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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2014
15. Jahrgang
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Von Dr. Jan C. Schuhr, Universität Erlangen–Nürnberg
Der Wille ist seit jeher ein problematisches Konzept der Handlungstheorie, der Moralphilosophie und des Rechts. Nicht selten werden strafrechtliche Erörterungen genau dort falsch, wo ihre Autoren beginnen, über den Willen zu sprechen. Allzu leicht wird er – auch weil sich zusätzlich zu den klassischen Problemen der allgemeine Sprachgebrauch mit der Zeit verändert hat – mit einem Wunsch, einer Planung, Hoffnungen, Motiven etc. vermengt. Hilfreich ist da ein Begriff aus der Versuchsdogmatik, nämlich der des Tatentschlusses. Einen Tatentschluss hat nicht gefasst, wer über die Begehung einer künftigen Tat nachdenkt, sie sich wünscht, plant usw.[1] Ein Tatentschluss besteht erst in dem Moment, in dem er betätigt wird. Es gibt beim Versuch nicht erst einen Tatentschluss und dann ein unmittelbares Ansetzen, sondern nur entweder beide oder keines von beiden. Der Prüfungsaufbau, in dem der Tatentschluss vor dem unmittelbaren Ansetzen zu prüfen ist, erklärt sich nicht etwa daraus, dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorliegen müssten. Im Gegenteil gilt im Strafrecht das Simultaneitätsprinzip bzw. Koinzidenzprinzip, das verlangt, dass grundsätzlich alle aufeinander bezogenen Merkmale des Deliktsaufbaus zur selben Zeit, "der Tat" vorliegen müssen.[2] Der Tatentschluss ist allein deshalb vor dem unmittelbaren Ansetzen zu prüfen, weil sich beim Versuch nur aus der Vorstellung des Täters ergibt, was geschehen soll, und die vollständige Verwirklichung des Vorgestellten nicht verlangt wird; der Täter muss nur "nach seiner Vorstellung von der Tat" zu ihrer Verwirklichung unmittelbar ansetzen (§ 22 StGB). Seine Vorstellung entwickelt sich zeitlich vor dem unmittelbaren Ansetzen. Einen Tatentschluss stellt sie aber erst dar, wenn sie tatsächlich betätigt wird, also erst im Moment des unmittelbaren Ansetzens. Einen Tatentschluss ohne unmittelbares Ansetzen gibt es nicht.
Die Frage, wann der strafbare Versuch einer Tat beginnt bzw. ob in einem konkreten Fall schon ein Versuch der Tat vorliegt, wird typischerweise als Frage des unmittelbaren Ansetzens formuliert. Gefragt wird dann, ob der Täter zur Tat bereits unmittelbar angesetzt hat. Typischerweise ist das der zur Darstellung der Verhältnisse am besten geeignete Ort im Prüfungsaufbau. Meist schadet es nicht einmal, wenn ein Tatentschluss "großzügig" und ggf. gar "übergroßzügig" angenommen und eigentlich nur erörtert wird, was der Beschuldigte sich für den weiteren Verlauf des Geschehens vorgenommen und vorgestellt hat, ohne dabei scharf zwischen einem bereits vorliegenden Tatentschluss (und damit einem Willen im technischen Sinne) und bloßen Wünschen und Planungen zu unterscheiden. Wenn die Geschehnisse sich nach und nach entwickeln und der Täter seine Planungen nach und nach umsetzt, dann gelangt die Tat irgendwann an die "Schwelle zum Jetzt-geht-es-los", an welcher der Versuch der Tat beginnt.[3] Ist das der Fall, dann liegt ein unmittelbares Ansetzen und mit ihm ein Tatentschluss vor, denn die zuvor nur provisorische Vorstellung des Täters wurde tatsächlich betätigt. Fehlt es hingegen an einem solchen unmittelbaren Ansetzen, wird der Beschuldigte durch die eigentlich fehlerhafte Annahme eines Tatentschlusses nicht beschwert. Sie enthält ja kein selbstständiges rechtliches Urteil.
