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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2014
15. Jahrgang
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Von Rechtsanwalt Christoph Kuhlmann, Freiburg i.Br.
Jedes Gericht muss die Prozessbeteiligten anhören, bevor es sich ein Urteil bildet: "audiatur et altera pars" – und danach? Die Gewährung rechtlichen Gehörs bildet die tragende Säule jedes rechtsstaatlichen Verfahrens. Sie gründet in der Verpflichtung staatlicher Gewalt zur Wahrung der Menschenwürde[1] und genießt als grundrechtsgleiches Recht mit Art. 103 Abs. 1 GG Verfassungsrang. Erst die Anhörung des Betroffenen gewährleistet seine Subjektstellung[2] und damit zugleich auch eine möglichst sachgerechte Entscheidung des Spruchkörpers.
Die Strafprozessordnung stattet den Angeklagten deshalb gleich mehrfach mit Gehörsrechten aus,[3] besonders vornehm mit der Anordnung aus § 258 Abs. 2 StPO: "…dem Angeklagten gebührt das letzte Wort.". Die Formulierung mutet beinahe pathetisch an, dabei ist es doch der Vorsitzende Richter, der tatsächlich das "letzte Wort" im Sitzungssaal beansprucht. Ihm allein fällt die Aufgabe zu, "…am Schluss der Verhandlung" die Entscheidung des Gerichts auch zu verkünden, § 268 Abs. 3 Satz 1 StPO.[4] Dazu, wie dies zu geschehen hat, formuliert § 268 Abs. 2 Satz 1 StPO lapidar: "Das Urteil wird durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteilsgründe verkündet." Von solcher Eröffnung soll nachfolgend die Rede sein.
Von der mündlichen Urteilsbegründung des Landgerichts Augsburg, das den Kollegen Rechtsanwalt Stephan Lucas vom Vorwurf der versuchten Strafvereitelung freigesprochen hat, erfahren wir, dass der Vorsitzende Richter gleichwohl mit "galligen Kommentaren" nicht gespart habe.[5] Unabhängig von den fragwürdigen Umständen, die zum dortigen Verfahren geführt hatten, überraschen die wörtlich übermittelten Ausführungen des Vorsitzenden Richters gleichwohl. So habe dieser dem Angeklagten Kollegen u.a. erklärt: "Ihr Freispruch ist auch nicht der erwartete, sondern einer, der nur knapp wegen des Grundsatzes Im Zweifel für den Angeklagten ergeht !".[6] Ein gebotener Verweis auf einen Freispruch "2. Klasse"?
Die mündliche Urteilsbegründung im "Kachelmann-Verfahren" nahm der Vorsitzende Richter vor dem Landgericht Mannheim zum Anlass, dass richterliche Befinden insgesamt mit einer Schelte der Verteidigung zu verbinden "…weil der neue Verteidiger mit dem Anspruch auftrat, uns wie Schuljungen auf die Finger klop-
fen zu müssen.".[7] Ein "Nachtreten" des Gerichts nach zulässigem Prozessverhalten?
Auch vor dem Landgericht Stuttgart wurden Verteidigung und Angeklagtem, bei der mündlichen Urteilsverkündung anlässlich des zweiten Urteils im Verfahren gegen den Vater des "Amokschützen von Winnenden", besonderes Augenmerk zuteil. Die wörtlichen Ausführungen des Vorsitzenden Richters gegenüber dem sich schweigend verteidigenden Angeklagten mündeten dort gar in der launigen Feststellung: "In tiefere Fettnäpfchen als ihre Verteidiger hätten Sie nicht treten können." und weiter "Das muss man als Angeklagter nicht hinnehmen, das man so verteidigt wird.".[8] Eine gebotene Verhöhnung der Verteidigung und ihrer Strategie?
