HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2014
15. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

822. BVerfG 2 BvR 2172/13 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. August 2014 (BGH / LG Braunschweig)

Absprachen im Strafverfahren (Verständigung; Protokollierung; Mitteilung über Vorgespräche; Negativmitteilung; Negativattest; objektiv willkürliche Gesetzesauslegung; Beruhensfrage).

Art. 3 Abs. 1 GG; § 202a StPO; § 212 StPO; § 243 Abs. 4 Satz 1 StGB; § 337 Abs. 1 StPO

1. Eine Auslegung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO, wonach eine Mitteilungspflicht gemäß der Vorschrift nicht bestehe, wenn keine auf eine Verständigung hinzielenden Gespräche stattgefunden haben, ist unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich haltbar und verstößt in objektiv willkürlicher Weise gegen den Willen des Gesetzgebers, wie er sich eindeutig dem Gesetzeswortlaut und den Gesetzgebungsmaterialien entnehmen lässt und wie er auch vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeitet worden ist (Bezugnahme auf BVerfGE 133, 168 <223 f., Rn. 98> [= HRRS 2013 Nr. 222, Rn. 111]).

2. Der vom Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der „Negativmitteilung“ bezieht sich nicht nur auf die Mitteilung über gescheiterte Verständigungsgespräche, sondern umfasst auch die Mitteilung darüber, dass es keine Verständigungsgespräche

gegeben hat. Dieser Mitteilung bedarf es auch bei lediglich organisatorischen Vorgesprächen, bei denen nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht auch der wesentliche Inhalt mitgeteilt werden muss.

3. Ein Beruhen des erstinstanzlichen Urteils auf der unterbliebenen Negativmitteilung darf nur dann ausgeschlossen werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass es keinerlei Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung gegeben hat. Hiervon darf nur ausgegangen werden, nachdem die entsprechenden Verfahrenstatsachen aufgeklärt worden sind.

4. Eine Revisionsentscheidung, der die genannte willkürliche Auslegung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO zugrunde liegt (hier: BGH, Beschluss vom 22. August 2013 - 5 StR 310/13 - [= HRRS 2013 Nr. 900]), beruht auf dem damit verbundenen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn die Verfahrensrüge nicht auch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Dies zu entscheiden obliegt dem Revisionsgericht.


Entscheidung

823. BVerfG 2 BvR 2400/13 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. August 2014 (BGH / LG Potsdam)

Absprachen im Strafverfahren (Verständigung; Protokollierung; Mitteilung über Vorgespräche; Negativmitteilung; Negativattest; objektiv willkürliche Gesetzesauslegung; Beruhensfrage).

Art. 3 Abs. 1 GG; § 202a StPO; § 212 StPO; § 243 Abs. 4 Satz 1 StGB; § 337 Abs. 1 StPO

1. Eine Auslegung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO, wonach eine Mitteilungspflicht gemäß der Vorschrift nicht bestehe, wenn keine auf eine Verständigung hinzielenden Gespräche stattgefunden haben, ist unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich haltbar und verstößt in objektiv willkürlicher Weise gegen den Willen des Gesetzgebers, wie er sich eindeutig dem Gesetzeswortlaut und den Gesetzgebungsmaterialien entnehmen lässt und wie er auch vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeitet worden ist (Bezugnahme auf BVerfGE 133, 168 >223 f., Rn. 98< [= HRRS 2013 Nr. 222, Rn. 111]).

2. Der vom Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der „Negativmitteilung“ bezieht sich nicht nur auf die Mitteilung über gescheiterte Verständigungsgespräche, sondern umfasst auch die Mitteilung darüber, dass es keine Verständigungsgespräche gegeben hat. Dieser Mitteilung bedarf es auch bei lediglich organisatorischen Vorgesprächen, bei denen nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht auch der wesentliche Inhalt mitgeteilt werden muss.

3. Ein Beruhen des erstinstanzlichen Urteils auf der unterbliebenen Negativmitteilung darf nur dann ausgeschlossen werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass es keinerlei Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung gegeben hat. Hiervon darf nur ausgegangen werden, nachdem die entsprechenden Verfahrenstatsachen aufgeklärt worden sind.

4. Eine Revisionsentscheidung, der die genannte willkürliche Auslegung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO zugrunde liegt (hier: BGH, Beschluss vom 22. August 2013 - 5 StR 310/13 - [= HRRS 2013 Nr. 900]), beruht auf dem damit verbundenen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn die Verfahrensrüge nicht auch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Dies zu entscheiden obliegt dem Revisionsgericht.