Abgesichert wird ein solches Vorgehen durch die sogenannte Zwischenaktstheorie.[4] Ein unmittelbares Ansetzen ist erst dann zu bejahen, wenn das Verhalten des Täters (welches gerade als unmittelbares Ansetzen in Betracht gezogen wird) "ohne wesentliche Zwischenakte" in die Verwirklichung des Deliktstatbestandes übergehen soll. Wesentliche Zwischenakte sind dabei all diejenigen Ereignisse und vor allem eigenes Verhalten des Täters, welches nach seiner Vorstellung noch zwischen seinem aktuellen Verhalten und dem Beginn der
tatbestandsmäßigen Handlung liegt und ihm ein Überdenken seiner Planungen vor dem Beginn der tatbestandsmäßigen Handlung ermöglichen würde. Es trifft also zu, wenn der BGH ausführt, dass nicht erst in einem tatbestandsmäßigen Verhalten ein unmittelbares Ansetzen liegen kann.[5] Vorverhalten ist jedoch nur dann schon ein unmittelbares Ansetzen zur Tat, wenn es für den Täter ein mit dem Beginn der tatbestandsmäßigen Handlung einheitliches Verhalten darstellt. Dies lässt sich nicht weniger abstrakt angeben, denn die Menschen denken über ihr Verhalten unterschiedlich detailliert nach. Was etwa für den einen "einfach schießen" ist, kann für den anderen "Standort prüfen, Umfeld prüfen, Waffe laden, entsichern, anlegen, zielen, abdrücken" oder ein noch wesentlich komplexer einzelschrittiger Ablauf sein. Für diejenigen, für die es ein einzelschrittiger Ablauf ist, ist die Entscheidung, abzudrücken, noch nicht mit dem ersten Teilakt gefallen. Für sie ist das unmittelbare Ansetzen daher zuvor auch noch nicht zu bejahen. Das liegt nicht an äußeren Umständen, obwohl beim unmittelbaren Ansetzen primär äußere Umstände behandelt werden. Es liegt vielmehr daran, dass sie zuvor insoweit noch gar keinen unbedingten Tatentschluss gefasst hatten. Auch die Unbedingtheit des Tatentschlusses[6] gehört in das etablierte, aber nicht selten vernachlässigte Prüfungsprogramm des Versuchs.
Wie stets bei subjektiven Tatbestandsmerkmalen sind klare Grenzziehungen schwierig. Man kann Menschen nicht in den Kopf sehen, und es ist nicht unbedingt leicht festzustellen, ab welchem Stadium der äußeren Ereignisse für den Handelnden eine einheitliche Entschlussfassung über sein Verhalten bis zum bevorstehenden Beginn der tatbestandsmäßigen Handlung vorlag und wann seine Planung für ihn noch keinen endgültigen Entschluss darstellte. Dies rechtfertigt es aber nicht, eine rein objektive Betrachtung anzustellen. Örtlicher und zeitlicher Zusammenhang können indizielle Funktion haben, sie sind jedoch keine begrifflichen Merkmale des unmittelbaren Ansetzens und schon gar nicht eines unbedingten Tatentschlusses.[7] Wenn der Fall es erfordert – und der vom 3. Strafsenat entschiedene Fall hätte es erfordert – reicht eine rein objektive Herangehensweise an diese Frage und die bloß pauschalierende Behauptung eines Tatentschlusses daher nicht aus.[8]