Die Darstellung mündlicher Urteilsbegründungen vor deutschen Landgerichtskammern kann hier nur einer sehr subjektiven Auswahl folgen. Doch wer das Tagesgeschäft kennt weiß auch, dass es sich hier – wenngleich um jeweils spektakuläre Verfahren – keinesfalls um singuläre oder auch nur regional zu verortende Einzelfälle handelt. Sachfremd erscheinende Ausführungen des Gerichts befremden die Verfahrensbeteiligten und die Gerichtsöffentlichkeit immer wieder, bar jeden Verdachts eines "eingetrübten Fernglases".[9] Mit seinem "Wort an die Verteidigung…" greift der Vorsitzende im Rahmen der mündlichen Urteilsverkündung mitunter selbst neben die Klaviatur. Wo aber liegen die Gründe, was ist der Rahmen und gibt es nicht doch auch Grenzen für eine solche richterliche (Selbst)Darstellung?
Die Eröffnung der Urteilsgründe "…geschieht durch Verlesung oder durch mündliche Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts.", § 268 Abs. 2 Satz 2 StPO. Die Urteilsgründe sollen dem Angeklagten und der Gerichtsöffentlichkeit dabei ihrem wesentlichen Inhalt nach angemessen vermittelt werden. Umfang und Tiefe der mündlichen Darstellung sollen hierzu Maß nehmen am Verlauf der vorausgegangenen Hauptverhandlung.[10] Weder in der Strafprozessordnung, noch etwa in den RiStBV (Nr. 141 f.), oder sonst an anderer Stelle im Gesetz, finden sich aber konkretisierende Regelungen zur inhaltlichen Ausgestaltung der mündlichen Eröffnung der wesentlichen Urteilsgründe. Der Vorsitzende Richter ist damit weitgehend frei in seinem Vortrag, inhaltlich wie formal. Er legt fest, welche Erwägungen ihm als wesentlich im Sinne des Gesetzes erscheinen und es obliegt allein seinem persönlichen Willen und Können, ob er die Entscheidungsgründe hierbei angemessen und zutreffend mündlich zu vermitteln vermag.
Formal wird diese weitreichende Freiheit nicht zuletzt dadurch gestützt, dass das Gericht, der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge, Anträge der Prozessbeteiligten vom Beginn der mündlichen Urteilsverkündung an nicht mehr entgegen nehmen muss.[11] Zusammen mit den (schriftlichen) Urteilsgründen bildet die Urteilsformel in der weiteren Folge zwar inhaltlich eine Einheit, deren Inkongruenz in einem entscheidungserheblichen Teil zur Aufhebung führen kann.[12] Revisionsrechtliche Bedeutung innerhalb der mündlichen Urteilsverkündung erlangt regelmäßig aber nur die Urteilsformel selbst. Nur ihre Verlesung ist wesentlicher Teil der Hauptverhandlung, weil ohne sie ein Urteil im Rechtssinne nicht vorliegt.[13] Das Urteil gilt deshalb etwa auch dann als rechtswirksam verkündet, wenn der Vorsitzende nach Verlesung der Urteilsformel ausfällt.[14] Im Ergebnis aber ist die mündliche Urteilsbegründung ihrem Inhalt nach damit praktisch "revisionsirrelevant"[15].
Diese Zwischenfeststellung mutet schon deshalb fragwürdig an, weil unmittelbar nach dem Urteilsspruch kundgegebene innerliche Befindlichkeit des Vorsitzenden Richters im Einzelfall durchaus Zweifel etwa an seiner Unbefangenheit auch bereits bei Abfassung des Urteilstenors nahe legen können. Die Revision soll der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge ja aber nicht einmal auf einen offenen Widerspruch zwischen den zunächst mündlich eröffneten und später dann schriftlich dargelegten Urteilserwägungen gründen können, weil es insoweit offenbar per se an einem Beruhen mangeln soll.[16] Das kann freilich schon systematisch nicht überzeugen, denn ein Gericht, das eine verbindliche Urteilsformel formuliert und die der mündlichen Urteilsbegründung nach vermeintlich wesentlichen Gründe bei der Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe dann nachfolgend korrigiert oder gar austauscht, übergeht die Basis seiner eigenen vormaligen Überzeugungsbildung und "münzt" so nachträglich zurecht, was von Beginn an nicht tragfähig war.
