst“ sei. Mit Beschluss der Strafkammer vom 12. Juni 2014 wurde der Besetzungseinwand unter Hinweis auf die im Einzelnen dargelegte Erforderlichkeit der Zuziehung eines Vertreters zurückgewiesen.
b) Unwidersprochen hat die Revision im Übrigen Folgendes dargetan und durch Vorlage entsprechender Schriftstücke belegt:
aa) Vom 29. November 2013 bis 1. Oktober 2014 wurden in elf gleichgelagerten Fällen durch das Präsidium des Landgerichts außerordentliche Vertreter in Strafsachen bestellt: Dies geschah in zwei Fällen im November und Dezember 2013 und Anfang März 2014 in einem Fall; dem vorliegenden Fall folgten bis Oktober 2014 sieben weitere Fälle.
bb) Das Protokoll der außerordentlichen Präsidiumssitzung des Landgerichts vom 22. Januar 2014 weist aus, dass Diskussionsthema die angespannte Terminslage in drei großen Strafkammern gewesen war.
cc) In einem Schreiben des Vorsitzenden der GS 22 vom 20. Februar 2014 wird unter Hinweis auf dessen Überlastungsanzeigen vom 27. September, 25. November und 19. Dezember 2013 abermals um eine Entlastung ersucht.
2. Die Richterbank war mit dem Vorsitzenden Richter S. nicht ordnungsgemäß besetzt.
Zwar hat der Bundesgerichtshof grundsätzlich anerkannt, dass die Bestellung eines „zeitweiligen Vertreters“ mit der Vorschrift des § 21e Abs. 3 GVG vereinbar sein kann (BGH, Beschlüsse vom 7. Juni 1977 - 5 StR 224/77, BGHSt 27, 209, 210; vom 19. August 1987 - 2 StR 160/87, NStZ 1988, 36, 37; Urteil vom 19. Dezember 1990 - 2 StR 426/90, StV 1993, 398). Allerdings soll § 21e GVG verhindern, dass für bestimmte Einzelsachen bestimmte Richter ausgesucht werden können; demgemäß kann eine „ad hoc-Bestellung“ allenfalls dann in Betracht kommen, wenn die anlassgebende Entwicklung bei Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans nicht voraussehbar gewesen ist (BGH, Beschluss vom 19. August 1987 - 2 StR 160/87 aaO). Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben.
Den strengen Maßstäben, die das Recht auf den gesetzlichen Richter - ungeachtet der aus Sicht des Senats heute unzureichenden Personalausstattung der großen Strafkammern (vgl. zur seinerzeitigen Überbesetzung BVerfG NJW 1995, 2703, 2705) - einfordert (BGH, Urteil vom 4. Februar 2015 - 2 StR 76/14), wird die Geschäftsverteilung des Landgerichts Hamburg für 2014 nicht gerecht. Es lag schon bei Aufstellung des Geschäftsverteilungsplans auf der Hand, dass die Bestimmung von Richtern aus drei Vertreterkammern, mithin lediglich neun Richtern, nicht hinreichen konnte. Wie die Revision zutreffend ausgeführt hat, zeichneten sich bei lebensnaher Betrachtung eingedenk der vorhandenen Mindestbesetzung in den großen Strafkammern, der Urlaubs- und Krankheitszeiten, der teilweise identischen Sitzungstage der beteiligten Kammern und des mehr oder weniger längeren Einsatzes einer Vielzahl von Proberichtern Konstellationen ab, in denen eine Erschöpfung der kurzen Vertreterreihe eintreten würde.
Dementsprechend hatte das Präsidium des Landgerichts schon mit Beschlüssen vom 29. November und 5. Dezember 2013 jeweils einen außerordentlichen Vertreter bestellen müssen. Dasselbe geschah am 4. März 2014 für eine der Vertreterkammern der GS 29, nämlich die GS 31. Dem folgte im Mai 2014 für das vorliegende Verfahren, im Juni 2014 für zwei, im Juli 2014 für einen, für August 2014 für zwei und für September 2014 für zwei Verfahren jeweils die Bestellung eines zeitweiligen Vertreters. Darüber hinaus hatte der Vorsitzende der GS 22 am 22. Februar 2014 angezeigt, die Geschäftslage in seiner Strafkammer sei entsprechend seinen Anzeigen vom 27. September, 25. November und 19. Dezember 2013 so angespannt, dass er die fortdauernde Entlastung erbeten müsse. Dass dies nicht nur ein Einzelfall war, sondern insgesamt die Situation der Strafkammern beschrieb, folgt aus dem Protokoll der außerordentlichen Präsidiumssitzung vom 22. Januar 2014, in der die angespannte Terminierungslage von drei weiteren Strafkammern thematisiert worden war. Unter diesen Umständen durfte Abhilfe nicht durch eine zeitweilige Einzelbestellung eines Vertreters für den verhinderten Richter gemäß § 21e Abs. 3 GVG geschaffen werden. Vielmehr hätte eine auf Dauer angelegte Erweiterung der Vertreterreihe nach abstrakten, verfassungsrechtlich durch Art. 101 Abs. 1 GG gebotenen Grundsätzen erfolgen müssen, wie sie etwa in Form einer „Ringvertretung“ realisiert werden kann (vgl. BGH, Urteile vom 30. November 1990 - 2 StR 237/90, NStZ 1991, 195, 196; vom 19. Dezember 1990 - 2 StR 426/90, StV 1993, 398).
Die Entscheidung entspricht dem Antrag des Generalbundesanwalts.
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 678
Externe Fundstellen: NStZ 2015, 716; StV 2015, 751
Bearbeiter: Christian Becker