Entscheidung

828. BVerfG 2 BvR 2048/13 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 25. August 2014 (BGH / LG Berlin)

Absprachen im Strafverfahren (Verständigung; Rechtsstaatsprinzip; faires Verfahren; Selbstbelastungsfreiheit; eingeschränkte Bindungswirkung; vorherige Belehrung); Revision (Verstoß gegen die Belehrungspflicht; Beruhen als Regelfall; Ausnahme nur bei ausreichenden konkreten Feststellungen).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 257c Abs. 5 StPO; § 337 Abs. 1 StPO

1. Eine Verständigung im Strafverfahren ist mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen des fairen Verfahrens und der Selbstbelastungsfreiheit regelmäßig nur dann vereinbar, wenn der Angeklagte bereits vor ihrem Zustandekommen gemäß § 257c Abs. 5 StPO über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten Ergebnis belehrt worden ist (Bezugnahme auf BVerfGE 133, 168 ff. [= HRRS 2013 Nr. 222]).

2. Auf einem Verstoß gegen die Pflicht zur vorherigen Belehrung beruht das verständigungsbasierte Urteil regelmäßig, sofern nicht ausnahmsweise sicher ausgeschlossen werden kann, dass der Angeklagte das Geständnis bei ordnungsgemäßer Belehrung nicht abgegeben hätte. Dieser Schluss muss auf Feststellungen beruhen, die die Willensbildung des Angeklagten und dabei insbesondere seinen tatsächlichen Informationsstand sowie seine Motivation zur Abgabe des Geständnisses konkret in den Blick nehmen.

3. Wird ein Beruhen hingegen mit den generalisierenden Erwägungen ausgeschlossen, dass der Verteidiger die Verständigung initiiert und der Angeklagte das Geständnis erst nach einer Überlegungsfrist von einer Woche abgegeben habe, so verletzt die Revisionsentscheidung (hier: BGH, Urteil vom 7. August 2013 - 5 StR 253/13 - [= HRRS 2013 Nr. 815]) die Selbstbelastungsfreiheit und das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren.


Entscheidung

824. BVerfG 1 BvR 1858/14 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 31. Juli 2014 (LG Hamburg)

Einstweilige Anordnung gegen eine sitzungspolizeiliche Verfügung (Presse- und Rundfunkfreiheit; Beschränkung von Ton- und Bildaufnahmen im Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Hauptverhandlung; Begründungserfordernis; Güterabwägung; Informationsinteresse der Öffentlichkeit; allgemeines Persönlichkeitsrecht; Recht auf ein faires Verfahren; Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege; ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung).

Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 169 Satz 2 GVG; § 176 GVG

1. Ton- und Bildaufnahmen am Rande einer strafrechtlichen Hauptverhandlung sind von der nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützten Presse- und Rundfunkfreiheit umfasst. Eine solche Aufnahmen beschränkende Anordnung setzt voraus, dass der Vorsitzende die Gründe für seine Entscheidung offenlegt und dabei erkennen lässt, dass er in die Abwägung alle dafür erheblichen Umstände eingestellt hat.

2. Bei der Abwägung sind einerseits die Pressefreiheit und andererseits der Schutz des allgemeinen Persönlichkeits-

rechts der Beteiligten, der Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, insbesondere die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung, zu beachten. Die erforderliche Begründung darf sich nicht auf eine formelhafte Aufzählung der genannten Rechtsgüter beschränken, sondern muss die Gründe, die Beschränkungen der Pressefreiheit erforderlich machen, konkret darlegen, soweit diese nicht auf der Hand liegen.

3. Beschränkungen der Pressefreiheit können gerechtfertigt sein, soweit Zeugen unter einem besonderem öffentlichen Druck stehen, etwa weil ihnen in der Presse eine Mitschuld am Tod des Opfers der angeklagten Tat zugewiesen worden ist. Etwas anderes kann allerdings für Zeugen gelten, die sich mit ihren Äußerungen zuvor freiwillig in die Öffentlichkeit begeben haben.

4. Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidiger, die als Organe der Rechtspflege nicht in gleichem Ausmaß Anspruch auf Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte haben wie Privatpersonen, kann gleichwohl ein Schutzanspruch zustehen, wenn die Veröffentlichung von Abbildungen eine erhebliche Belästigung oder eine Gefährdung ihrer Sicherheit durch Übergriffe Dritter zur Folge haben kann.

5. Eine sitzungspolizeiliche Verfügung, die Pressevertretern die Benutzung von Aufnahmegeräten, Mobiltelefonen und Laptops während der Verhandlung untersagt, ist im Interesse eines geordneten Sitzungsablaufs ohne Weiteres zulässig, weil andernfalls kaum kontrolliert werden kann, ob während der Verhandlung unzulässigerweise Aufnahmen angefertigt werden.