Das sich der Vorsitzende Richter hinsichtlich der wesentlichen Urteilserwägungen hingegen "irrt", wie es der Bundesgerichtshof pauschal unterstellt hat, erscheint daneben überaus fragwürdig. Worüber genau sollte der Vorsitzende in der Vorstellungswelt des Bundesgerichts-
hof geirrt haben? Ist es der tatsächliche Inhalt der vorangegangenen mündlichen Beratung, die zum Urteilsspruch führte? Dann wäre der Vorsitzende nicht einmal in der Lage, das wesentliche Ergebnis der unmittelbar vorangegangenen Beratung im Spruchkörper darzulegen. Oder aber ist es womöglich doch die materielle Tragfähigkeit seiner mündlichen Erwägungen bei denen er irrt, weil diese sich bei Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe nachfolgend als eben nicht tragfähig erweisen und damit zugleich den erkannten Urteilstenor selbst in Frage stellten?
Doch es sind nicht zuvorderst die revisionsrechtlichen Konsequenzen, die hier angesprochen werden sollen. Es sind vielmehr die Befindlichkeiten auf Seiten des Gerichts und wie sie Eingang in das förmliche Verfahren finden und dadurch tiefe Einblicke in den Prozess der richterlichen Überzeugungsbildung selbst gewähren. Dabei spricht doch manche rechtliche Erwägung für eine deutliche richterliche Zurückhaltung und Selbstbeschränkung bei der mündlichen Urteilseröffnung.
Dem geflügelten Wort von Dahs zufolge, sind die Rollen klar verteilt. Für die Verteidigung ist das Strafverfahren stets Kampf: "Kampf um die Rechte des Beschuldigten im Widerstreit mit den Organen des Staates...".[17] Zwar ist damit über die im Einzelfall notwendigen und angemessenen Mittel dieses Kampfes noch nichts gesagt; nicht erst die zwischenzeitlichen Erfahrungen etwa zum Verständigungsverfahren sprechen aber eine deutliche Sprache – wer nicht bereit ist zu kämpfen, hat oft genug schon verloren, bevor es überhaupt losgehen könnte. Strukturell entspricht es dem ausdrücklichen Auftrag von Verteidigung, im Strafprozess streng einseitig Partei zu nehmen! Aufgabe des Gerichts ist es demgegenüber allein, eine Entscheidung in einem Für und Wider der Sachargumente zu treffen. Parteilichkeit schließt den Richter von seinem Amt aus, mehr noch: schon der bloße Anschein von Voreingenommenheit hindert den Richter an der Ausübung seines Amtes, § 24 Abs. 1 StPO. Richterliche Unvoreingenommenheit verträgt sich schon deshalb nicht mit "Selbstvergewisserung" der hier angesprochenen Art. Denn verbleibenden Zweifeln auf Richterseite steht jederzeit nur ein rechtsstaatlicher Ausweg zur Seite: der Freispruch. Richterliche Selbstdarstellung bei der mündlichen Urteilsbegründung legt deshalb nicht selten die Bekenntnis nahe, die eigene Rolle auf dem Weg hin zum Urteil verlassen und in Wahrheit selbst Partei in der strafprozessualen Auseinandersetzung geworden zu sein. Der Verteidiger wird deshalb nicht umhin kommen, in solchen Verfahren zum echten "Parteigänger" zu werden: er "…führt seine Fehde so lange, bis sein Kontrahent sich selbst als Partei bekennt.".[18] Insoweit mag die Verteidigung ihren Anteil an der Demaskierung des wahren richterlichen Selbstverständnisses im Einzelfall erlangen.
Dabei setzt richterliche "Intervention" nur allzu oft schon sehr viel früher ein, etwa wenn ein als vermeintlich ungebührlich empfundenes Agieren des Angeklagten oder seines Verteidigers im Prozessverlauf vermeintlich Veranlassung gibt, in die "gleiche Kerbe" zu schlagen. Dabei stehen einem souveränen Vorsitzenden doch offenbar Möglichkeiten zuhauf beiseite, die Beteiligten, wo dies im Einzelfall tatsächlich notwendig sein sollte, zu maßregeln und das Verfahren so zu "gestalten".[19]. Doch wo sachliche Ermahnungen nicht in Betracht kommen, etwa weil die Verteidigung dem Gesetz nach in zulässiger Weise agiert, oder aber aus "übergeordneten Erwägungen" nicht ausgesprochen werden sollen, ist eine Rüge vermeintlicher Verfehlungen erst am Ende der Hauptverhandlung regelmäßig als verwirkt anzusehen. Wie sonst sollten die Beteiligten von der kritischen Einordnung ihres Wirkens durch den Vorsitzenden Richter rechtzeitig Kenntnis erlangen, wie sonst sich einer unrechtmäßigen Konfrontation ihrerseits noch erwehren? Ein bis dahin zugestandenes Prozessverhalten kann aber nicht Gegenstand einer nachträglichen Bewertung durch den Vorsitzenden werden – Haltungsnoten stehen dem Gericht nicht zu.