Folgende Trennlinie dürfte bei aller Schwierigkeit der Grenzziehung zu beachten sein: Wer in seiner aktuellen Situation eine Handlung vornehmen kann, aber nicht vornimmt, der ist auch noch nicht entschlossen, diese Handlung vorzunehmen. Nach den Feststellungen zum Tathergang hatte der Täter zwar bereits etliches Verhalten an den Tag gelegt, das höchst plausibel als Versuchsbeginn in Betracht zu ziehen war. Er hatte sein Opfer aber – auch das wurde festgestellt – durch keinen dieser Akte bereits töten, sondern "nur quälen" wollen. Er wäre indes – das legen die Feststellungen zumindest mehr als nahe – in der Lage gewesen, sein Opfer zu töten. Darin unterscheidet sich dieser Fall grundlegend von dem Fall, dass die Beschuldigten mit gezogener Waffe vor der Haustür ihres Opfers stehen, klingeln und dabei die feste Vorstellung haben, der die Tür öffnenden Person sofort mit der Waffe zu drohen, sie zu fesseln und zur Duldung der Wegnahme der Tankstelleneinnahmen zu nötigen.[9] Man mag selbst dort den Versuchsbeginn in Frage stellen. Er kann aber mit guten Gründen angenommen werden, solange die Annahme plausibel ist, dass die Täter in keiner Weise mehr darüber nachdachten, ob sie sich wie vereinbart verhalten würden. Der zentrale Unterschied zum hier vom 3. Strafsenat entschiedenen Fall ist, dass die Täter im Vergleichsfall ihr Opfer vor dem Öffnen der Tür noch gar nicht berauben konnten. Nur deshalb können sie sich ihr aktuelles Verhalten und den nachfolgenden Beginn der tatbestandsmäßigen Handlung bereits als einheitliches eigenes Handeln vorgestellt haben. Wer hingegen entschlossen ist, sein Opfer noch nicht zu töten – und nach den Feststellungen lag, warum auch immer, insoweit noch nicht einmal dolus eventualis vor, sondern der Täter ging von einem zeitlichen Rahmen von bis zu fünf Tagen aus –, es jedoch töten könnte, der hat noch keinen Tatentschluss gefasst. Das zu tun, was man tun kann, ist man immer erst dann entschlossen, wenn man es tut.
Für die verbleibenden schwierigen Grenzfälle kennt die Versuchsdogmatik sogar einen Mechanismus, um die Probleme abzufedern. Wer zur Tat entschlossen unmittelbar zu ihr angesetzt hat, kann von ihr immer noch zurücktreten (§ 24 StGB). Solange nur ein unbeendeter Versuch vorliegt, genügt für den Alleintäter dazu die Aufgabe des Tatentschlusses, die damit, dass der Täter keine tatbestandsmäßigen Handlungen mehr vornimmt, ebenso unmittelbar verbunden ist wie der Tatentschluss mit dem unmittelbaren Ansetzen. Eine unangemessene Schärfe der problematischen Grenzziehung beim Versuchsbeginn ergibt sich daher gerade dann, wenn Tatentschluss und unmittelbares Ansetzen besonders "großzügig" angenommen, zugleich aber "hohe Anforderungen" an die Endgültigkeit der Aufgabe des Tatentschlusses beim Rücktritt[10] gestellt werden. Den Tatentschluss und ein unmittelbares Ansetzen deutlich vor dem Beginn von tatbestandsmäßigem Verhalten zu bejahen, passt nur dann ins System, wenn es zugleich auch als Rücktritt angesehen wird, falls der Täter doch nicht mit tatbestandsmäßigen Handlungen beginnt, sobald er die Gelegenheit dazu erlangt, selbst wenn er noch die Vorstellung haben mag, irgendwann später die Tat auszuführen. Sonst wird letztlich ein Versuch ohne Tatentschluss und ohne vorsätzliche Handlung konstruiert, der nur aus der Bereitschaft zu einer künftigen Tat und typischem Vor-
verhalten besteht. Das aber entspricht nicht den Anforderungen von § 22 StGB.