Entscheidung

825. BVerfG 2 BvR 200/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 1. August 2014 (LG Gießen / AG Gießen)

Durchsuchung (Verdacht des Besitzes kinderpornographischer Schriften; Richtervorbehalt; eigenverantwortliche richterliche Prüfung; Anforderungen an den Tatverdacht: Anfangsverdacht und bloße Vermutungen; Heranziehung kriminalistischer Erfahrungssätze; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 184b StGB

1. Dem Gewicht des mit einer Durchsuchung verbundenen Eingriffs in die verfassungsrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung entspricht es, dass Art. 13 Abs. 2 GG die Anordnung der Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält. Der Richter hat den Tatverdacht eigenverantwortlich zu prüfen und die Durchsuchungsgestattung so zu begrenzen, dass der Eingriff messbar und kontrollierbar bleibt.

2. Erforderlich zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung zum Zwecke der Strafverfolgung ist außerdem der (Anfangs-)Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Der Verdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen und über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Die Durchsuchung darf dabei nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung des Verdachts erforderlich sind; denn sie setzt einen Verdacht bereits voraus.

3. Das Bundesverfassungsgericht prüft Durchsuchungsanordnungen nur daraufhin nach, ob die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Voraussetzungen eines Verdachts und die strafrechtliche Bewertung der Verdachtsgründe objektiv willkürlich sind oder auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der Grundrechte des Betroffenen beruhen.

4. Dem mit einer Durchsuchung verbundenen erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Demgemäß muss die Durchsuchung zur Ermittlung und Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich und mit Blick auf den verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein und in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen.

5. Der Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG ist nicht deshalb verletzt, weil der Ermittlungsrichter eine – einzelfallbezogen formulierte – Begründung der Staatsanwaltschaft für den Durchsuchungsantrag wörtlich übernommen hat, sofern keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine eigenständige richterliche Prüfung nicht stattgefunden hat.

6. Die Annahme des Verdachts eines fortdauernden Besitzes kinderpornographischer Schriften, deren Beschaffung wegen Verjährung nicht mehr verfolgbar wäre, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie sich darauf gründet, dass der Beschuldigte vor mehreren Jahren bereits entsprechendes Material bezogen, dafür einen erheblichen Kaufpreis gezahlt und einer Einstellung des damaligen Ermittlungsverfahrens gegen Zahlung eines Geldbetrages zugestimmt hat. Aus der damit naheliegenden pädophilen Neigung des Beschuldigten darf unter Zugrundelegung kriminalistischer Erfahrungssätze der Schluss gezogen werden, dass der Beschuldigte einen Hang zum Sammeln und Aufbewahren des einmal erworbenen Materials hat und er möglicherweise weiteres Material bezogen hat.


Entscheidung

826. BVerfG 2 BvR 969/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. August 2014 (LG Hannover / AG Hannover)

Durchsuchung wegen des Verdachts des Besitzes kinderpornographischer Schriften („Fall Edathy“; Entfallen der Immunität eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages; materielle Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Anfangsverdacht; Anknüpfung an strafloses Verhalten; Heranziehung kriminalistischer Erfahrungssätze; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Kooperationsangebot als weniger geeignetes Mittel; entgeltlicher Erwerb kinderpornografischen Materials als Indiz für perpetuierten Besitzwillen); Sicherstellung von E-Mails beim Provider (Fernmeldegeheimnis; zweistufiges Verfahren: Sicherstellung aller E-Mails; endgültige Beschlagnahme nur bei Verfahrensrelevanz); Anspruch auf rechtliches Gehör (Heilung eines Gehörsverstoßes im Anhörungsrügeverfahren).

Art. 10 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 46 Abs. 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 184b StGB; § 102 StPO;

§ 105 StPO; § 110 StPO; § 148 StPO; § 46 BWahlG; § 47 BWahlG

1. Art. 46 Abs. 2 GG enthält ein Verfahrenshindernis, das die öffentliche Gewalt bei allen gegen Abgeordnete des Deutschen Bundestages gerichteten Maßnahmen streng zu beachten hat und auf das sich der einzelne Abgeordnete im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde berufen kann.

2. Die Immunität des Abgeordneten besteht bis zum Ende seiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag. Im Falle des Verzichts verliert der Abgeordnete sein Mandat erst, wenn der Bundestagspräsident die Verzichtserklärung schriftlich bestätigt hat, was unverzüglich zu geschehen hat.

3. Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde erfordert es, dass ein Abgeordneter, der die Verletzung seiner Immunität durch strafprozessuale Durchsuchungsmaßnahmen rügt, den Verstoß bereits im fachgerichtlichen Verfahren geltend gemacht hat.

4. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Lebenssphäre des Betroffenen erfordert zu seiner Rechtfertigung den Verdacht, dass eine Straftat begangen worden ist. Dieser Anfangsverdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen; vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen reichen nicht aus. Andererseits kann der Verdacht auch durch ein an sich legales Verhalten begründet werden, wenn weitere Anhaltspunkte hinzutreten.

5. Die Annahme eines Verdachts des Besitzes kinderpornographischer Schriften knüpft nicht an ein ausschließlich legales Verhalten des Beschuldigten an und ist daher auch ohne Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Gericht davon ausgeht, dass dem Beschuldigten zuzuordnendes Material sich in einem von tatsächlichen Wertungen abhängigen Grenzbereich zwischen strafrechtlich relevantem und irrelevantem Material bewegt.

6. Aus dem Bezug solcher als strafrechtlich relevant einschätzbarer Medien über das Internet darf unter Zugrundelegung kriminalistischer Erfahrung darauf geschlossen werden, dass die Grenze zur strafbaren Kinderpornografie – jedenfalls bei Anbietern, die auch eindeutig strafbares Material liefern – nicht zielsicher eingehalten werden kann und regelmäßig auch überschritten wird.

7. Ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf ein Kooperationsangebot des Beschuldigten, alle gewünschten Gegenstände freiwillig herauszugeben, als nicht ebenso geeignetes Mittel zum Auffinden von Beweismitteln wie eine Durchsuchung eingestuft werden. Dasselbe gilt für die Herleitung eines perpetuierten Besitzwillens aus dem entgeltlichen Erwerb kinderpornografischen Materials.

8. Die auf die Sicherstellung von E-Mails auf dem Mailserver eines Providers gerichteten Durchsuchungsanordnungen müssen dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses durch Vorgaben zur Beschränkung des Beweismaterials auf den tatsächlich erforderlichen Umfang Rechnung tragen. Ist eine Einschätzung der Verfahrensrelevanz am Zugriffsort nicht möglich, reicht es aus, wenn nach Sicherstellung des gesamten E-Mail-Bestandes dieser – unter Beachtung des Beschlagnahmeverbots von Verteidigerpost – durchgesehen wird und sodann nur die verfahrensrelevanten E-Mails beschlagnahmt werden.

9. Der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör gebietet es, ihm vor einer Beschwerdeentscheidung die Möglichkeit einzuräumen, zu einer Beschwerdeerwiderung der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen. Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung wird jedoch geheilt, wenn das Gericht auf eine Anhörungsrüge des Beschuldigten dessen Ausführungen zu der ihm zuvor vorenthaltenen Stellungnahme zur Kenntnis nimmt und bei seiner Entscheidung berücksichtigt.


Entscheidung

827. BVerfG 2 BvR 1491/14 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. Juli 2014 (LG Krefeld)

Eilrechtsschutz betreffend den Zeitpunkt der Ausgabe eines Medikaments im Strafvollzug während des Ramadan (effektiver Rechtsschutz; wirksame Kontrolle; ausnahmsweise Zulässigkeit einer Vorwegnahme der Hauptsache zur Abwendung unzumutbarer Nachteile); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (keine Rechtswegserschöpfung in der Hauptsache bei geltend gemachter Grundrechtsverletzung durch die Behandlung eines Eilantrages).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 4 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 114 Abs. 2 StVollzG; § 123 VwGO

1. Aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ergibt sich für die Fachgerichte die Verpflichtung, auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht wirksame Kontrolle zu gewährleisten.

2. Bei Vornahmesachen verlangt Art. 19 Abs. 4 GG die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass dies zur Abwendung schwerer und unzumutbarer Nachteile erforderlich ist. Im Einzelfall kann dabei auch eine Vorwegnahme der Hauptsache zulässig und geboten sein.

3. Art. 19 Abs. 4 GG ist verletzt, wenn die Strafvollstreckungskammer die von einem Strafgefangenen begehrte einstweilige Anordnung einer frühmorgendlichen Medikamentenausgabe während des Ramadan allein mit dem Hinweis auf das Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsache ablehnt, ohne dabei zu prüfen, ob diese im Einzelfall ausnahmsweise zulässig ist.

4. Die Erschöpfung des Rechtswegs auch in der Hauptsache ist nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit einer gegen eine Eilentscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde, wenn die geltend gemachte Grundrechtsverletzung gerade in der Behandlung des Eilantrages liegt und im Hauptsacheverfahren nicht mehr ausgeräumt werden kann.