Nur weil die Urteilsverkündung im Namen des Volkes erfolgt und eine nach dem Gesetz definierte Mehrheit der stimmberechtigten Richter dem eröffneten Urteilsspruch und (hoffentlich) auch den ihn tragenden Erwägungen zustimmen, ist Einstimmigkeit weder Voraussetzung noch nachgewiesene Regel bei der Urteilsfindung.[20] Die Darlegung des Ergebnisses richterlicher Überzeugungsbildung kann vernünftige Zweifel, die zu beleuchten die wohl wichtigste Aufgabe von Verteidigung ist, schon deshalb nicht kurzerhand in Wegfall bringen. Denn Zweifel, die Gegenstand auch der richterlichen Beratung selbst oder gar der inneren Überzeugung einzelner – abweichender – Richter des Spruchkörpers geworden sind, mahnen den Vorsitzenden regelmäßig auch aus einer kollegialen Rücksichtnahme heraus zur Mäßigung. Doch wenn Toleranz das unbehagliche Gefühl ist, der andere könnte am Ende vielleicht doch recht haben, erschließt auch solches Unbehagen richterliche Fehlleistungen im Rahmen der mündlichen Urteilsverkündung.
"Wahrheit" und "Urteil" bilden zwei allzu verschiedene Kategorien. Der Versuch, sie innerhalb des Strafprozesses in möglichst gute Deckung zu bringen, ehrt die Beteiligten mindestens so wie ihr Wissen um die Unvollkommenheit ihrer Bemühungen: Konrad Zweigert hat die notwendigen Zweifel an jeder richterlichen Selbstvergewisserung im Streit um die Einführung der abweichenden Meinung an den deutschen Gerichtszügen deshalb auf den Punkt gebracht, indem er formulierte: "Die Autoritätsgläubigkeit wird durch die bei uns übliche Art der Urteilsverkündung gefördert, indem die Entscheidung wie eine notwendige unbezweifelbare Ableitung aus einem ebenfalls unzweifelhaften Rechtssatz produziert wird, über deren Richtigkeit sich
nicht debattieren lasse und der man blind zu gehorchen habe.".[21] Lange Rede, gar kein Sinn also?[22]
Die Richterschaft ist sich der Macht ihres öffentlichen –unwidersprochen bleibenden – letzten Wortes jedenfalls bewusst. Jeder "Gestaltungsmissbrauch" im Rahmen der mündlichen Urteilsverkündung erfolgt daher vorsätzlich. Er liegt im Kern in der Missachtung zulässiger Zweifel. Zweifel, die zu wägen Kardinalpflicht innerhalb der richterlichen Beweiswürdigung, zugleich aber auch Wesenskern der Verwirklichung verfassungsgemäßer Anhörungsrechte ist. Zweifel, denen das Gericht im Ergebnis nicht folgen muss, die zu übergehen, oder gar lächerlich zu machen, umgekehrt jedoch Zweifel an der Qualität der Überzeugungsbildung selbst und dem grundsätzlichen Verständnis vom Ergebnis des Strafprozesses offenbaren. Denn: "Die Wahrheit erfährt man…nicht mit einem Schlage, durch Offenbarung, Erleuchtung oder schreckliche Enthüllung, sondern man erfährt sie durch den Prozess und im Prozess der ständigen Unterrichtung, des Vergleichens, Prüfens und wiederum der Unterrichtung".[23] Es ist dieser Erkenntnisprozess, an dem die Verteidigung aktiv teilnimmt und mit ihren Anregungen Gehör bei und Einfluss auf die gerichtliche Entscheidungsfindung selbst beansprucht.