Mangels Qualifikationen, die sich auf das ausgedehnte, zielgerichtete Quälen und die wiederholte Ankündigung der Tötung des Opfers beziehen, ist das Unrecht der vorliegenden Tat in den Kategorien von Körperverletzung und Freiheitsberaubung kaum adäquat zu erfassen. Das Mordmerkmal der Grausamkeit hingegen passt grundsätzlich auf ein solches Vorgehen. Zu Recht hat der BGH indes wiederholt, dass in grausamem Verhalten, selbst wenn es sich auf eine geplante Tötung bezieht und diese jener Grausamkeiten wegen als grausam anzusehen wäre, noch nicht der Beginn eines Mordes liegt.[11] Sonst entstünde nämlich ein mehraktiges, aus grausamem Verhalten und der Tötung zusammengesetztes Delikt. Doch in § 211 Abs. 2 Grp. 2 Var. 2 StGB bezeichnet "grausam" eine Eigenschaft der Tötung, die die einzige Tathandlung darstellt, auch wenn diese Eigenschaft sich ihrerseits auf das Verhalten des Täters unmittelbar vor und während der Tat stützt. Einen versuchten Mord ohne Versuch zu töten gibt es nicht. Vielmehr ist es – weil die gesetzlichen Strafdrohungen nur fragmentarisch sind und sein sollen – hinzunehmen, dass der Unrechtsgehalt von Taten im Schuldspruch bisweilen bloß partiell erfasst werden kann.
Obwohl die knappen Bemerkungen des BGH zum Tatentschluss im Stile einer Tatsachenmitteilung gehalten sind,[12] sind sie daher doch rechtlich fehlerhaft, denn sie passen nicht zu den übrigen festgestellten Tatsachen. An diesem Fehler leidet die Entscheidung. Der Verurteilte hat eine scheußliche Tat begangen. Eine Verurteilung wegen versuchten Mordes tragen die Feststellungen jedoch nicht.
[1] RGSt 68, 341; 70, 203; Kudlich/Schuhr, in: SSW-StGB 2. Aufl. (2014), § 22 Rn. 18.
[2] Vgl. Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. (1988), S. 1 ff.; Kühl AT 7. Aufl. (2012), § 5 Rn. 20; Momsen, in: SSW-StGB (Fn. 1 ), §§ 15, 16 Rn. 20.
[3] BGHSt 26, 201, 203 m.N.
[4] Näher und m.N. Kudlich/Schuhr, in: SSW-StGB (Fn. 1 ), § 22 Rn. 39 f.
[5] Rn. 8 der hier besprochenen Entscheidung.
[6] Vgl. Hillenkamp, in: LK 12. Aufl. (2007), § 22 Rn. 40-52 sowie die Nachweise in Fn. 1 . Zu Schwierigkeiten der Grenzziehung vgl. auch Zaczyk, in: NK-StGB 4. Aufl. (2013), § 22 Rn. 15.
[7] Näher dazu und zur Entwicklung betreffender Formulierungen in der Rspr. Schuhr StV 2007, 188 f.
[8] Dazu sehr deutlich BGH NJW 2002, 1057 m. Anm. – gerade auch auf Fragen der Koinzidenz von Tatentschluss und unmittelbarem Ansetzen bezogen – Gaede JuS 2002, 1058, 1059 ff. sowie – ähnlich wie hier – bezogen auf den vorliegenden Fall die Anm. von Krehl NStZ 2014, 449.
[9] Vgl. BGHSt 26, 201 ff. sowie zu entsprechenden Konstellationen und ihrer Abgrenzung von anderen RGSt 16, 133; BGHSt 12, 306, 309; BGH NStZ 1999, 395.
[10] Dazu Hillenkamp, in: LK (Fn. 6 ), § 24 Rn. 208-219; Zaczyk, in: NK-StGB (Fn. 6 ), § 24 Rn. 50; Kudlich/Schuhr, in: SSW-StGB (Fn. 1 ), § 24 Rn. 30.
[11] Rn. 7 der hier besprochenen Entscheidung.
[12] Rn. 3 und 10 der hier besprochenen Entscheidung.