Das Urteil wird gesprochen "Im Namen des Volkes". Auch wenn sich hieraus kaum unmittelbare Anforderungen an die Art und Weise der Urteilsverkündung selbst ziehen lassen, deutet die Einleitungsformel doch auf den Weg auch der Urteilsbegründung selbst. Denn die Wiederherstellung des Rechtsfriedens bleibt vordringliches Ziel jedweden richterlichen Wirkens. Adressat der gerichtlichen Entscheidung ist deshalb neben dem Angeklagten und seinem möglichen Opfer insbesondere auch die Gerichtsöffentlichkeit. Doch wie soll Rechtsfrieden eintreten, wenn berechtigte Zweifel des Angeklagten und seiner Verteidigung übergangen, oder gar lächerlich gemacht werden? Aufgabe der Justiz ist es doch alleine, Recht anzuwenden. Auch der verurteilte Straftäter "erfüllt" eben nur einen strafrechtlichen Tatbestand. Mehr festzustellen, insbesondere aber ein persönliches Unwerturteil über den Angeklagten oder seine Verteidigung zu sprechen, findet weder in der Strafprozessordnung selbst, noch nach Verfassungsrecht eine gesetzliche Grundlage. Zwar sind ergänzende Gehörsrechte für den Abschnitt der mündlichen Urteilsbegründung einfachgesetzlich nicht normiert; Ihre Schutzwirkung reicht aber eben auch in diesen Verfahrensabschnitt zwanglos hinein. Denn die Pflicht zur Wahrung der Menschenwürde des Angeklagten wird von revisionsrechtlichen Reflexen nicht begrenzt. Bei Zweifeln an der ernsthaften Erwägung des berechtigten Vorbringens der Verteidigung, wird deshalb häufig ein Verstoß gegen Anhörungsrechte des Angeklagten überaus nahe liegen.
Die Strafprozessordnung regelt den Gang des Strafverfahrens durchgängig eng und belässt dem Vorsitzenden Richter bei der Verhandlungsleitung doch erhebliche Spielräume. Bei der mündlichen Darstellung der wesentlichen Urteilsgründe hat sich der Vorsitzende stets allein von sachlich begründeten Erwägungen leiten zu lassen. Weil die Betroffenen gehindert sind auf die mündliche Urteilsbegründung zu erwidern, ist eine Zurückhaltung bei der richterlichen Darstellung insgesamt geboten. Es entspricht deshalb dem Gebot der Fairness, den Streit der Sachargumente nicht ins persönliche und bis in die mündliche Urteilsbegründung hinein-, sondern vielmehr im Rahmen der Beweisaufnahme selbst auszutragen. Was nicht Gegenstand der schriftlichen Urteilsbegründung werden kann (oder werden soll) kann auch nicht "wesentlich" bei der mündlich erörterten Urteilsbildung geworden sein und hat deshalb auch keinen Platz bei der mündlichen Eröffnung der Urteilsgründe. Die mündliche Urteilsbegründung ist auch nicht der Ort für die Schelte von Verfahrensbeteiligten, oder aber die vermeintlich gefahrlose Darlegung apokrypher Urteilsgründe. Ein persönliches Unwerturteil über den Angeklagten oder seine Verteidiger steht dem Gericht zu keiner Zeit zu. Dort wo sich der Vorsitzende Richter hierüber hinwegsetzt, sehen weder das Gesetz, noch die höchstrichterliche Rechtsprechung eine Konsequenz vor: weil sie Unlauterkeit auf Richterseite strukturell nicht vorsehen.
Den so oft zu Unrecht Gescholtenen rettet zumeist nur die Flucht in Ironie.[24] Der deutsche Künstler Werner Vollert schuf 1985 einen gebrauchsfertigen Automaten, der – nach Münzeinwurf – beständig Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Radioaktivität erfasst.[25] Im Umkreis von etwa 25 Kilometer soll der Automat eine mögliche Atombombenexplosion erkennen, worauf der eigentliche Wirkmechanismus auslöst: der Start von fünf Feuerwerksraketen. Der Name der Installation?
"Ich muss immer das letzte Wort haben".
[1] BVerfGE 9, 89; 55, 1.
[2] Vgl. BVerfG 2 BvR 1183/09 = HRRS 2011 Nr 208, Rn. 22.
[3] Vgl. §§ 33, 33a, 311a, 356a StPO.
[4] Bei umfangreichen Urteilserwägungen soll er diese Aufgabe auch (teilweise) an ein Mitglied des Richterkollegiums übertragen können, ebenso für den Fall, dass er stimmlich eingeschränkt ist, vgl. KK-Engelhart, 6. Aufl. (2008), § 268 Rn. 2.
[5] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/streit-um-absprache-gericht-spricht-angeklagten-anwalt-frei-a-754615.html, abgerufen am 01.10.2013.
[6] Wie zuvor.
[7] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/kachelmann-urteil-die-angst-der-richter-vor-dem-klaren-wort-a-766105.html, abgerufen am 01.10.2013.
[8] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/urteil-gegen-vater-des-winnender-schuetzen-jungs-sind-so-12047191.html, abgerufen am 01.10.2013.
[9] Vgl. Leitmeier HRRS 2012, 540.
[10] BeckOK/Peglau, Edition 17, Stand: 13.09.2013, § 268 Rn. 9.
[15] Für das richterliche Selbstverständnis aufschlussreich erscheint die offene Darstellung bei Föhrig in "Kleines Strafrichter-Brevier" 1. Aufl. (2008), S. 90 f., wo die Frage bezeichnenderweise unter der Überschrift "Lange Rede, gar kein Sinn" (sic!) abgehandelt ist.
[16] Vgl. etwa BGHSt 7, 363 ("Lederriemen"): "Auf die behaupteten Widersprüche zwischen der mündlichen und der schriftlichen Urteilsbegründung kommt es nicht an; entscheidend sind nur die schriftlichen Urteilsgründe (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1951, 539). Nur die von sämtlichen Berufsrichtern unterzeichnete Urteilsurkunde bietet die Gewähr dafür, daß die Urteilsausführungen das Ergebnis der Beratung wiedergeben. Bei Abweichung der vom Vorsitzenden mündlich mitgeteilten Gründe von den schriftlichen muß daher angenommen werden, daß der Vorsitzende sich geirrt hat. Hierfür ist es, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, unerheblich, ob die angebliche Abweichung zwischen mündlicher und schriftlicher Urteilsbegründung einen besonders wichtigen oder einen weniger wesentlichen Punkt betrifft.".
[17] Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl. (1999), Rn. 1: "Der Berufsauftrag des Verteidigers".
[18] Strate HRRS 2003, 114.
[19] Zum richterlichen Erfindungsreichtum bei der Begegnung vermeintlich unliebsamem Verteidigungsverhaltens vgl. Föhrig, "Kleines Strafrichter-Brevier" (Fn. 15).
[20] Nach § 196 Abs. 1 GVG entscheidet das Gericht grundsätzlich mit der absoluten Mehrheit der Stimmen, im "Patt” entscheidet ggfs. die Stimme des Vorsitzenden, vgl. Abs. 4.
[21] Konrad Zweigert, zitiert nach Rolf Lamprecht in "Richter contra Richter – abweichende Meinungen und ihre Bedeutung für die Rechtskultur", 1. Aufl. (1992), S. 47.
[22] Vgl. oben Fn. 15.
[23] Dolf Sternberger, zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2010.
[24] Die Verteidigung im Kachelmann-Verfahren hat die Art und Weise der Urteilsbegründung presseöffentlich als "Erbärmlichkeit im Gerichtssaal" gegeißelt, vgl. http://www.bz-berlin.de/kachelmann/kachelmann-anwalt-kritisiert-gericht-article1194612.html, abgerufen am 01.10.2013, eine Rückzahlung mit gleicher Münze nivelliert indes stets auch das Gefälle des geistig-moralischen Abseits.
[25] http://de.wikipedia.org/wiki/Ich_muß_immer_das_letzte_Wort_haben, aufgerufen am 01.10.2013.